Archiv für den Monat: Februar 2023

Maria und Maria und Maria und Maria

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Maria Callas heißt das neue Buch von Eva Gesine Baur im Beck Verlag, und darunter kann man sich viel vorstellen: einen Roman, eine Biographie, eine wissenschaftliche Abhandlung. Die Stimme der Leidenschaft ist das Werk untertitelt, und nun erwartet man ein Buch, dass sich mit der Sängerin Maria Callas auseinandersetzt. Eine Biographie liest man in der untersten Zeile, und wieder ist offen, um was es sich bei den immerhin mehr als 500 Seiten umfassenden Werk handelt. Für eine wissenschaftliche Abhandlung sprechen die mehr als fünfzig Seiten Anhang, bestehend aus vierzig Seiten Quellennachweisen, einem Literaturverzeichnis, einem Bildnachweis und einem Personenregister. Auf einen fiktionalen Text hingegen weisen die Überschriften für die einzelnen Kapitel hin wie Die umschwärmte Verschmähte, denen wiederum drei oder mehr Untertitel folgen wie Omero Lengrini wird entbunden und stirbt, Callas ist noch immer nicht schwanger und zeigt sich in  knappen Bikinis. Dabei fällt auf, dass fortlaufend und in schöner Konsequenz mit Gegensätzen gearbeitet wird, ja dass die Verfasserin das Objekt ihrer Betrachtungen als eine Art Doppelperson, zerfallend in eine Maria und eine Callas, sieht. Sehnt sich Maria nach Liebe und Mutterschaft, so strebt Callas nach Ruhm und Reichtum und vor allem nach künstlerischer Bestätigung, nach Vollkommenheit und die beiden Komponenten   dieses Gegensatzpaars werden in schöner, manchmal auch penetrant wirkender Konsequenz durch das gesamte Buch hindurch begleitet, zu jedem Ereignis, zu jeder neu auftretenden Persönlichkeit werden nacheinander Maria und Callas oder umgekehrt Callas und Maria quasi befragt, wobei vieles belegt ist, wie die Anmerkungen beweisen, vieles aber auch Spekulation zu sein scheint, auf jeden Fall viele Seiten damit gefüllt werden können, ohne dass es immer zu einem bedeutenden Erkenntnisgewinn kommt. Das extremste Beispiel dafür ist der angebliche Sohn von Callas und Onassis, den sie sich, so wollten Gerüchte wissen, vor dem Geburtstermin aus dem Leib schneiden ließ, um dem Erzeuger des Kindes nicht mit dickem Bauch entgegentreten zu müssen. Diese Geschichte wird erst erzählt, damit sie dann ebenso ausführlich widerlegt werden kann. Spektakuläre Gegensätze wie Ausnahmetalent in Kittelschürze oder Musikstudentin auf Abwegen sind besonders beliebt und immer eindrucksvoll.

Vor Eva Gesine Baur hatte bereits Pasolini erkannt, dass in Callas‘ Brust zwei Seelen wohnten: die einer antiken Tragödin und die einer modernen Frau, aber das ist eine andere Art der Gegenüberstellung als die von der Verfasserin praktizierte.

Dem Fiktionalen nähert sich die Autorin besonders dann, wenn sie vorgibt, die Gedanken von Callas zu kennen, Spekulationen sind dem Romanautoren durchaus erlaubt, ja erwünscht, auch Pauschalurteile wie die, dass Jackie, die Schwester, nach Geld, Maria aber nach Ruhm strebte. Und auch gewagte Thesen wie die, dass zur antiken Tragödie auch Vernunft gehört, erwecken das Erstaunen des Lesers.

Nicht wirklich sattelfest ist die Verfasserin, was Opernpartien, Opernarien und Opernsänger angeht. So war Benvenuto Franci nicht Dirigent (Das war sein Sohn Carlo.), sondern Bariton, will Amonasro Radames nicht „vernichtet sehen“, sondern zur Flucht animieren, ist Elena aus den Vespri nicht Königs-, sondern Herzogstochter, Imogen nicht Königin, hat Alfredo nur eine und nicht zwei große Arien, ruft Tosca nicht im 3. , sondern im 1. Akt dreimal „Mario“, singt Aida nicht im 1., sondern im 3. Akt „Oh patria“, können di Stefano und Björling nicht gemeinsam im Trovatore aufgetreten sein, ist Butterfly im zweiten und nicht im dritten Akt voller Freude, Norma hat nur zwei und nicht vier Akte, ist Verdis Jago kein Tenor. Das mögen Kleinigkeiten sein, sie zerstören aber das Vertrauen des Lesers in die Teile des Textes, die er nicht kontrollieren kann, weil ihm die Kenntnisse dazu fehlen.

Weite Teile des Buches gelten dem Berichten über Ereignisse, politische oder künstlerische, von denen irgendwann bekannt wird, dass Callas davon keine Kenntnis nahm, seien es Erfolge der Beatles oder seien es Unruhen in ihrer griechischen Heimat. Sie geschehen lediglich zeitgleich mit dem, was von Callas berichtet wird. So wird das Buch gespeist von einfühlsamen Betrachtungen über Karriere und Leben der Callas, aber auch von zum Verständnis ihrer Seelenlage oder ihres Handelns nicht notwendigen Abschweifungen oder Wiederholungen.

Außer Maria Callas ziehen am Auge des Lesers, und das macht einen beträchtlichen Wert des Buches aus, Persönlichkeiten wie Visconti und Zeffirelli, Toscanini und Serafin, di Stefano und Simionato, Gorlinski und Legge, Onassis und …vorbei. Und die Autorin hätte noch mehr über nur am Rande gestreifte Ereignisse erfahren können, so von Fiorenza Cossotto, dass Zeffirelli nie mehr ein Wort mit ihr sprach, nachdem sie ihre Töne länger als Callas‘ Norma gehalten hatte, und Raina Kabaivanska hätte ihr davon berichten können, dass Callas sie nach den misslungenen Vespri in Turin mit nach Paris nehmen wollte, um sie zu einem Star zu machen. Was diese dann auch ohne Nachhilfe wurde.

Leider spricht das Buch zwar von vielen Fotos, es sind aber nicht viele davon in dem Band zu finden. Es ist eine reiche Materialsammlung, informiert sehr ausführlich, wenn auch natürlich nicht mit dem Wahrheitsgehalt eines Dokuments, über den Menschen Maria Callas und lässt denjenigen Leser etwas enttäuscht zurück, der gern mehr über die Besonderheit der Kunst der Ausnahmesängerin  erfahren hätte (Eva Gesine Baur „Maria Callas“; C.H.Beck Verlag 2023; 510 Seiten; ISBN 978 3 406 79142 0; das Foto oben ist ein still aus Pier Pasolinis Medea-Film von 1969 bei Filmjuwelen). Ingrid Wanja  (23.Februar 2023)

Vielbeiniges

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Bei OPUS ARTE: The Dante Project aus London. OPUS ARTE erweitert ihre bedeutende Reihe von Produktionen des Royal Ballet London um das neue Stück des Resident Choreographer Wayne McGregor. Es trägt den Titel The Dante Project und entstand im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des 700. Jahrestages von Dante Alighieris Tod. Die Uraufführung im Oktober 2021 in einer Koproduktion mit dem Ballett der Pariser Oper erschien nun als Blue-ray Disc (OABD7278D).

Die Bedeutsamkeit des Werkes resultiert auch aus dem Beitrag des Komponisten Thomas Adès, der dafür eine spannungsreiche, vielfältige Musik schuf. Sie tönt oft aggressiv und hämmernd, hat aber auch lyrische Inseln von herbem Melos und steigert sich gelegentlich zu spätromantischem Rausch und französisch inspiriertem Esprit. Im Purgatorio hört man sogar arabisch orientierte Vokalmusik. Das Orchestra of the Royal Opera House bringt diese Collage unter Leitung von Koen Kessels zu starker Wirkung. Die Ausstatterin Tacita Dean, die vorwiegend abstrakt arbeitet, lieferte für den 1. Teil eine riesige Kreidezeichnung in Schwarz/Weiß, die gespiegelt wird und eine Uferlandschaft mit Felsgrotten, Eisschollen und dem wogenden Meer zeigt. Im 2. Teil sieht man einen begrünten Baum, im 3. Spiralen und andere abstrakte Gebilde. Die Lightdesigner Lucy Carter und Simon Bennison tauchen die Szene in wechselnde Lichtstimmungen.

McGregors Ballett folgt keiner konkreten Handlung, die einzelnen Szenen sind sogar schwierig zu dechiffrieren und den einzelnen Kapiteln der Divina Commèdia zuzuordnen. Wie aber Musik und Tanz eine Einheit bilden und sich einander bedingen, ist von enormer Faszination. Die drei Teile Inferno, Purgatorio und Paradiso werden hier Pilgrim, Love und Poema sacro genannt. Im 1. und 2. Akt sind  Dantes Wanderung durch die Hölle und seine Läuterung in einer stillen, klösterlichen Gemeinschaft zu sehen. Großen Raum nimmt die Liebesbeziehung zwischen ihm und Beatrice ein. Eine totale Veränderung bringt der 3. Akt, wenn die Tänzer zu abstrakten Lichtfiguren werden. Jeder der drei Akte ist verschieden – was sie verbindet, ist Dantes Reise durch das Jenseits, hin zu einem Ort der Hoffnung.

Die Choreografie fußt auf neoklassischem Vokabular. Furiose Gruppentänze in rasantem Tempo mit anspruchsvollen tänzerischen Figuren sorgen ebenso für starke Effekte wie Skulpturen aus mehreren Körpern. Protagonist in der Titelrolle ist Edward Watson, der seit 27 Jahren der Company angehört und schon lange mit dem Choreografen zusammen arbeitet. Als Principal hat er den Mayerling von Kenneth MacMillan und den Leontes in Christopher Wheeldons The Winter’s Tale getanzt. Die Rolle des Dante betrachtet er als Höhepunkt seiner Tänzerkarriere und gleichzeitig als Abschluss seines Wirkens beim Royal Ballet. Seine Interpretation ist geprägt von Kraft, Intensität und Eleganz. Im langen grünen Hemd eröffnet er das Geschehen in geradezu wilder Expressivität mit schnellen Drehungen und weiten Sprüngen. Sein Weggefährte ist der Dichter Virgil, den der Grand Seigneur des Ensembles, Gary Avis, mit würdevollem Ausdruck gibt. Ihm sind vorwiegend schreitende Bewegungen verordnet, doch hat er auch sensible Duos mit Dante.

