Dieser Rosenkavalier aus Covent Garden mit Kiri Te Kanawa als Marschallin hat in meinem Leben eine derart zentrale Rolle gespielt, dass ich ihn jetzt, wo er nochmals neu bei Opus Arte als DVD (OA1341D DVD) erschienen ist, nicht sehen kann, ohne dass gleich eine ganze Backstory mitschwingt. Wegen der ich diese von Georg Solti dirigierte Produktion mit Kostümen von Maria Björnson und in der Regie von John Schlesinger immer mehr lieben werde als alle anderen Fassungen. Mit Ausnahme des Schwarzkopf/Karajan-Films, der (für mich) außer Konkurrenz läuft.
Im Jahr 1985 war ich 18 Jahre alt und hatte im deutschen Kino gerade den E.-M.-Forster-Film Zimmer mit Aussicht gesehen, der mein Leben nachhaltig verändern sollte – Italiensehnsucht und all das. Im Film hört man zweimal Te Kanawa mit Puccini-Arien. Ich verfiel dieser Stimme unmittelbar und hörte über Wochen und Monate den Soundtrack rauf und runter, wie man das mit pubertärem Enthusiasmus halt so tut. Kiri Te Kanawa selbst hatte ich nie gesehen (YouTube gab es noch nicht), live konnte ich sie in Berlin auch nicht hören, weil sie dort erst sehr viel später einmal als Arabella auftrat.
Deshalb war ich einigermaßen aufgeregt, als während der Sommerferien bei meinen Großeltern in Irland jemand sagte: „Deine Kiri ist heute im Fernsehen!“ Es war eine Übertragung dieses Rosenkavalier aus London. Und ich sehe mich noch mit fast religiösem Ernst vorm kleinen TV-Gerät meines Großvaters in Belfast sitzen, der glaubte, ich sei verrückt, drei Stunden vorm Fernseher zu verbringen. Aber genau das geschah. Ab und zu brachte meine Großmutter eine Tasse Tee vorbei und fragte, wann es denn endlich vorbei sei, damit sie wieder ins Wohnzimmer könne. Sie musste sich gedulden, weil mein Großvater entschied, dass man die Kulturbegeisterung seines ältesten Enkels nicht abwürgen sollte. (Danke! Danke! Danke!)
Ja, natürlich hat die Marschallin nicht viele Passagen im ersten Akt, wo es um Stimmschönheit geht. Jedenfalls nicht in einer Weise, die mit Puccini-Arien vergleichbar wäre und Zimmer mit Aussicht. Deshalb läuft alles auf den Moment zu, wo die Marschallin am Ende des ersten Akts auf das hohe As segelt, ein Ton, den Te Kanawa mit einer Weltentrücktheit hält, der mich mitten ins Herz traf. (Vorher gab’s auch weitere solche Passagen, etwas „Und in dem wie… da liegt der ganze Unterschied“.)
Man sieht dazu opulente Kostüme von der Frau, die zeitgleich The Phantom of the Opera kreierte. Hier gibt’s zwar keine herabstürzenden Kronleuchter und Masken, aber es ist eine ausladende Barockwelt mit Goldprunk und Liebe zum Detail. Die Farben wirken in der Neuausgabe etwas matt. Ich bin sicher, dass das live im Theater gleißender zwischen Gold und Silber (im 2. Akt) changierte. Das zu restaurieren wäre lohnend.
In diesem Gold-und-Silber-Ambiente singen neben Te Kanawa weitere vorzügliche Solisten. Besonders Barbara Bonney ist eine fabelhafte junge Sophie, die die Rosenübergabe mit berückenden Oktavsprüngen gestaltet und für mich angenehmer anzuhören ist als Barbara Hendricks auf der späteren EMI-Einspielung mit Te Kanawa. Während dort Anne Sofie von Otter als herb-sinnlicher Octavian brilliert, tritt hier Anne Howells an. Sie ist international kaum bekannt geworden, war damals aber ein Ensemblemitglied von Covent Garden und liefert einen souveränen Octavian mit heller höhensicherer Stimme ab. Und mit viel Spielbegeisterung.
Die drei Damen zusammen bilden im dritten Aufzug dann das Trio für den Moment-der-Momente. Selbstredend ist Te Kanawas „Hab mir’s gelobt“ das gesangliche Highlight dieser Aufführung. Ich erinnere mich, wie ich vor lauter E.-M.-Forster-Begeisterung 1987 nach London zog, erstmals weg von Berlin und von zuhause (nach Italien kam ich erst später als Student). In London ergatterte ich einen Job als Platzanweiser in Covent Garden. Gleich in meiner ersten Woche stand eine Abschiedsgala für den scheidenden Intendanten Sir John Tooley an. Und Te Kanawa sollte kommen, um mit Solti das Rosenkavalier-Trio zu singen. Schließlich fiel die vorliegende Rosenkavalier-Inszenierung in Tooleys Amtszeit.
