Mehr als nur „Samson et Dalila“

 

Würde es noch die vielen Musikgeschäfte in den guten Lagen deutscher Städte geben, die CD-Boxen würden sich dort bis unter die Decken stapeln und die Schaufenster überquellen lassen. Immer mehr Firmen gehen durch ihre Archive und Kataloge und bringen die Bestände gesammelt und wohlgeordnet heraus. Ob mit oder ohne konkreten Anlass wie runde Geburts- oder Todestage. An die Stelle der großen Klassikerausgaben in Bücherschränken sind diese Editionen getreten. Mitunter genauso Platz greifend. Alles von, und alles mit … Es ist wie ein Ausverkauf. Als müsste alles raus. Sale! Angemessen sind meist die Preise. Nun stapelt sich die musikalische Ware vornehmlich im Netz und damit nach digitaler Art. Das hat den Vorteil, dass auch kleine Ortschaften und abgelegene Dörfer ruckzuck beliefert werden können mit den auserlesenen Artikeln. Anstelle des Fachpersonals, das die gewünschte Aufnahme mit wissender Empfehlung und gelegentlichem Hochmut über den Ladentisch reichte oder zum Probehören in einen Player schob, stehen jetzt die emsigen Boten der Onlinehändler vor der Wohnungstür. Freundlich und motiviert, doch nicht immer des Deutschen mächtig. Sie stehen unter Zeitdruck und müssen nur zustellen – nicht beraten. Worum es sich konkret handelt, was sich also in den Paketen befindet, geht sie – im Gegensatz zum Verkäufer im Geschäft – nichts an. „Das wird sehr gern gekauft“, ist von ihnen nicht zu hören. Und doch, was wären wir ohne sie?

An der neuen Edition aus dem Hause Warner mit den EMI-Schätzen von Camille Saint-Saëns hätte unser Bote ein gutes Kilo zu tragen (0190296746048). Vierunddreißig CDs nebst dickem und lohnenswertem  Booklet haben ihr Gewicht. Sie stecken in einer so stabilen wie eleganten Schachtel, die etwas hermacht im Regal oder als Geschenk. Für die Gestaltung der einzelnen Hüllen wurden große Meister der französischen Malerei – allesamt Zeitgenossen des Komponisten – bemüht: Pierre-Auguste Renoir, Gustave Caillebotte, Edgar Degas, Claude Monet, Camille Pissarro, Henri Regnault. Es ist eine Pracht, sie aufgefächert auf einem großen Tisch auszubreiten. Wie ein großes Bilderbuch. So verbindet sich Musik mit bildender Kunst. Da stört es nicht, wenn hier und da auch ein Klischee aufblitzt, indem die Auswahl an Gemälden die Vorstellungen Außenstehender von Frankreich etwas vorschnell bedient. Es tönt bei Saint-Saëns nicht immer so hell, strahlend und sonnendurchflutet. Er war kein Impressionist wie seine malenden Kollegen. Er war Romantiker.

Hat er wirklich so viel komponiert, dass es dieser Menge an Tonträgern bedarf? Hat er, und noch viel, viel mehr. „Gerade diese Fülle macht die Wertschätzung des Werkes von Saint-Saëns so schwierig. Es entstand über acht Jahrzehnte in einem bewegten Jahrhundert, geprägt von Kriegen und vom Wechsel der politischen Systeme“, schreibt die Musikwissenschaftlerin Marie-Gabrielle Soret im Booklet. Sie ist Chefkuratorin der Musikabteilung der Französischen Nationalbibliothek. Wie solle man also die „Entwicklung eines Komponisten objektiv einschätzen, der Zeitgenosse von Berlioz und Ravel war, von Rossini und Strawinsky, der in der Kunst so viele ästhetische Umbrüche erlebt und so viel zum Teil widersprüchliche Kritik geerntet hat?“. Camille Saint-Saëns ist am 9. Oktober 1835 in Paris geboren und am 21. Dezember 1921 – also vor hundert Jahren – auf einer Reise in Algier gestorben. Er wurde in seine Heimatstadt Paris überführt, wo er auf dem Friedhof Montparnasse seine letzte Ruhe fand. Die Autorin tritt der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verbreiteten Behauptung entgegen, wonach sich der Komponist nicht entwickelt habe und von seiner Linie nie abgewichen sei. „Man sollte sich über sein Werk als Ganzes beugen, um die kontinuierliche Entwicklung darin erkennen zu können. Diese starke Persönlichkeit habe bald zu einer konsequenten Linie gefunden, der er die Treue hielt indem er die ‚Chimäre der Reinheit des Stils und der Perfektion der Form'“ verfolgte, statt sich „der Leichtigkeit des unmittelbaren Gefühls und den Launen der Mode hinzugeben. Es sei jedoch schwierig, so die Autorin weiter, im Stil klar voneinander abgrenzbare „Phasen oder eine typische Handschrift auszumachen, die charakteristisch für sie wäre“.