In grauen Trikots agieren die Sünder (sinners). Aus ihnen ragt der junge Marcelino Sambé, ein neuer Star des Ensembles, als Fährmann (ferryman) durch körperliche Biegsamkeit und lasziven Ausdruck heraus. Bemerkenswert ist, dass viele Mitglieder der Gruppe neben ihren gemeinschaftlichen Tänzen auch attraktive solistische Aufgaben zu bewältigen haben und dabei glänzende Figur machen. Im 2. Teil, dem Purgatorio, agieren sie als Büßer (penitents). Hier tritt erstmals Sarah Lamb auf. Sie gehört zu den führenden Mitgliedern der Company. Im transparenten hellen Kleid zeichnet sie die Beatrice als fragiles, anmutiges Geschöpf und hat auch im letzten Teil, dem Paradiso, noch einen starken Auftritt. Die Gruppentänzer faszinieren hier als himmlische Körper (celestial bodies). Am Ende steigert sich die Musik zur Apotheose mit feierlichem Chorgesang. Dante, jetzt im langen roten Gewand, und Beatrice sah man noch einmal in inniger Zuwendung vereint. Dann bleibt der Dichter allein zurück. Bernd Hoppe

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Hommage bei Unitel: 2023 jährt sich John Crankos Todestag zum 50. Mal. Der in Südafrika geborene Choreograf wurde 1961 zum Stuttgarter Ballettdirektor berufen und führte die Compagnie in kürzester Zeit zur Weltspitze. Der Durchbruch gelang 1962 mit Romeo und Julia – von Unitel in einer Aufführung von 2017 veröffentlicht und auch auf diesen Seiten besprochen. Danach folgten weitere große Handlungsballette, wie Onegin (den Unitel unlängst in einer Aufführung ebenfalls von 2017 herausbrachte und der gleichfalls hier rezensiert wurde) sowie Der Widerspenstigen Zähmung. Jetzt erscheint die Ballettkomödie nach Shakespeares berühmten Stück unter dem Originaltitel The Taming of the Shrew als Blu-ray Disc (808204) bei derselben Firma. Die Aufführungen für die Veröffentlichung wurden im Mai 2022 in Stuttgart aufgezeichnet. Sie ist für alle Ballettfreunde, insbesondere Cranko-Verehrer, eine willkommene Bereicherung des auf Bilddokumenten verfügbaren Oeuvres des Choreografen. Denn bislang existierte nur ein Fernsehmitschnitt von 1971 (in bescheidener technischer Qualität) mit der legendären Besetzung der Uraufführung – Marcia Haydée als Katherina, Richard Cragun als Petruchio und Birgit Keil als Bianca.

Jetzt nehmen aktuelle Stars des Ensembles diese Rollen wahr. Elisa Badenes, die schon als empfindsame Julia bezaubert hatte, zeigt nun als Katherina eine ganz andere Facette ihrer Persönlichkeit. Fulminant ihr Auftritt, wenn sie wie ein Wirbelwind aggressiv, furios in den Pirouetten und Sprüngen, hereinstampft. Auch ihre erste Begegnung mit Petruchio geht klar zu ihren Gunsten aus. Für den Petruchio hätte es keine bessere Besetzung geben können als Jason Reilly, der nach seinem noblen Gremin im Onegin nun gleichfalls einen vollkommen konträren Charakter zu porträtieren hat. In einer Taverne imponiert er bei seinem Entrée mit übermütig prahlerischem Macho-Gehabe, natürlich garniert mit bravouröser Technik. Der erste Pas de deux mit Katherina, gespickt mit technischen Schwierigkeiten, ist geradezu eine Kampfszene zwischen beiden. Leise Momente der Annäherung unterbricht sie stets mit spöttischen Reaktionen und höhnischer Verachtung. Vor der Heirat hat er ein Solo als betrunkener Bräutigam, wo er gleichermaßen als Komödiant wie als virtuoser Ballerino gefordert ist.

Katherinas liebenswerte Schwester Bianca, die von dem Gecken Hortensio (skurril: Fabio Adoriso), dem Studenten Lucentio (jungmännlich-verliebt, doch leicht effeminiert: Martì Fernández Paixà) und dem alten Gremio (urkomisch: Alessandro Giaquinto) angebetet  wird, ist in der Verkörperung von Veronika Verterich ein anmutiges Geschöpf – zierlich, leichtfüßig und bezaubernd. Köstlich ist das Aufeinandertreffen mit ihrer Schwester, wenn Katherina wie eine Furie hereinstürmt und ihr eine Blume entwendet.

Das Corps de ballet kann vor allem in der turbulenten Hochzeitsszene am Ende des 1. Aktes sowie in den belebten Karnevalsbildern und bei Biancas Hochzeit im 2. Akt brillieren. Dieser beginnt mit der Reise des jung vermählten Paares in Petruchios Haus, wo er Katherina durch seine Diener ärgern und sie zudem hungern und frieren lässt. Hier sieht man den zweiten Pas de deux des Paares, nun in schon stärkerer Zuwendung, denn sie überzeugt sich mittlerweile von seinem liebenswerten Naturell. Schwierige Hebe- und Schleuderfiguren belegen den Ausnahmestatus des Balletts, das in seinen technischen Anforderungen sogar noch den Onegin übertrifft. Katherina und Petruchio haben sogar noch einen Pas de deux mehr zu zeigen als Tatjana und Onegin, der bei Biancas Hochzeit platziert und nicht weniger anspruchsvoll ist. Im mitreißenden Finale hat jeder der beiden Protagonisten noch ein bravouröses Solo zu absolvieren, denen die Jubelstürme des Publikums folgen.

Die Ausstattung von Elisabeth Dalton in rostroter Renaissance-Architektur mit einer Empore (was an Crankos Romeo erinnert) ist werkdienlich und elegant. Die Kostüme sind bis auf die des Protagonistenpaares nahe der Karikatur, charakterisieren die Personen aber liebevoll und mit Witz.

Die Musik von Kurt-Heinz Stolze, der Sonaten für Cembalo von Domenico Scarlatti arrangiert hatte, ist bei Wolfgang Heinz am Pult des Württembergischen Staatsorchesters in den besten Händen. Denn unter seiner Leitung hat sie Esprit, Dynamik und Tempo. Der Dirigent scheut weder harsche Akkorde noch das Gefühl, was wichtig ist für die Tanzduette zwischen Katherina und Petruchio.

Der Bonus hält eine Konversation zwischen den Stuttgarter Ballettintendanten Tamas Dietrich und Reid Anderson sowie dem Stellvertretenden Musikdirektor Wolfgang Heinz über dieses Ballett fest – seine Entstehung im Probensaal, die Anforderungen an die Protagonisten, die triumphale Aufnahme beim Publikum (in Stuttgart und beim Gastspiel in New York). Per Video wird Marcia Haydée aus Berlin eingespielt, die gerade mit dem Staatsballett ihr Dornröschen einstudiert und nun lebhaft über die Kreation ihrer Katherina berichtet.

Mit dieser Veröffentlichung, mit der nun die drei großen Handlungsballette von John Cranko auf DVD vorliegen, hat Unitel (in Kooperation mit arte, dem SWR und NHK) eine Großtat vollbracht. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: Muntagirov at his best. Von Zeit zu Zeit würdigt OPUS ARTE herausragende Tänzer mit der Veröffentlichung eines Schubers von mehreren DVDs. Jüngstes Beispiel ist Vadim Muntagirov, Principal Dancer beim Royal Ballet London seit 2014, wo er viele der klassischen Ballerino-Rollen interpretiert hat und dabei Partner der gefeierten Startänzerinnen der Compagnie war. Mit zahlreichen Preisen geehrt, auch dem prestigereichen Benois de la Danse, ist der Russe eine Ausnahmeerscheinung in der aktuellen Tanzwelt, vor allem wegen seiner exzellenten Technik, die derzeit kaum Vergleiche hat.

Der Schuber „ The Art of Vadim Muntagirov“ mit vier DVDs (OA13598D) hält vier Auftritte des Tänzers zwischen 2016 und 19 fest, beginnend mit dem Albrecht in Adolphe Adams Giselle in der Choreographie von Marius Petipa/Jean Coralli/Jules Perrot. Die Produktion ist ein Juwel im Repertoire des Royal Ballet London. Peter Wrights Produktion (mit eigenen Zusätzen) wurde nach ihrer Erstaufführung 1985 bereits mehrfach auf DVD veröffentlicht. Die erste Ausgabe stammt aus dem Jahre 2006, in der Marianela Nuñez noch die Myrtha tanzte – in der Wiederaufnahme am 5. April 2016 wurde ihr nun die Titelpartie  anvertraut. Die argentinische Ausnahmetänzerin präsentiert sich damit in einer weiteren Paraderolle. Im Auftritt lebhaft und kokett, bravourös auf Spitze in der Diagonalen und in den wirbelnden Pirouetten, zeigt sich bei Giselles Erkennen von Albrechts Betrug und in der Wahnsinnsszene die erfahrene Tänzerin mit ihrer mimischen und gestischen Ausdruckskraft. Mirakulös das Erwachen im nächtlichen Waldbild, die wie in slow motion zelebrierten Figuren, die fliehenden Arabesquen, die überirdische Schwerelosigkeit. Vadim Muntagirov fehlt vielleicht die aristokratische Aura für den Herzog, aber tänzerisch ist er erstklassig mit stupenden battements und weiten grand jetés. Im 2. Akt gewinnt er in seinem Schmerz an romantischer Aura und ist tänzerisch wiederum über jede Kritik erhaben.

Als Myrtha sieht man die strenge, in ihrer Eiseskälte geradezu erstarrte Itziar Mendizabel, Bennet Gartside als männlich-reifen Hilarion sowie die beiden ätherischen Solo-Wilis Olivia Cowley und Beatriz Stix-Brunell. John MacFarlanes stimmige Ausstattung mit ihren wunderbaren Sepia- und Rosttönen sowie den aquarellierten Prospekten ist eine Augenweide. Barry Wordsworth dirigiert das Orchestra of the Royal Opera House und verhilft der Aufführung auch musikalisch zum Erfolg.

Ein Jahr später, am 28. 2. 2017, zeichnete OPUS ARTE eine Aufführung von Tschaikowskys The Sleeping Beauty auf. Die Choreografie von Marius Petipa mit Zusätzen von Frederick Ashton, Anthony Dowell und Christopher Wheeldon hatte 2006 ihre Premiere, auch nach mehr als zehn Jahren hat sie nichts von ihrem Zauber eingebüßt, was auch ein Verdienst von Oliver Messels atmosphärischer Ausstattung (mit Ergänzungen von Peter Farmer) ist.

Wieder ist das Traumpaar aus Giselle in den zentralen Rollen zu erleben. Marianela Nuñez ist eine bezaubernde Aurora, von jugendlicher Anmut und Eleganz. Die schwierigen Balancen im Rosen-Adagio meistert sie souverän, ebenso die anspruchsvollen Variationen. Mit Vadim Muntagirov als Prinz Florimund, der einen bestechenden Auftritt bei seinem Solo im Jagdbild hat, führt sie den Grand pas de deux im Hochzeitsbild in aristokratischer Manier zum Höhepunkt der Aufführung. Zum Tanzfest beim Divertissement im letzten Akt tragen vor allem Akane Takade als Princess Florine und Alexander Campbell als The Bluebird bei. Mit der festlichen  Apothéose beendet Koen Kessels mit dem Orchestra of the Royal Opera House eine glanzvolle Aufführung.