Ich schlich mich also am Probentag auf einen Platz ganz hinten im Theater und wartete auf Dame Kiri. Genau wie das Orchester. Als sie mit zirka 20 Minuten Verspätung im weißen Tennisoutfit und mit vielen zusammengeklebten A4-Seiten unterm Arm auf die Bühne schlenderte, sagte Solti mit seiner unverwechselbaren Stimme aus dem Orchestergraben: „Kiri, you naughty, naughty girl!“ Sie lächelte und entschuldigte sich. Faltete die geklebten Seiten auseinander. Und fing an zu singen. Ich weiß leider nicht mehr, wer die anderen Solisten waren, weil alles von Te Kanawa überstrahlt wird in meiner Erinnerung. Denn was dann bei der Probe an Tönen bis in den obersten Rang von Covent Garden herüberwehte, gehört für mich zum Eindringlichsten, was ich je live gehört habe. Es war meine erste direkte Begegnung mit der Stimme, die ich so sehr verehrte. Und ich weiß noch, dass ich so gerührt davon war, dass ich weinen musste. Besonders als dann beide Soprane aufs hohe H zusteuerten und dieser Ton durchs Auditorium flog – bis zu mir, unterm Dach im Dunkeln. Man könnte sagen es war ein „Operntuntentraum“, und ich muss heute selbst lachen wenn ich das sage.
An diesen Live-Effekt kommt die DVD nicht heran. Denn Kiris Stimme hatte in der Höhe eine schwebende körperlose Qualität, die Tonträger nur ansatzweise einfangen können. Aber wie die Kameras von Brian Large die drei Damen einfangen und übereinander montieren, um das Gegeneinander der Gefühle zu verdeutlichen, das ist schon großartig. Und wenn Kiri am Schluss wieder ihren Betroffenheitsblick mit den gespannten Lippen aufsetzt, dann verfehlt das seine Wirkung nicht. Offensichtlich weiß sie immer, wo die Kamera ist. Und sie kommuniziert durch die Kamera direkt mit ihren Fans, ohne dabei die Rolle der Marschallin zu verlassen. Das hier ist keine Marie-Theres, die lange allein sein wird. Dafür ist sie viel zu souverän und sich ihrer Anziehungskraft bewusst. Was eine interessante Interpretation der Rolle ist.
Aage Haugland ist ein guter Baron von Ochs, rund und plump, wie aus dem Bilderbuch. Auch die übrigen Rollen sich mit Sorgfalt besetzt: Dennis O’Neill als italienischer Sänger, Jonathan Summers als Faninal, Phyllis Cannan als Marianne etc. Aber: Schlussendlich bleibt es die Te-Kanawa-Show, getragen von Georg Solti am Pult. Dass er seine Diva liebt, spürt man in jedem Moment, denn er gibt ihr immer wieder Zeit zum Atmen. Und wenn die Herzstillstandmomente kommen, erlaubt er sogar ein Ritardando, was bei Solti nicht unbedingt selbstverständlich ist. Das gilt übrigens auch für Bonney, die vom Dirigenten ebenfalls wie auf Händen getragen wird. Von den diversen Gerüchten rund um Beziehungen zwischen Dirigent und Sopranen hörte ich während meiner Platzanweiserzeit von einem Geiger im Orchester. Auch ihn hier im Film kurz zu sehen … ist eine Erinnerung an meine „wilden“ Tage in London und Covent Garden, die mein Verständnis von Oper nachhaltig geformt haben.
Das alles nun nach 35 Jahren nochmals komplett zu sehen, statt nur Ausschnitte auf YouTube, ist wunderbar. Ob die Magie sich auch auf andere überträgt, die keine hoffnungslosen Kiri-Fans sind, kann ich nicht beurteilen. Als Rosenkavalier-Film ist die Schwarzkopf-Fassung viel überzeugender, gar keine Frage. Verglichen mit etlichen Regieexperimenten der letzten Jahre finde ich die Schlesinger/Björnson-Fassung wie eine Flaschenpost aus einer anderen Zeit, als man Oper – zumindest in England – noch im historischen Kontext der Originalhandlung beließ und klar eine Geschichte erzählte, die mit dem Libretto deckungsgleich ist.
Man kann die Opus-Arte-Neuausgabe auf DVD also als historisches Dokument sehen. Auf der EMI-Einspielung von 1991 mit der Staatskapelle Dresden, unter Bernhard Haitink, klingt Te Kanawa noch souveräner als hier, allerdings finde ich Soltis raschere Tempi und Energie überzeugender. Das Covent-Garden-Orchester spielt unter Soltis Drill hervorragend. Und die Kostüme von Björnson für Dame Kiri – inklusive weißer Perücke im letzten Akt – bleiben singulär schön (Weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Kevin Clarke
Der Artikel von Freund Kevin Clarke hat uns bei operalounge.de zutiefst gerührt, erinnert seine nostalgische Schwärmerei uns doch alle an eben diese unvergesslichen Momente im Leben jedes einzelnen, in denen die Zeit stillstand und die uns alle so nachhaltig geprägt und beeinflusst haben. Ein jeder hat diesen Schatz an Eindrücken und erinnert sich an eben diesen einen, ganz wichtigen, unvergleichlichen Moment wie durch eine Lupe schauend in das eigene Erleben. Wir haben deshalb beschlossen, mit Kevins Artikel eine neue Reihe zu begonnen: „Glück, das mir verblieb …“ und werden solche bleibenden Eindrücke sammeln und vorstellen. Danke Kevin.