Der Komponist mit den Sängern von „Samson et Dalila“ in Cesena 1912/ Wikipedia

Bei der Zusammenstellung der Edition werden solche Überlegungen nicht präzise verfolgt. Die Einteilung geschah mehr oder weniger großzügig nach Genres: Orchestral Works, Concertante Music, Chamber Music, Instrumental Music Vocal and Choral Music, Opera, Transcriptions und Arrangements. Den Abschluss bildet die mit acht CDs größte Abteilung Historische Recordings. Saint-Saëns hat die ersten technischen Gehversuche, Musik für die Ewigkeit festzuhalten, miterlebt. In seine Zeit fällt die Erfindung von Schallplatte und Grammophon. Die ältesten Aufnahmen sind eigene Stücke, darunter ein Ausschnitt aus dem 2. Klavierkonzert und die Rhapsodie d‘Auvergne, die der begnadete Pianist Saint-Saëns am 26. April 1904 aufnehmen ließ. Unter historisch verstehen die Herausgeber aber auch alle fünf Klavierkonzerte, eingespielt Mitte der fünfziger Jahre von Jeanne-Marie Darré (1905-1999) mit dem Orchestre National de la Radiodiffusion Francaise unter Louis Fourestier (1892-1976) noch in Mono. Die Berücksichtigung dieser Produktion war insofern angemessen, weil die französische Pianistin schon mit einundzwanzig Jahren alle fünf Werke in einem einzigen Konzerte darbot und damit Musikgeschichte schrieb. Ihre Aufnahmen sind im doppelten Sinne historisch, den Jahren – und dem künstlerischen Range nach. Als modernes Pendent wurden jene mit Jean-Philippe Collard und dem Royal Philharmonic Orchestra unter André Previn aus den achtziger Jahren ausgesucht.

Im Laufe der Jahrzehnte immer wieder neu hervorgeholt: „Samson et Dalia“ mit Jon Vickers und Rita Gorr. Die von Georges Pretre geleitete Pathé-EMI-Gesamt-Aufnahme entstand 1962. 

Im Doppelpack gibt es auch Samson et Dalila, die bekannteste Oper von Saint-Saëns, die nicht in seiner Heimat sondern auf Initiative von Franz Liszt in deutscher Übersetzung am 2. Dezember 1877 in Weimar uraufgeführt wurde. Am Pult stand Eduard Lassen, ein in Kopenhagen gebürtiger jüdisch-dänischer Komponist und Dirigent, der 1861 Liszt auf dem Posten als Hofkapellmeister nachfolgte und in der Stadt Goethes mit Schulspielmusiken zu beiden Teilen von Faust hervortrat. Bei der historischen Aufnahme handelt es sich um den zuerst bei Pathé veröffentlichten Klassiker der Oper von 1946 mit Hélène Bouvier und José Luccioni in den Titelrollen. Chor und Orchester der Pariser Oper wurden von Louis Fourestier dirigiert. Für die Zeit ist der Sound respektabel. Etwas eng klingen die Chöre, deren große Aufgaben daran erinnern, dass das Werk zunächst als Oratorium gedacht war. In Stereo fiel die Wahl auf die Einspielungen mit demselben Orchester unter Georges Prêtre, die 1962 entstand. Als Samson ist Jon Vickers besetzt, der am Ende die Säulen des Tempeln mit seiner Stimme zu Einsturz zu bringen scheint, als Dalia die ihm ebenbürtige Rita Gorr. Er Kanadier, sie Belgierin. Französische Oper war nun nicht mehr das Privileg von Einheimischen. Als noch modernere Produktion hätte sich in der Edition die ebenfalls hauseigene Version mit Plácido Domingo und Waltraud Meier angeboten. Mit zwei SamsonSzenen bringt sich Georges Thill als einer der bedeutendsten französischen Tenöre in Erinnerung. Im Vergleich mit ihm punkten die Callas und Caruso, die in der historischen Sektion ebenfalls auftauchen, mehr durch ihre großen Namen als mit interpretatorischer Zutat. Um Opern ist es in der Sammlung übel bestellt. Immerhin hat Saint-Saëns elf solcher Werke hinterlassen. Lediglich aus Henry VIII. singt die Sopranistin Véronique Gens die Arie der Caterine d’Aragon „O cruel souvenir!“ Im Booklet hatte Marie-Gabrielle Soret die Hoffnungen gedämpft: „Das riesige Spektrum an Werken, die in dieser Box enthalten sind, bietet zwar nur einen kleinen Einblick in sein Opernschaffen und seine Vokalwerke – was in erster Linie an einem Mangel an verfügbaren Aufnahmen liegt – erlaubt aber eine umfassende Reise durch vielgestaltige musikalische Landschaften.“