Kenneth MacMillans Manon zählt zu den wichtigsten im 20. Jahrhundert geschaffenen Handlungsballetten. Die Uraufführung fand 1974 beim Royal Ballet London statt. Von dieser Inszenierung in der Ausstattung von Nicholas Georgiadis existieren bereits zwei Aufführungen auf DVD – 2018 kam eine weitere Aufzeichnung, was den Stellenwert dieses Werkes beim Royal Ballet unterstreicht. Sie erfolgte vor allem deshalb, um Vadim Muntagirovs Interpretation des Des Grieux festzuhalten. Seine Manon ist die junge Sarah Lamb, der man die mondäne Kurtiane weniger zutraut, eher das jugendliche Mädchen, das ins Kloster geschickt wird. Und sie ist in der Tat bezaubernd und anmutig in ihrem ersten Auftritt, schwebend leicht im Tanz mit ihrem Bruder Lescaut (viril: Ryoichi Hirano) und entzückend in der Begegnung mit Des Grieux. Muntagirov beginnt mit einem anspruchsvollen Solo von fließender Eleganz und dann folgt der erste von den vier großen Pas de deux der Choreografie, die deren singuläre Bedeutung ausmachen. Lamb und Muntagirov sind ein ideales Paar – jede Figur, ob Drehung oder Hebung, funktioniert perfekt. Die Vollkommenheit im Zusammenspiel ist besonders wichtig beim zweiten Tanzduo, dem Bedroom’ pas de deux, im Liebesnest des Paares, wo sie ihm die Schreibfeder aus der Hand nimmt und zu einem verführerischern Tanz animiert, der in seiner Sinnlichkeit ohne Vergleich ist. Beim Erscheinen auf der Abendgesellschaft in Madames Hotel particulier überrascht Lamb mit einer mondänen Aura, die man von ihr nicht erwartet hätte. Ihr Solo ist aufreizend und ganz für Des Grieux bestimmt. Muntagirov zeichnet ihn, der Manon nach der Trennung erstmals wieder sieht, verzweifelt und sehnsuchtsvoll. Sein Solo, in dem er Manon um Rückkehr zu ihm  bittet, ist ein existentieller Hilfeschrei – technisch in Vollendung ausgeführt. Wieder vereint in der Wohnung von Des Grieux, findet sich das Paar in einem innigen Pas de deux, der beider neu erwachte Liebe anschaulich zeigt. Aber kokett weist sie auf ihre Juwelen – ihr gespaltenes Ich zwischen Glück und Reichtum führt in die Katastrophe. Deportiert in die Sümpfe von Louisiana, hat Manon vor ihrem Tod einen letzten Pas de deux mit ihrem Geliebten, der zu den anspruchsvollsten der gesamten Ballettliteratur zählt. In seinem geradezu artistischen physischen Anspruch mit spektakulären Hebungen und Würfen sowie der existentiellen Ausdrucksdimension hat er kaum einen Vergleich. Lamb und Muntagirov krönen ihre Interpretation mit diesem Atem beraubenden Finale. Der russische Tänzer findet hier zu einer ungeahnten Dramatik und Leidenschaft.

Das Parfum von Massenets Musik lässt Martin Yates, der die Musik auch arrangierte, mit dem Orchestra of the Royal Opera House gebührend duften und schwelgerisch aufrauschen, was die Aufführung auch zu einem sinnlichen Hörerlebnis macht.

Jüngstes Zeugnis ist Léo Delibes’ Coppélia – ein Klassiker beim Royal Ballet London. Die reizende Choreografie stammt von Ninette de Valois, die sich bei ihrer Arbeit auf die historischen Vorlagen von Lev Ivanov und Enrico Cecchetti stützte. Osbert Lancasters Ausstattung entfaltet den märchenhaften Zauber eines Bilderbuches, hält perfekt die Balance von Naivität und Raffinement. Der Himmel im Hintergrund zeigt Magritte-Wölkchen, die Häuser von Swanilda und Coppélius scheinen aus einer Spielzeugstadt zu stammen. Eine geheimnisvolle Welt offenbart das Kabinett des Puppenmachers mit dessen phantasievollen mechanischen Schöpfungen. Da sieht man spanische Zigeunerinnen, behelmte Kreuzritter, berockte Schotten, chinesische Pagoden – geradewegs aus dem Kleiderschrank fährt die Puppe Coppélia heraus. Die Kostüme sind von folkloristischen Motiven inspiriert – die Aufführung zu sehen ist eine Freude für Jung und Alt.

Alina Cojocaru and Vadim Muntagirov in the roles of Medora and Conrad of Le Corsaire produced by the English National Ballet/ Wikipedia

In neuer Besetzung kehrte die Produktion 2019 ins Repertoire zurück und bezog ihre Attraktivität aus der Mitwirkung von zwei Principals:  Marianela Nuñez und Vadim Muntagirov. Der Mitschnitt gibt Zeugnis von der Frische, dem Charme und komödiantischen Witz der beiden beliebten Interpreten. Die Argentinierin hat mit der Swanilda eine weitere zentrale Rolle der Ballettliteratur dokumentiert und verblüfft mit ihrem anhaltend jugendlichen Reiz und Temperament sowie der ungebrochenen technischen Perfektion. Ihr Auftritt als Coppélia steigert sich von abgehackt automatisierten Bewegungen zu einem rasanten Wirbel. Der russische Tänzer gibt mit dem Franz eine Probe seines Könnens im heiteren Genre mit sympathischer, burschenhafter Ausstrahlung. Im ersten Pas de deux mit Swanilda fehlt es ihm auch nicht an Zugewandtheit und lyrischer Empfindung. Im finalen Hochzeits-Pas de deux finden er und Nuñez zu bezaubernder Innigkeit und bestechender Brillanz in den jeweiligen Variationen.

Die Freude über diese Veröffentlichung vollendet der Dirigent Barry  Wordsworth mit dem Orchestra of the Royal Opera House, bringt Delibes’ reizvolle Musik mit Csárdás, Mazurka, Bolero und Scottish Jig zu hinreißender Wirkung. Bernd Hoppe

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Eine Besonderheit für Ballettomanen. BelAir hat eine (sehr) besondere Blu-ray Disc herausgebracht mit dem Titel Opéra de Paris – une saison (très) particulière (BAC496). Der Film von Priscilla Pizzato beschreibt die Rückkehr der Tänzerinnen und Tänzer in die Probensäle und auf die Bühnen des Palais Garnier und der Opéra Bastille nach monatelanger Abwesenheit im Pandemie-Jahr 2020. Geprobt wird Rudolf Nurejews legendäre Choreografie von La Bayadère von 1992, mit der die Compagnie ihr Comeback feiern will. Gefordert für diese Produktion sind nicht weniger als 90 Tänzer.

Wie alle Theater in Frankreich mussten auch die Opernhäuser in Paris im März 2020 ihre Pforten schließen. Nach einer Proben- und Aufführungspause von drei Monaten konnte das Ballettensemble am 15. Juni in den berühmten Probensaal unter der Coupole (Kuppel) der Opéra Garnier zurückkehren – niemals in seiner traditionsreichen  Geschichte hatte es eine derart lang Pause überstehen müssen. Unter Anleitung mehrerer Ballettmeister und der Directrice de la Danse Aurélie Dupont beginnen die Tänzer mit den Aufwärmübungen (préparations) und dem Technik-Training.

Zu sehen sind der Premier Danseur Paul Marque, die Danseuse Ètoile Amandine Albisson, der Danseur Ètoile Mathieu Ganio und der Danseur Ètoile Germain Louvet, die über die besonderen Herausforderungen der langen Probenpause und die Schwierigkeiten des Wiederbeginns berichten. Am 15. Oktober konnten die Proben für die Wiederaufnahme der Bayadère beginnen. Vor allem der 3. Akt mit dem Schattenreich („Les Ombres“) ist für das Corps de Ballet eine enorme Anforderung, da 32 Tänzerinnen mit unzähligen Arabesquen scheinbar zu einer einzigen Figur verschmelzen müssen. Danach begann die Probenarbeit mit den Solisten: Der Danseur Ètoile Hugo Marchand versucht sich mit Erfolg an der extrem schwierigen Variation des Solor im Schattenreich, Amandine Albisson probt die Nikiya und deren Solo vor dem Biss der Schlange. Am 19. November fand die erste Probe mit dem gesamten Ensemble statt. Hier ist die Danseuse Ètoile Dorothée Gilbert als Nikiya zu sehen, Paul Marque gibt das Goldene Idol. Am 27. November begannen die Proben auf der Bühne der Opéra Bastille. Hier kommen Marchand und die Danseuse Ètoile Ludmila Pagliero zum Einsatz. Am 4. Dezember findet die Generalprobe in Kostümen und mit Orchester statt. Der Danseur Ètoile Mathias Heymann spricht über die psychische Belastung dieses Abends, aber auch die Vorfreude auf die Premiere mit einem gefüllten Saal und dem Applaus des Publikums. Am 11. Dezember, vier Tage vor dem mit Spannung erwarteten Ereignis, erfahren die Tänzer, dass die Theater in Frankreich nicht öffnen dürfen und alle Vorstellungen annulliert sind. Die Aufführung findet ohne Zuschauer statt und wird live übertragen mit einer unterschiedlichen Besetzung der Danseurs Ètoiles pro Akt. Einer davon, Francesco Mura, macht kein Hehl aus seiner Enttäuschung.

Die Aufführung ohne Publikum hat am Ende noch einen bewegenden Moment, denn Aurélie Dupont ernennt Paul Marque nach seiner Interpretation des Goldenen Idols zum Danseur Ètoile – stets ein Höhepunkt in der Karriere eines Tänzers. Am 10. Juni 2021, nach einer Schließzeit von 18 Monaten, öffnet die Opéra Bastille erneut ihre Pforten – und diesmal mit Publikum für die Wiederaufnahme von Rudolf Nurejews Roméo et Juiette. Hier tanzt Marque den Roméo und damit seine erste Hauptrolle als neuer Etoile. Und am Ende der Vorstellung wiederholt sich der feierliche Moment einer Ernennung zum Star, denn Aurélie Dupont macht die Juliette des Abends, Sae Eun Park, zur neuen Danseuse Ètoile.

Ein Bonus der Ausgabe bringt ein Interview mit Aurélie Dupont sowie Ausschnitte von den Proben zur Bayadère mit Hugo Marchand, Amandine Albisson, Mathias Heymann und der Ballettmeisterin Clotilde Vayer. Bernd Hoppe

Stück für zehn Tänzer: NAXOS veröffentlicht auf DVD eine Produktion des Ballet Preljocaj, die den Titel La Fresque trägt und im Juni 2017 im Théatre de la Criée von Marseille gefilmt wurde (2.110600). Der renommierte französische Choreograf albanischer Abstammung Angelin Preljocal nutzte für seine Arbeit die bekannte chinesische Sage von der Wandmalerei in einem Tempel, die von hübschen Mädchen geziert wird. Ein Reisender, Chu, der mit seinem Weggefährten Meng dort Zuflucht sucht, verliebt sich in eine Schönheit, was ihm eine neue Dimension des Lebens eröffnet. Das Ballett behandelt die geheimnisvolle Verbindung zwischen Vorstellung und Realität. Nicolas Godin, der schon für Preljocajs Near Life Experience 2003 die Musik schrieb, erdachte auch hier die Klangfolie, welche Vincent Taurelle um einige Passagen ergänzte. Das Constance Guisset Studio besorgte die Bühnenbilder und Videos, Azzedine Alaïa entwarf die asiatisch inspirierten Kostüme.