Die bedeutende Mezzosopranoistin Hélène Bouvier war die Dalila in der ersten und künstlerisch immer noch unerreichten  (Pathé-)Gesamtaufnahme 1946, die in der Warner Edition enthalten ist; hier neben ihrem Partner José Luccioni bei der Aufnahme in Paris/Wikipedia

Hierzulande sind vor allen drei Werke von Saint-Saëns bekannt und über die Maßen beliebt: Neben Samson et Dalila sind dies die so genannte Orgelsinfonie und der Karneval der Tiere. Ihre Entstehung und Verbreitung haben zudem einen deutschen Bezug vor einem schwierigen historischen Hintergrund. Der Rang der Sinfonie im Gesamtwerke wird in der Edition ebenfalls mit einer frühen und einer späten auf Aufnahme belegt. Bei der Sinfonie – es handelt sich um die dritte – liegen zwischen beiden Einspielungen zwanzig Jahre. 1954 dirigierte Ernest Bour das Orchester des Théâtre des Champs-Élysées, 1974 Jean Martinon das Orchester National de l’O.R.T.F. Die Sinfonie gelangte am 19. Mai 1886 in London unter der Leitung des Komponisten zur Uraufführung. Sie war ein Auftragswerk der dortigen Philharmonic Society. „Er widmete sie Franz Liszt, der am 31. Juli starb, ohne dass er sie noch hören konnte“, ist aus dem Booklet zu erfahren. „Saint-Saëns war sich bewusst, dass er hier ein Meisterwerk geschaffen hatte, dessen Erfolg bis heute ungebrochen ist.“ Während des Entstehungsprozesses hatte er sich auf eine Konzertreise durch die deutschsprachigen Länder begeben, wo er nicht nur mit Beifall bedacht wurde. Frankreich hatte 1871 den verheerenden Krieg mit dem Norddeutschen Bund unter der Führung Preußens sowie den mit ihm verbündeten süddeutschen Staaten verloren und musste Gebiete abtreten. Während das Zweite Französische Kaiserreich unterging, entstand das Deutsche Reich. Der Krieg war noch nicht zu Ende als der preußische König Wilhelm I. im Schloss Versailles bei Paris als Deutscher Kaiser proklamiert wurde. Der Auftakt zum Höhepunkt einer Jahrhunderte alten Erbfeindschaft war getan.

Für die Gestaltung der einzelnen CD-Hüllen wurden große Meister der französischen Malerei – allesamt Zeitgenossen des Komponisten – bemüht: Pierre-Auguste Renoir, Gustave Caillebotte, Edgar Degas, Claude Monet, Camille Pissarro, Henri Regnault.

Vor diesem historischen Hintergrund hatte sich Saint-Saens 1871 für eine nationale französische Musik stark gemacht und gemeinsam mit César Franck die Société Nationale de Musique gegründet. In der Folgezeit wirkte er nicht nur als Komponist und Pianist, sondern verfasste auch Aufsätze zu musikalischen Themen. In einer dieser Schriften witterten fundamentalistische  deutsche Wagnerianer einen Angriff auf ihr Idol, was zur Folge hatte, dass Saint-Saëns während der Tournee ausgepfiffen wurde. Die Intrigen führen sogar zu Aufführungsverboten seiner Werke auf deutschen Bühnen. „Ermüdet durch die Angriffe und Kontroversen zog Saint-Saëns sich nach Chrudim zurück, eine kleine Stadt in der Nähe von Prag“, ist im Booklet zu lesen. Er habe die Sinfonie beiseitegelegt und sich um etwas sehr viel Spaßigeres, eine „zoologische Fantasie“ – der Karneval der Tiere – gekümmert. Gemäß der Popularität des Stückes finden sich in der Edition sogar drei Versionen von La Carnaval des Animaux: die 1971 eingespielte Orchesterfassung mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Louis Frémaux, die Bearbeitung für zwei Klavier, zwei Violinen, Viola, Cello, Kontrabass, Flöte, Klarinette, Mundharmonika und Xylophon sowie diversen Solisten von 1977 und schließlich eine 1986 in London produzierte Version mit zusätzlichen Liedern des Komponisten Carl Davis und der Kinderbuchautorin Hiawyn Oram mit den King’s Singers, Klavier, Cello und dem Scottish Chamber Orchestra. Die Leitung lag in den Händen von Davis. Saint-Seans selbst hatte ein gespaltenes Verhältnis zu seinem Werk. Nach erfolgreichen Darbietungen – eine sogar im Beisein von Liszt – zog er es zurück und verfügte, dass es erst wieder nach seinem Tod aufgeführt werden dürfe. Er fürchtete, dass dieser musikalische Scherz „nicht nur seinem Ruf, sondern auch der Verbreitung seiner Kammermusik schaden würde“, ist im Booklet vermerkt. An Camille Saint-Saëns bleibt also vieles zu entdecken. Möge die Edition von Warner dazu einen Beitrag leisten. Rüdiger Winter