Die Eingangsszene zeigt die beiden Reisenden unterwegs, ihr Bewegungsvokabular besteht aus kriechenden, dann skulpturalen Figuren und entwickelt sich zu kraftvollen Sprüngen und Drehungen. Wellenartige Gebilde als Projektionen im Hintergrund illustrieren die Szene. Drei geheimnisvolle Männer in schwarzen Gewändern begegnen ihnen und führen sie zum Tempel. In somnambuler Trance bewegen sich fünf Mädchen, bis sie in einen ekstatischen Rhythmus verfallen. In solchen Momenten hat die Choreografie bei all ihrem eigentümlichen Stil auch den Hang zur Redundanz. Zudem ist sie inhaltlich schwer zu entschlüsseln – eine Trackliste mit kurzer Beschreibung der einzelnen Szenen im Booklet wäre da hilfreich.

Chu nähert sich der Gruppe und erwählt das schöne Mädchen für ein Tanzduo mit schwierigen, doch effektvollen Hebungen. In einem weiteren gemeinsamen Tanz vor einem Sternenhimmel suggeriert der Choreograf eine Atmosphäre wie unter Wasser. Chu ist nun selbst ein Teil des Gemäldes – ein Zustand des Glücks und der Idylle, der mehrere Jahre anhält, bis ihn Krieger aus dieser Welt vertreiben und er in seine frühere zurückkehrt. Dort frisieren Mädchen in bunten Kleidern die Schöne als Vorbereitung zu ihrer Hochzeit. Noch einmal tanzt Chu mit ihr, lässt in seiner Erinnerung das Erlebte nachklingen.  Die zehn Tänzer des Ballet Preljocaj sind in ihrer Kraft und Kondition enorm gefordert, bewältigen die anspruchsvolle Vorgabe ihres Leiters glänzend, was leider kein Publikum honoriert. Bernd Hoppe

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Rarität aus Paris: Für alle Freunde der Tanzkunst, deren Interesse über die Tschaikowsky-Trias hinausreicht und eher auf das ausgefallene Repertoire zielt, bringt NAXOS eine echte Rarität heraus – das Ballett in zwei Akten La Source mit der Musik von Léo Delibes und Ludwig Minkus, die Marc-Olivier Dupin 1954 arrangierte. Aufgezeichnet und auf einer DVD veröffentlicht wurde eine Aufführungsserie im November/Dezember 2021 aus der Opéra Garnier Paris, die von Jean-Guillaume Bart im klassischen Stil choreographiert wurde (2.110724). Koen Kessels dirigiert das Orchestre de l’Opéra de Paris mit großem Gespür für die vielen Facetten der Musik – ihren schwelgerischen Rausch, die rasanten Rhythmen und sinnlichen Orientalismen. Die Produktion bekam ihren luxuriösen Anstrich durch die raffinierte  Bühnengestaltung von Éric Ruf und vor allem durch die kostbaren Kostüme von Christian Lacroix.

Nicht weniger als vier Étoiles finden sich in der Besetzung, angeführt von Ludmila Pagliero als Naïla, personifizierter Geist des Frühlings. Im 1. Akt sieht man eine Ode der Berggeister an Source als nächtliches Ritual, in dessen Verlauf der Kobold Zaël erscheint, den der Étoile Mathias Heymann sprungstark und agil tanzt, ihn zu einem Verwandten des Puck werden lässt. Danach tritt der junge Jäger Djémil auf (jungmännlich-sympathisch: Karl Paquette), gefolgt von einer kaukasischen Karawane, die herein marschiert und von Mozdock angeführt wird (kraftvoll: Christophe Duquenne). Dessen Schwester Nouredda (Isabelle Ciaravola) soll die Braut des Khans werden (Alexis Renaud männlich-attraktiv und herrscherlich), was ihre Traurigkeit erklärt. Sie und ihre Begleiterinnen tragen hinreißende Kostüme mit folkloristischen Motiven. Nach Noureddas melancholischem Solo begeistert Mozdock mit seinen Männern in einem feurigen Trepak. Die von Nouredda begehrte Blume hoch oben an einem Felsen zu pflücken, gelingt ihm jedoch nicht – im Gegensatz zu Djémil, der Nouredda stolz das Objekt ihrer Begiere überreicht und ihr den Schleier vom Gesicht zieht. Das erzürnt Mozdock und seine Begleiter, die Djémil zusammenschlagen und ihn bewusstlos liegen lassen.

Nun folgt der erste Auftritt von Naïla, die sich um den leblosen Djémil bemüht, der das Bewusstsein zurückerlangt, jedoch nicht ermessen kann, ob Naïla eine reale Erscheinung ist. Nymphen umringen ihn tanzend und verhindern, dass er der entschwundenen Naïla folgen kann. Sie jedoch kehrt zurück mit Zaël und der Blume, enthüllt Djémil, dass diese ein Talisman sei, dem alle Geister des Waldes unterstehen, und fragt ihn nach seinem sehnlichsten Wunsch. Vereint sein mit der jungen Schönen, deren Gesicht ich sah – ist seine Antwort. Naïla vertraut ihn der Obhut Zaëls an und verspricht, seinen Wunsch zu erfüllen. Eine reiche choreografische Palette beendet den 1. Akt als Tanzfest – ein Pas de deux von Naïla und Djémil, ein Auftritt von Zaël mit den Berggeistern, Variationen von Naïla und Djémil mit je einer Coda sowie ein großes Finale.

Der 2. Akt führt in den Palast des Khans, wo die Haremsdamen ungeduldig die Ankunft der Braut erwarten. Ein Pas des Odalisques soll den Herrscher unterhalten. Dadjé (Nolwenn Daniel), die bisherige Favoritin des Khjans, ist erzürnt und eifersüchtig, was sie in einer Variation ausdrückt und später ganz offen in eine Auseinandersetzung mit Nouredda gerät. Mehrere Tänze werden zu Ehren der neuen Braut gezeigt, darunter die Danse circassienne und das Entrée des troubadours. Plötzlich erscheint unerwartet Naïla, die den Khan fasziniert (Pas d’action). Nouredda sieht ihren Stern verblassen, kann jedoch mit Djémil fliehen. Mit der Leblosen in seinen Armen erreicht er das Reich der Nymphen mit Naïla. Sie ist erstaunt, ihrem Inneren menschliche Regungen zu verspüren, und opfert sich für das Leben der anderen Frau mit Hilfe der Blume. Während Nouredda und Djémil vereint sind, stirbt Naïla in Zaëls Armen.

In ihrer optischen Pracht, der orientalischen Atmosphäre, dem reichen choreografischen Spektrum und dem tänzerischen Anspruch ist La Source der Bayadère vergleichbar. Die Veröffentlichung ist eine Bereicherung des Repertoires, für die man dem Pariser Ballett nicht genug danken kann. Bernd Hoppe

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Legendäres Dokument bei OPUS ARTE. Mit einer spektakulären Veröffentlichung löst OPUS ARTE Probleme bei der Findung von Weihnachtsgeschenken. Denn zumindest für Ballettfreunde und natürlich alle Verehrer der Tanzkunst von Rudolf Nureyev dürfte die Neuausgabe des legendären Films Don Quixote von 1972 mit dem Australian Ballet ein willkommenes Präsent darstellen und darüber hinaus die Erfüllung eines langen Traumes bedeuten (OA 13500). Das Original, gefilmt im Hangar des Essendon Airport von Melbourne und in schlechtem Zustand, wurde sorgfältig restauriert und digital remastered, bietet optisch und akustisch nun eine sehr ansprechende Qualität. In den Extra Features findet sich das Kapitel Restoration Process, in welchem man  aufschlussreiche optische Gegenüberstellungen der alten und restaurierten Fassung sehen kann. Das Ergebnis ist verblüffend.

Mit John Lanchberry steht ein Ballett-erfahrener Dirigent am Pult des Orchestra Victoria, der die Musik in ihrem Temperament und der folkloristischen Kolorierung wirkungsvoll ausbreitet.

Die Einleitung fängt das bunte Treiben im Hafen von Barcelona ein. Barry Kay ist die atmosphärische Ausstattung zu danken. Gleich zu Beginn hat Lucette Aldous ihren effektvollen Auftritt als Kitri. Die Tänzerin verfügt zweifellos über mediterrane Verve und imponiert mit wirbelnden Pirouetten. Gemessen an heutigen Spitzeninterpretinnen der Partie wie Natalia Osipova, Marianela Nuñez und Swetlana Sacharowa bleibt sie in ihren technischen Möglichkeiten freilich zurück. Das Solo mit den Kastagnetten im ersten Pas de deux sprüht vor Temperament, doch ist die Ausformung der Figuren bescheiden. Rudolf Nureyev hat das Ballett nach Marius Petipa choreografiert und sich für seinen Basil ein wirkungsvolles Entrée erdacht. Die Aufnahme stammt aus der Glanzzeit des Tänzers – die szenische Präsenz, die sinnliche Aura und tänzerische Bravour sind ohne jede Einschränkung bewundernswert. Den ersten Pas de deux mit Kitri meistert er souverän in rasantem Tempo und mit perfekt absolvierten einarmigen Hebungen. Effektvoll ist auch das Duo in der Taverne und natürlich sorgen beide Tänzer für den Höhepunkt der Aufführung mit dem aristokratisch zelebrierten Grand pas de deux. Sie besticht mit stupenden Balancen und in ihrer Variation mit temporeichem Auftritt, am Ende mit perfekt gedrehten fouettés. Er begeistert mit majestätischer Haltung auf Halbspitze, einer Kaskade von Sprüngen und wirbelnden Drehungen.

Gute Figur macht das zweite Paar mit Kelvin Coe als Espada und Marylin Rowe als Straßentänzerin mit südländischem Temperament. Ein rassiges Zigeunerpaar geben Ronald Bekker und Susan Dains. In der Titelrolle sieht man mit dem Australier Robert Helpmann einen Großen der Tanzszene, der besonders in der Traumsequenz beeindruckt, in der ihm seine angebetete Dulcinea (wieder Lucette Aldous) erscheint und er sich in einem Zubergarten wieder findet. Hier regiert Marylin Rowe als Königin der Dryaden, assistiert von dem munteren Cupido der Patricia Cox. Die Mitglieder des Australian Ballet glänzen in ihren verschiedenen Auftritten – auf dem Marktplatz, auf der Ebene vor den Windmühlen, im Zaubergarten, in der Taverne und im Finale. Das renommierte Dance Magazine bezeichnete die Produktion zu Recht als „The finest full-length dance film ever“. Bernd Hoppe

Bei Cmajor: Ein Klassiker endlich dokumentiert. Ein Sommernachtstraum ist ein Juwel in John Neumeiers Schaffen. Uraufgeführt 1977, wurde das Ballett inzwischen in mehreren Wiederaufnahmen (2011/2016/2019) mit wechselnden Besetzungen gezeigt und auch von anderen renommierten Compagnien einstudiert. Zur Freude der Ballettomanen ist es nun bei Cmajor als Blu-ray-Disc verfügbar (758304). Zwischen einer Theateraufführung und dem Film von Miriam Hoyer gibt es Unterschiede dank der Kamerapositionen, die auf der Bühne während einer Vorstellung nicht möglich gewesen wären. Der musikalische Stil-Mix der Produktion ist ein genialer Einfall und verhilft der Aufführung zu magischer Wirkung. Die höfischen Szenen bei Herzog Theseus und seiner Braut Hippolyta illustriert Mendelssohn Bartholdys Komposition zu Shakespeares Schauspiel. Für die Traumsequenzen im Wald mit der Feenwelt nutzte Neumeier elektronische Klänge von György Ligeti, für die Auftritte der Handwerker und deren Divertissement im letzten Akt Musikautomaten.

Auch die atmosphärische Ausstattung von Jürgen Rose trägt entscheidend zum Zauber dieses Ballettes bei. Der Rahmen für die Handlung ist die bevorstehende Hochzeit von Hippolyta und Theseus. Der Prolog zeigt die Vorbereitungen zum Fest in Hippolytas Gemach, in welchem der Hofmaler ein Porträt von ihr anfertigt. Letzte Handgriffe am Hochzeitskleid werden vorgenommen, der Brautschmuck und Blumenstrauß gebracht, bis Hippolyta endlich allein ist und einschläft. Es folgt ihr Traum von der Feenkönigin Titania, die sich mit dem Elfenkönig Oberon streitet. Ein Wald mit silbrig glitzernden Bäumen und mystischem Nebel unter dem Sternenhimmel ist nicht nur von zauberischer Wirkung, sondern gibt den Tänzern in hautengen Trikots auch Gelegenheit für eine Fülle von sportiven und stupend biegsamen Figuren. Gleich einem Faun wirbelt Puck umher und  windet sich in sinnlichem Raffinement. Von Theseus bekam er eine Blume mit magischen Kräften, welche Menschen beim ersten Anblick in ein fremdes Wesen verliebt macht. Das schafft reichlich Verwirrung zwischen zwei Paaren,  hochrangig besetzt mit Hélène Bouchet und Madoka Sugai als Helena und Hermia sowie Karen Azatyan und Jacopo Bellussi als Demetrius und Lysander, und führt zu urkomischen Situationen. Mit dem Erwachen ersteht die Liebe zwischen den jungen Menschen neu, was Neumeier in zauberhaften Pas de deux ausgedrückt hat. Auch Theseus und Hippolyta finden nun wirklich zueinander, so dass einer dreifachen Hochzeit im reich mit Blumen geschmückten herzoglichen Palast nichts mehr im Wege steht.

In der Doppelrolle der Hippolyta/Titania demonstriert Anna Laudere ihre Klasse, ist zu Beginn während des geschäftigen Treibens bei der Hochzeitsvorbereitung noch verunsichert, was sie als künftige Braut des Herzogs am Hof erwartet. Zudem ist sie irritiert, dass Theseus auch mit anderen Hofdamen flirtet. Die Tänzerin zeigt das empfindsam und sensibel, kann danach im Traum als Feenkönigin Titania ihre aristokratische Noblesse und ihr sinnliches Flair einbringen. In dem Liebesspiel mit dem zum Esel verwandelten Handwerker Zettel bietet sie ein Kabinettstück, um nach all dem Ulk beim Hochzeitsfest wieder zur hehren Klassik zurückzukehren. In diesem Pas de deux ist Edvin Revazov in der Doppelrolle des Theseus und Oberon ihr Partner. Er hat einen starken Auftritt, ist autoritär, arrogant und erst am Ende Hippolyta wirklich zugetan. Tänzerisch macht er glänzende Figur, bewältigt all die technischen Finessen der Choreografie mühelos. Sensationell ist Alexandr Trusch – zuerst als gewandter Philostrat am Hofe mit hohen Sprüngen und flinken Pirouetten, danach als Puck ein ausgelassener Wildfang mit Witz und körperlichem Totaleinsatz. Und da ist natürlich die hinreißende Handwerkertruppe, die mit ihren Auftritten für Lachstürme sorgt – köstlich Marc Jubete als Bottom/Pyramus, Borja Bermudez als Flute und umwerfend im Travestie-Auftritt auf Spitze als Thisbe, Lizhong Wang als Quince/Wall, Marià Huguet als Starveling/Moonshine, Pietro Pelleri als Snout/Wall, Aleix Martínez als Snug/Lion und Louis Haslach als Klaus, the music maker an der Drehorgel. Die Blu-ray-Disc-Veröffentlichung schließt eine Lücke in der Sammlung von Neumeiers Ballettdokumenten und weckt natürlich die Hoffnung auf weitere Ausgaben – wie Nussknacker, Dornröschen  oder Duse. Bernd Hoppe

Bei OPUS ARTE: Eine monegassische Megäre. Dank John Cranko fand Shakespeares Komödie The Taming of the Shrew den Weg auf die Tanzbühne. Seine Choreografie von 1971 für das Stuttgarter Ballett ist noch heute ein Musterbeispiel für komödiantischen Witz und groteske Situationen. OPUS ARTE bringt nun unter dem Titel La mégère apprivoisée eine neue Version des Stoffes auf Blu-ray Disc heraus (OABD 7293D). Sie stammt von Jean-Christophe Maillot, der sie 2014 für das Bolshoi Ballet Moskau schuf, wo sie von Stars wie Ekaterina Krysanova und Vladislav Lantratov in den Hauptrollen getanzt wurde. 2020 wurde die Arbeit auf Maillots eigene Compagnie, Les Ballets de Monte-Carlo, übertragen, wo im Juli eine Live-Aufzeichnung im Grimaldi Forum stattfand.

Der Choreograf wählte als musikalische Folie Kompositionen von Dmitri Schostakowitsch (Moscow Cheryomushki, Hamlet, The Gadfly, Sinfonie Nr. 9, Chamber Symphony u. a.). Das Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo spielt die flotte, tanzgerechte Musik unter Leitung von Igor Dronov mit Esprit und Sentiment. Maillots tänzerisches Vokabular mit schnellen Pirouetten, fliegenden grand jétés und hohen Sprungkombinationen ist sehr anspruchsvoll und wird von den Tänzern bravourös umgesetzt. Auf der fast abstrakten Bühne von Ernest Pignon-Ernest mit geschwungenem Treppenaufbau und weißem Säulenrund ohne überflüssiges szenisches Beiwerk kommen ihre Aktionen zu denkbar bester Wirkung. Die turbulente Eingangsszene im Hause des reichen Bürgers Baptista (Christian Tworzyanski), dessen Diener ihn verspotten, könnte auch aus einem Musical stammen. Augustin Maillots Kostüme pendeln zwischen extravaganten Korsagen mit Federboas und sportiver Alltagskleidung.

In der Titelrolle bietet Ekaterina Petina eine glänzende Leistung, ist weniger biestig als Marcia Haydée bei Cranko, aber im Umgang mit Petruchio auch nicht eben zimperlich. Auf ihre Ohrfeige reagiert er mit einem leidenschaftlichen Kuss, was bei ihr eine deutliche Veränderung der Emotionen bewirkt und zum ersten gefühlvollen Pas de deux des Paares führt. Dann bedrängen Katherine schwarz vermummte Gestalten als personifizierte Ängste, entkleiden sie und entwenden ihr den Schmuck. Petruchio gibt ihr sein Hemd und zeigt sich sehr fürsorglich. Matej Urban formt die Figur mit vielen Facetten, nimmt ihr aber nie die Sympathie des Zuschauers. Tänzerisch furios vom ersten Auftritt an, überzeugt er mit seiner vitalen Ausstrahlung und der virilen Sinnlichkeit, zeigt aber für Katherine auch zärtliche Zuwendung.

Katrin Schrader gibt Bianca als lieblichen Gegenentwurf zu ihrer Schwester Katherine. Mit ihrem Freier Lucentio (Jaeyong An) hat sie mehrere fordernde Pas de deux zu tanzen und absolviert sie voller Eleganz und Anmut. Die beiden anderen Bewerber um ihre Hand – der ältliche Gremio (Daniele Delvecchio) und der hochnäsige Hortensio (Simone Tribuna) – bleiben bei ihr chancenlos, nicht aber beim Zuschauer wegen ihrer starken tänzerischen Auftritte.

Eine witzige Figur wie aus der commedia dell’arte ist Adam Reist als Diener Grumio, der die Einladung zur Hochzeit von Bianca und Lucentio überbringt. Katherine und Petruchio erscheinen dort elegant gekleidet und ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich. Am Ende sind sie auch das Paar, welches sich in wirklicher Liebe gefunden hat. Bernd Hoppe

Bei OPUS ARTE: Bolle-Special: Für alle Ballettfreunde – und insbesondere die Verehrer des italienischen Star ballerino Roberto Bolle – bringt OPUS ARTE eine Box mit drei Dokumenten des Tänzers unter dem Titel The Art of Roberto Bolle heraus (OA BD 7224 BD, 3 Blu-ray Discs). Zwei stammen aus dem Mailänder Teatro alla Scala, dessen führender Erster Solist der Italiener viele Jahre war und auch heute noch manche Aufführung oder Gala der Compagnie mit seinen Auftritten ziert.

Im Februar 2013 wurde das 1965 in Paris uraufgeführte Ballett Notre-Dame de Paris mit der Musik von Maurice Jarre in der Choreografie von Roland Petit in der Scala aufgezeichnet. Zu sehen sind die Originalbühne von René Allio mit der berühmten Pariser Kathedrale in abstrakt-strenger Zeichnung und Yves Saint-Laurents farbige Kostüme voller Mondrian-Zitate. Für die Hauptrollen war eine Starbesetzung aufgeboten: Als Quasimodo vollzieht Roberto Bolle einen gewichtigen Schritt vom Fach des Danseur noble zum Charaktertänzer. Ihm gelingt ein starkes Porträt des verkrüppelten Glöckners in dessen pathologischen Deformierungen. Die Szene mit Esmeralda in der Kathedrale zu Beginn des 2. Aktes voller scheuer Annäherungen und erwachender Gefühle rührt in ihrer Menschlichkeit und Wahrhaftigkeit. In dieser Rolle sorgt auch Starballerina Natalia Osipova für Aufsehen. Technisch exzellent, hat sie sich Petits Stil in verblüffender Perfektion zu Eigen gemacht. Sogleich ihr erstes, ungemein raffiniertes Solo wird mit starkem Szenenapplaus bedacht. Ihr Duo mit dem Hauptmann der Bogenschützen Phoebus (glänzend Eris Nezha), das sich zum Pas de trois mit dem Archidiakon von Notre-Dame Frollo (fulminant Mick Zeni in seiner körperlichen Gespanntheit und diabolischen Aura) weitet, zeigt sie in faszinierend sinnlicher Ausstrahlung, aber auch als starke Charakterdarstellerin.

Für die vitale, Tempo betonte Choreografie mit fordernden Szenen für das Corps de ballet ist Jarres Musik mit ihren Stilelementen aus Musical und Film die perfekte Folie. Paul Connelly am Pult des Orchestra des Teatro a la Scala ist der denkbar beste Anwalt, sie in all ihrer Vielfalt zu bestmöglicher Wirkung zu bringen.

Gala des Étoiles nennt sich die zweite DVD, welche den Eröffnungsabend (30. Oktober) für die Expo 2015 in Milano festhält. Roberto Bolle führt eine Riege von internationalen Tänzerstars an – so Polina Semionova, mit der er einen Pas de deux aus Roland Petits Carmen zeigt. Später bringt er noch ein Solo aus Massimiliano Volpinis futuristischem  Prototype, das ihn in seiner Überfülle von visuellen Effekten und Video-Einspielungen eher in den Hintergrund rückt. Ein aufsteigender Star der Scala-Compagnie ist deren neuer Erster Solotänzer Claudio Coviello, der mit Melissa Hamilton im Pas de deux aus dem 2. Bild von Kenneth MacMillans Manon das Publikum verzaubert. Zu den langjährigen Superstars des Hauses gehört Svetlana Zakharova, deren Mailänder Auftritte (Odette/Odile, Giselle, Nikia) auch auf DVD dokumentiert sind. Die Gala bereichert sie mit Mikhail Fokines unsterblichem Solo The Dying Swan, das sie in großer Manier zelebriert und damit ihren Ausnahmerang unter den Ballerinen der Gegenwart unterstreicht. Auch ihr zweiter Beitrag, der Pas de deux aus Marius Petipas Le Corsaire, besitzt höchsten Rang. Hier ist Leonid Sarafanov, ein Star der jüngeren Tänzergeneration in Russland, ihr Partner. Er hatte schon vorher gemeinsam mit Alina Somova, auch sie ein neuer Stern am russischen Tänzerhimmel, in Victor Gsovskys Grand Pas classique auf Musik von Auber brilliert. Zu Mailands Tänzerkometen gehört auch Massimo Murru, der mit Maria Eichwald die Balkonszene aus Kenneth MacMillans Romeo and Juliet zeigt. Beide sind reife Interpreten ihrer Rollen, aber im Ausdruck absolut überzeugend. Die langjährige Erste Solistin aus Stuttgart hatte vorher mit Mick Zeni in einer Szene aus Petits La Rose Malade gleichfalls durch die starke Emotionalität ihres Vortrags beeindruckt. Für spektakuläre Nummern sorgt Ivan Vasiliev in zwei seiner Glanzrollen – dem Basil aus Petipas Don Quixote und dem Titelhelden aus Yuri Grigorovichs Spartacus. Als Kitri ist Nicoletta Manni seine Partnerin, nicht unbedingt ein rassiger südlicher Typ, aber kokett in der Variation und am Ende mit bravourösen Pirouetten und Fouettées. Vasilievs artistische Sprünge sind schier unwirklich und in ihrer technischen Vollkommenheit ein Wunder. Maria Vinogradova ist eine wunderbare Phrygia, die mit Spartacus in beider nächtlichem Tanz vor dem entscheidenden Kampf gegen das Heer von Crassus in der unverbrüchlichen Liebe zu ihrem Helden anrührt. Vasilievs enorme Kraft zeigt sich in den mirakulösen einarmigen Hebungen.

Schließlich ist noch das langjährige Münchner Solopaar Lucia Lacarra und Marlon Dino hervorzuheben, das den Abend mit Ben Stevensons Three Preludes auf Musik von Rachmaninov eröffnet und im zweiten Teil des Programms einen sehr erotischen Pas de deux aus Gerald Arpinos Light Rain bringt. Die Spanierin, von ihrem Partner sicher geführt, verblüfft mit exotischem Flair und der schlangenhaften Biegsamkeit ihres Körpers. Am Ende vereint Ponchiellis Dance of the Hours alle Solisten des Abends, ein jeder noch mit einer bravourösen Zugabe, zum Defilée auf der Bühne – vom Publikum mit tosendem Applaus überschüttet.

Die dritte DVD hält eine Aufführung von Léo Delibes’ Sylvia beim  Royal Ballet London vom Oktober 2005 fest und ist damit das älteste Dokument der Ausgabe. Frederick Ashtons Choreografie wurde 1952 in Covent Garden uraufgeführt und wird bis heute als ein Juwel im Repertoire gepflegt. Die Originalausstattung von Robin und Christopher Ironside mit zusätzlichen Designs von Peter Farmer bezaubert noch immer in ihrem bukolischen Kolorit und der  romantischen Atmosphäre. Die Besetzung der mythologischen Geschichte von der Jagdgöttin Diana, ihrer Nymphe Sylvia und dem in sie verliebten Schäfer Aminta ist spektakulär – nicht nur wegen Roberto Bolle als Aminta, sondern auch wegen der britischen Tanzikone Darcey Bussell in der Titelrolle. Langjährig war sie Principal der Compagnie und ist heute als sachkundiger Host bei den Kino-Übertragungen des Royal Ballet tätig. Ihre Technik ist stupend, ihre Aura von hoheitsvoller Eleganz. Der aufreizende Tanz vor Orion, der sie entführt hat, zeigt sie auch als Meisterin der erotischen Verführungskunst. Die Pizzicati-Variation im 3. Akt ist dann wieder ein Beispiel für ihre eminente Technik und bezaubernde Leichtigkeit. Bolle meistert die enorm schwierige Choreografie der Aminta-Partie – nach leichter Nervosität im ersten Auftritt – bewundernswert und ist optisch wie stets ein Ereignis in seiner männlichen Attraktivität. In der Valse-Variation im 3. Akt glänzt er mit bravourösem Auftritt und gemeinsam mit der Bussell adelt er das Andante mit hoheitsvoller Allüre, um im rasanten Galopp noch ein virtuoses Glanzlicht zu setzen.

Mara Galeazzi, heute eine Säule des Londoner Ensembles, gibt eine autoritäre Diana von strenger Attitüde, die aber am Schluss dem Bund von Sylvia und Aminta zustimmt. Auch Thiago Soares als furioser Orion von orientalischer Sinnlichkeit ist ein bekannter Name. Der Eros von Martin Harvey imponiert gleichermaßen als Statue wie als Wunderheiler, der den durch einen Pfeil getroffenen Aminta wieder zum Leben erweckt. Unter Sylvias Begleiterinnen finden sich mit Lauren Cuthbertson und Sarah Lamb zwei Tänzerinnen, die heute mit Hauptrollen betraut werden. Stark gefordert wird das Corps de ballet und die Londoner Compagnie erweist sich würdig diesem Anspruch.

Für die Bolle-aficionados ist die Veröffentlichung sicher weniger attraktiv, weil sie diese DVDs bereits besitzen, wobei Sylvia, nun erstmals als Blu-ray Disc vorliegt, aber für alle Ballettfreunde, die eine Sammlung aufbauen wollen, ist die Box ein günstiger Einstieg. Bernd Hoppe

Zum Sechsten Mal: Kenneth MacMillans Choreografie zu Prokofjews Ballett Romeo and Juliet ist ein Standardwerk im Repertoire des Royal Ballet London. 1965 hatte er es für Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn geschaffen. Beide Tänzerlegenden sind in einer DVD-Ausgabe von 1966 bei CAROL MEDIA zu erleben. Es ist dies die erste von mittlerweile sechs Aufzeichnungen dieses Werkes aus Covent Garden (alle in der opulenten Ausstattung von Nicholas Georgiadis). 1984 folgte eine Produktion mit Wayne Eagling und Alessandra Ferri, 2007 mit Carlos Acosta und Tamara Rojo. Mit Federio Bonelli und Lauren Cuthbertson 2012 begann ein Umschwung in der Besetzungspolitik. Die beiden Hauptrollen wurden nun jungen Tänzern anvertraut, die noch nicht der Star-Status schmückte, die aber in ihrem Alter der Vorlage Shakespeares näher kamen. Jüngste Veröffentlichung war eine 2019 in naturalistischer Kulisse gefilmte Version mit William Bracewell und Francesca Hayward.

Legendär und ewig: Rudolf Nurejev und Margot Fonteyn als Romeo und Juliet in der Erstproduktion an Covent Garden 1966, wie sie das Video bei Kultur festhält.

Einige Mitwirkende dieser etwas befremdlichen (und gekürzten) Fassung sieht man nun in der aktuellen Ausgabe von OPUS ARTE wieder, die 2019 im Londoner Opernhaus entstand (OA 1314D). Da ist zuerst Matthew Ball zu nennen, der vorher ein aggressiv-gefährlicher Tybalt war und nun in der männlichen Titelrolle auftritt. Seine Julia ist Yasmine Naghdi mit reizvoll herber Aura. Sie ist anfangs von reizender Naivität, aber schon bei der ersten Begegnung mit Romeo auf dem Ball geschieht mit ihr eine Verwandlung. Ihr Ausdruck ist nun ernst, verrät aber bereits die baldige Hingabe. Das junge Paar bezaubert in der berühmten Balkon-Szene durch den Überschwang der Gefühle, die sich in federnden Sprüngen, wirbelnden Pirouetten und scheinbar schwerelosen Hebungen ausdrücken. Auch den Abschied im Schlafzimmer nach dem verhängnisvollen Geschehen auf dem Marktplatz gestalten beide hinreißend im Übermaß ihres Schmerzes. Als Mercutio ersetzt der Italiener Valentino Zucchetti den neuen Star der Compagnie Marcelino Sambé, der nun den Mandolinen-Tanz im 2. Akt mit virtuosem Auftritt anführt. Zucchetti hat sich jahrelang durch viele démi-Partien gearbeitet und bekommt nun endlich und verdient eine große Aufgabe. Sein flinkes Solo auf dem Ball und vor allem sein Duell mit Tybalt, das ihn das Leben kostet, sind starke Szenen. Gary Avis, eine Säule des Ensembles und langjähriger Rothbart im Swan Lake, ist ein reifer, herablassender Tybalt mit enormer Persönlichkeit, in den Fechtszenen ein Rasender, aber über Mercutios Tod doch betroffen. Sein Ende wird von Christina Arestis als Lady Capulet mit exaltierten Gebärden betrauert. Unverzichtbar Christopher Saunders als Lord Capulet (in beiden Produktionen) und Kirsten McNally (zunächst die Lady Capulet und nun Julias Amme). Neu in der aktuellen Veröffentlichung sind Benjamin Ella als munterer Benvolio und Nicol Edmonds als eleganter, durchaus sympathischer Paris. Grandios ist das Corps de ballet in den zahlreichen Gruppenszenen – auf dem Marktplatz, vor Capulets Palast und im Ballsaal.

Am Pult des Orchestra of the Royal Opera House steht der Ballett-erfahrene Pavel Sorokin, der Prokofjews Komposition mit all ihren lyrischen und dramatischen Facetten effektvoll ausbreitet. Die Neuveröffentlichung zeugt vom vorbildlichen und verdienstvollen Umgang des Royal Ballet London mit seinem choreografischen Erbe. Bernd Hoppe

Neu bei EuroArts: Neumeiers Corona-Ballett. Ghost Light nennt John Neumeier seine neue Arbeit und widmet sie den Tänzern des Hamburg Ballet (2065818). Die Company war weltweit eine der ersten, welche nach dem ersten Lockdown in die Ballettsäle zurückkehrte. Neumeier kreierte das Stück für 55 Tänzer unter strengen Corona-Auflagen, also Abstandsregelungen und Zuordnung von Pas de deux ausschließlich für Lebenspartner. Das Ballett reflektiert Emotionen verschiedener Art – Ängste, Träume, Erinnerungen und Gefühle während der Pandemie. Zu sehen sind auch Szenen aus früheren Schöpfungen des Choreografen (Kameliendame, Nussknacker, Nijinsky), wofür einige Originalkostüme von Jürgen Rose verwendet werden. Die musikalische Folie bildet Klaviermusik von Franz Schubert (Moments Musicaux D 780, Vier Impromptus D 899 und der 1. Satz der Sonate G-Dur D 894), die David Fray mit großem Einfühlungsvermögen interpretiert. Gost Light bezeichnet jenes Licht, welches in amerikanischen Theatern nach Ende einer Aufführung die Bühne beleuchtet, um die Geister früherer und mittlerweile verstorbener Künstler während der Nacht auftreten zu lassen. Eine Glühlampe ist dann auch das einzige Requisit auf der sonst leeren Bühne (Ausstattung und Licht ebenfalls von Neumeier).

Die DVD-Ausgabe entstand bei einer Live-Aufführung des Balletts (mit Publikum) im Oktober 2020 im Festspielhaus Baden-Baden und beginnt mit einem stummen Auftritt von Anna Laudere (der wunderbaren Anna Karenina) im Kostüm der Margerite Gautier. In hektischen Bewegungen und konfus gestammelten Lauten in ihrer Muttersprache zeichnet sie eine verängstigte Figur, bis sich Edvin Revazov (im Leben ihr Ehemann) im Kostüm des Armand zu ihr gesellt und Passagen aus der Choreografie der Kameliendame nachempfindet. Beide Tänzer bilden eines der prominenten Paare, die zusammen tanzen dürfen. Im Impromptu Nr. 3 Ges-Dur hat ihnen der Choreograf ein besonders gefühlsstarkes Duo geschenkt. Das  zweite Paar sind Silvia Azzoni (unvergessen als Kleine Meerjungfrau) und Alexandre Riabko (ein grandioser Nijinsky, den er auch zitiert), die in einer innigen Szene von starker Emotionalität zu sehen sind. Ähnlich zugewandt sind Madoka Sugai (die rasante Kitri im Don Quixote) und Nicolas Glasmann im Impromptu Nr. 1 c-Moll. Auch ein Männerpaar darf sich zusammen finden: David Rodriguez und Matias Oberlin. Sie durchmessen verschiedene Stadien einer Beziehung: Annäherung, Erfüllung, Entfremdung, Aggression, Trennung und Wiederfinden.

Der katalanische Tänzer Aleix Martinez (zuletzt überwältigend als Protagonist in Neumeiers Beethoven-Projekt) kann sich erneut profilieren in der Darstellung eines psychisch wie körperlich geschädigten Menschen mit marionettenhaften, abgehackten Bewegungen und verzerrtem Ausdruck. Félix Paquet, der in der Glasmenagerie den Durchbruch hatte, macht mit seiner charismatischen Ausstrahlung erneut auf sich aufmerksam. Neu im Ensemble, aber Aufsehen erregend ist Atte Kilpinen mit bravourösem Sprungvermögen. Er ist auch der fesche Prinz in schmucker Uniform für die junge Emilie Mazon im Kostüm der Marie aus dem Nussknacker. Und er kann mit Karen Azatyan (noch in wacher Erinnerung als d’Annunzio in Neumeiers Duse) einen übermütig ausgelassenen Tanz zum Impromptu Nr. 2 Es-Dur hinlegen. Nicht fehlen in ihrer eleganten Aura darf Hélène Bouchet, die Grand dame der Compagnie. Es kommt zu Annäherungen mit Jacopo Belussi und Christopher Evans, aber nicht mehr. Die Abstände müssen bleiben… Zum 1. Satz der Sonate G-Dur D984 vereint sich am Ende das gesamte Ensemble mit dem Ausdruck der Hoffnung und Zuversicht, aber auch der Ratlosigkeit und des Zweifels. Bernd Hoppe

Bei Cmajor: Das Scala-Ballett huldigt Petipa. Die Serie von Ballett-Aufzeichnungen aus der Mailänder Scala erweitert Cmajor um die Neuproduktion von Le Corsaire aus dem Jahre 2018 (Blu-ray Disc 756304), die anlässlich des 200. Geburtstages von Marius Petipa entstand. Schon zwei Jahre nach der Uraufführung in Paris, choreografiert von Joseph Mazilier, kam das Werk nach Lord Byrons The Corsair in St. Petersburg zur Aufführung, erweitert um einige Einlagen, für die Marius Petipa verantwortlich zeichnete. Auf dessen legendärer Choreografie, ergänzt um Szenen aus der von Konstantin Sergeyev, fußt die Fassung von Anna-Maria Holmes, die hier gezeigt wird. Holmes gilt als Spezialistin für die grands ballets des 19. Jahrhunderts. Der Scala würdig ist die Ausstattung von Luisa Spinatelli mit ihren perspektivischen Landschafts- und Architektur-Malereien sowie den prachtvollen Kostümen mit reichem orientalischem Kolorit. Nur im 3. Akt beim Jardin animé entgeht sie in der dekorativen Ornamentik und dem üppigen Blumendekor nicht dem Kitsch. Die Musikcollage mit Kompositionen von Adolph Adam, Cesare Pugni, Léo Delibes, Riccardo Drigo und Peter von Oldenburg ist bei Patrick Fournillier in sachkundigen Händen. Mit dem Orchestra of Teatro alla Scala zaubert er eine reiche Palette von Farben und Stimmungen – von der stürmisch-dramatischen Eingangsszene über die schwelgerischen Lyrismen und federnden Rhythmen bis zum Schluss, der die Turbulenzen des Beginns aufnimmt.

In der hochrangigen Besetzung findet sich auch der neue Primo ballerino der Scala Timofej Andrijashenko als Conrad, der schon mit seinem bravourösen Auftritt für Aufsehen sorgt. Seine Partnerin ist die junge Primaballerina Nicoletta Manni als Medora, in ihrer ersten Variation noch leicht nervös und auch nach ihrer Entführung durch den Sklaven Ali im Grand Pas de deux mit Conrad anfangs nicht ganz sicher, kann sie spätestens bei den virtuos gedrehten fouettés und Pirouetten ihre Klasse zeigen. Das einstige Glanzstück von Fonteyn und Nurejew wird hier in der ursprünglichen Version a trois classique mit Ali gezeigt und als dieser ist der junge Mattia Semperboni mit Modellkörper, exotischer Aura, Sprungkaskaden und raffiniert verlangsamten Drehungen eine  sensationelle Entdeckung. Da auch Andrijashenko mit stupenden grand jétés à la manège glänzt, erweist sich diese Nummer auch hier als Höhepunkt des Balletts. Ähnlich überwältigend ist der Eindruck, den Conrad und Medora im Pas de deux Grand Adagio hinterlassen. Zu diesem lyrischen Liebesbekenntnis lässt Spinatelli sogar die Sterne am Firmament erstrahlen.

Optisch reizvoll und tänzerisch grandios ist Martina Arduino als Sklavin Gulnare in ihrem Pas d’Esclave mit dem vitalen, sprungstarken Marco Agostino als Sklavenhändler Lankendem. Im 3. Akt im Palast des Pasha entzückt sie mit ihrer Koketterie, im Jardin animé mit Delikatesse. Als Conrads Freund Birbanto ergänzt Antonino Sutera die Besetzung mit virilem Aplomb.  Bernd Hoppe

Bei OPUS ARTE: Neues und Altes vom Royal Ballet. Einen neuen zweiteiligen Abend des Royal Ballet London von 2020 bringt OPUS ARTE auf einer Blu-ray Disc heraus (OABD7277D). Er enthält eine neue Arbeit von Cathy Marston mit dem Titel The Cellist auf Musik von Philip Feeney (nach Elgar, Beethoven, Fauré, Mendelssohn, Piatti, Rachmaninoff und Schubert). Inspiration für die Choreografin zu ihrem Ballett war die Persönlichkeit der legendären Cellistin Jacqueline du Pré – ihre Kunst, ihr Leben, ihre Krankheit. Mit Lauren Cuthbertson ist die Titelrolle ideal besetzt. Die renommierte Tänzerin der Company verkörpert gleichermaßen perfekt die Jugend und den frühen den Ruhm der Musikerin wie auch die später einsetzende Tragödie durch die unheilbare Krankheit.

In der Person des Tänzers Macelino Sambé personifiziert Marston das Instrument des Cellos. Der junge, virile Solist ist ein neuer Star des Ensembles und fiel erstmals 2017 in der Choreografie Flight Pattern auf. Er eröffnet mit stupender körperlicher Gewandtheit das Stück mit einem Solo, in welchem er mit dem Instrument geradezu verwachsen scheint. Die ersten Episoden zeigen die Kindheit der Titelheldin mit ihren Schwestern und der Mutter, sodann die erste Unterrichtsstunde und das erste Recital (als Tanzduette mit Sambé).

In der Besetzungsliste finden sich Kristen McNally als die Mutter, Thomas Whitehead (der Vater) und Anna Rose O’Sullivan (die Schwester der Cellistin). Gary Avis, Nicol Edmonds und Benjamin Ella geben die Cello-Lehrer. Der charismatische Matthew Ball verkörpert den Dirigenten. Nach einem Konzert kommt es zwischen ihm, der Cellistin und dem Instrument zu einem emotionsgeladenen Pas de trois. Bald darauf folgt die Hochzeit des Dirigenten mit der Instrumentalistin. Wenn sie die ersten Symptome der Krankheit spürt, ist es das Instrument, das ihr in einer berührenden Szene Trost zu spenden versucht. Auch ihr Mann will ihr zur Seite stehen, ebenso die Familie, und sie selbst rebelliert mit allen Kräften gegen die tückische Krankheit. Se wagt einen öffentlichen Auftritt, doch die Kraft versagt ihr. In einem erschütternden Duett mit dem Instrument spiegeln sich alle ihre Ängste und die Verzweiflung wider. Zuletzt sieht man sie gelähmt in einem Sessel sitzen – ein geheimnisvolles Lächeln umspielt ihre Züge…ochzeit

Die sparsam ausgestattete Bühne von Hildegard Bechtler zeigt zwei holzfurnierte, drehbare Wände und ein paar Stühle, die Kostüme von Bregje von Balen orientieren sich an der Mode der 1950er Jahre. Das Orchestra of the Royal Opera House spielt die vielschichtige Musik unter Andrea Molino sehr einfühlsam, wie auch Hetty Snell am Solo-Cello neben vitaler Energie eine große Sensibilität spüren lässt.

Zu Beginn der Aufführung gab es einen Klassiker von Jerome Robbins, Dances at a Gathering, 1969 vom New York City Ballet uraufgeführt, ein Jahr später erstmals in London gezeigt mit einer Starbesetzung (Nurejew, Seymour, Dowell, Sibley, Wall, Mason). Die musikalische Folie bildet Klaviermusik von Chopin, vom Solopianisten Robert Clark gleichermaßen brillant wie sensibel interpretiert.

Auf der leeren Bühne vor einem Himmelsprospekt sind erste Kräfte der Company im Einsatz. Alexander Campbell eröffnet das Stück mit einem melancholischen Solo zur Mazurka cis-Moll, op. 63, 3. Musik und Tanz bilden eine vollkommene Einheit – ein Fakt, welcher die gesamte Choreografie auszeichnet. Francesca Hayward und Willliam Bracewill folgen mit dem poetischen Walzer b-Moll op. 69,2, Marianela Nuñez und Federico Bonelli mit der träumerischen Mazurka es-Moll op. 6,4. Yasmine Naghdi, eröffnet die temperamentvolle Mazurka C-Dur op. 7,5 mit einem Solo, das Bonelli und Campbell ergänzen und später noch Fumi Kaneko, Valentino Zucchetti, Laura Morera und Nuñez zum Einsatz bringt. Im Wechsel von Soli, Duos und Ensembletänzen liegt ein großer Reiz dieser neoklassischen Arbeit. Alle zehn Solisten vereinen sich ernst und nachsinnend zum finalen Nocturne F-Dur op. 15,1. Bernd Hoppe

Bei Cmajor: Nurejews The Sleeping Beauty aus der Scala. Rudolf Nurejews Produktion von Tschaikowskys Ballett The Sleeping Beauty 1966 mit dem Ballett der Mailänder Scala war seine erste eigene Deutung dieses Klassikers. Später wurde sie auch beim Ballet de l’Opéra national de Paris gezeigt, was eine DVD-Aufnahme aus der Opéra Bastille  von 1999 belegt. Nun erschien bei Cmajor der Mitschnitt einer Neueinstudierung dieser Choreografie in Mailand von 2019 mit Polina Semionova und Timofej Andrijashenko (756008, 2 DVDs). Die Produktion zählt zu den Highlights des Repertoires und blieb beständig im Spielplan. Zuletzt wurde sie vor 12 Jahren gezeigt, 2002 gab es mit Diana Vishneva und Roberto Bolle eine illustre  Besetzung, gegen die sich die neuen Interpreten behaupten mussten.

Die russische Startänzerin ist auch regelmäßiger Gast beim Staatsballett Berlin, wo sie Partie in der Choreografie von Nacho Duato verkörperte. In Mailand stand sie vor einer weit größeren Herausforderung, denn Nurejews Choreografie (nach Petipa) zählt zu den anspruchsvollsten des gesamten klassischen Repertoires. Ihr Auftritt im 1. Akt beim 16. Geburtstag der Prinzessin Aurora zeigt ihre Klasse als Ausnahme-Ballerina, atmet die gebotene Jugend und Leichtfüßigkeit. Beim nachfolgenden gefürchteten Rosen-Adagio vermag sie die schwierigen Balancen zwar nicht sehr lange auszukosten, absolviert sie aber sicher. Die Variation und die Coda zelebriert sie in exquisiter Manier. Mit dem majestätischen Pas de deux am Ende krönt sie – gemeinsam mit ihrem Partner Timofej Andrijashenko, der für seine bravouröse Variation  gefeiert wird – eine Leistung, die zu den überzeugendsten ihrer bisherigen Karriere zählt.

Der Lette feierte bei seinem Debüt als Prinz Desiré einen großen Erfolg – ein Tänzer von vollendeter Eleganz und aristokratischer Aura. Das horrend schwierige Solo im 2. Akt (eine Erfindung Nurejews) zeigt ihn als romantischen Träumer, seine hohe Sensibilität und das bestechende technische Finish waren perfekte Voraussetzungen für die makellose Bewältigung dieser Variation, die in vielen Aufführungen gestrichen ist oder vereinfacht wird.

Im Prolog hatte die böse Fee Carabosse ihr spektakuläres Entree, wenn sie aus Zorn, zum Fest nicht eingeladen worden zu sein, die neugeborene Prinzessin verflucht, mit 16 Jahren an einem Stich in den Finger zu sterben. Die Partie ist hier nicht en travestie besetzt, sondern mit der furiosen Beatrice Carbone, die die Gefährlichkeit und Hinterhältigkeit der Figur trefflich vermittelt. Die Fliederfee (Emanuela Montanari edel und hoheitsvoll) vermag den Fluch zu entkräften – statt zu sterben, wird Aurora nur in einen tiefen Schlaf fallen, aus dem der Kuss eines Retters sie erwecken soll. Der brillante Pas de cinq und das glanzvolle Divertissement beim Hochzeitsfest bieten auch in dieser Aufführung tänzerische Vielfalt und hohes Können. Vor allem der federleicht getanzte Pas de deux des Blauen Vogels mit Prinzessin Florine (Claudio Covello und Vittoria Valerio) ragt wie zumeist heraus. Der Auftritt des Gestiefelten Katers (Federico Fresi) und der Weißen Katze (Antonella Albano) sorgt dagegen wie stets für Heiterkeit im Publikum. Das Corps de ballet der Scala (geleitet von Frédéric Olivieri) absolviert die höchst schwierigen Figuren und Formationen engagiert und souverän.

Überwältigend in ihrer Opulenz ist die Ausstattung von Oscar-Preisträgerin Franca Squarcapino – seit Jahren eine Säule an der Scala und Garantin für Pracht und Eleganz. Felix Korobov leitet das Orchester des Teatro alla Scala mit großem Einfühlungsvermögen in die vielfarbige Komposition Tschaikowskys. Nach dem Don Quixote aus der Scala von 2016 mit Osipova und Sarafanov hat Cmajor nun ein weiteres Juwel veröffentlicht, wofür der Firma Dank gebührt. Bernd Hoppe

Getanztes Wintermärchen: OPUS ARTE bringt als DVD eine Live-Produktion vom Scottish Ballet heraus, welche Hans Christian Andersens berühmtes Märchen Die Schneekönigin zur Vorlage hat (OA1329D). Auf Musik von Nikolai Rimsky-Korsakov choreografierte Christopher Hampson das Stück unter dem Titel The Snow Queen – A Glittering Winter Tale. Richard Honner stellte die Musik aus Orchestersuiten und Konzertfantasien des russischen Komponisten sowie Auszügen aus seiner Oper Schneeflöckchen zusammen. Mit dem Scottish Ballet Orchestra lässt sie Jean-Claude Picard voller Sinnlichkeit, Dramatik, Schwung und exotischem Raffinement ertönen.

Die Handlung kreist um zwei Schwestern – die Schneekönigin und  die Sommerprinzessin -, die in einem verzauberten Land aus Schnee und Eis leben, sowie das junge Paar Kai und Gerda. Unter dem Namen Lexi verlässt die Sommerprinzessin ihre Schwester, was deren Zorn hervorruft, und versucht sich auf Marktplätzen als Taschendiebin. Mit den Scherben ihres Zauberspiegels gelingt es der Schneekönigin, bei Kai eine totale Wesensveränderung zu bewirken. Alles Schöne sieht er nun als hässlich an und seine Gerda erkennt er nicht mehr. Sie aber sucht und findet ihn am Ende im Eispalast, wo die beiden Schwestern furios gegen einander kämpfen und untergehen. Der Zauber der Schneekönigin ist gebrochen und das junge Paar findet glücklich wieder zueinander.

Das märchenhafte Geschehen bietet viele bunte Schauplätze, für die Ausstatter Lez Brotherston phantasievolle Bilder erdachte: im Hintergrund eine Stadtlandschaft in Silhouettenwirkung, beleuchtet von pariserisch anmutenden Laternen, der Eispalast mit dem Zauberspiegel aus gefährlich spitzen Splittern, ein Marktplatz mit geschäftigem Treiben und einer wie von Schinkels Sternenhimmel illuminierten Varietébühne, der vom Mond beleuchtete Wohnwagen der Wahrsagerin, schließlich ein zauberischer Märchenwald.

Die Choreografie fußt auf klassischem Vokabular und ist mit ihren anspruchsvollen Soli und Pas de deux eine Herausforderung für die Compagnie. Sie stellt sich dieser mit großem Engagement und imponiert mit einem starken Auftritt. Glänzend sind die Solisten, allen voran Constance Devernay als Snow Queen im glitzerndem Gewand und kostbarem Diadem mit herrscherlicher Attitüde und eisiger Aura. Ähnlich überzeugend Kayla-Maree Tarantolo in der Doppelrolle der Summer Princess  und Lexi im Outfit eines Wildwest-Girls.  Anrührend und tänzerisch hochrangig ist das junge Liebespaar mit Bethany Kingsley-Farner als Gerda, die entschlossen und mutig um ihren Freund kämpft, und Andrew Peasgood als jungmännlich sympathischer Kai, der seine Wesensveränderung körperlich mit energiegeladenen Sprüngen und auch im mimischen Ausdruck sehr glaubhaft macht. Mit Gerda tanzt er einen innigen Pas de deux und mit der Snow Queen ein konfliktreiches und beeindruckend virtuoses Duo. Attraktive tänzerische Episoden gibt es auf dem Marktplatz mit Artisten (Madeline Squire/ Roseanna Leney), Clowns (Constant Vigier/Aarón Venegas), einem tätowierten Kraftprotz (Evan Loudon) und einer Ballerina (Alice Kawalek), angeführt von Bruno Micchiardi als bravourösem Ringmaster. Die sinnliche Wahrsagerin (Grace Horler) und ihr rassiger Ehemann Zac (Jerome Anthony Barnes) bieten temperamentvollen Tanz. Im Winterwald sieht man wirbelnde Schneeflocken (solistisch: Aisling Brangan/Grace Paulley) und sprungstarke Schneewölfe (Bruno Micchiardi/Thomas Edwards). Steht die Szene auf dem Marktplatz für ein Divertissement, bedient jene im Wald das traditionelle Weiße Bild des klassischen Balletts. Allen Mitwirkenden des Scottish Ballet gebührt Dank für diese hochrangige Produktion, welche auch eine Bereicherung in der Gattung der existierenden Handlungsballette darstellt. Bernd Hoppe

Bei OPUS ARTE: Ballett in naturalistischer Kulisse: Prokofjews Romeo and Juliet in der Choreografie von Kenneth MacMillan zählt zu den Repertoire-Pfeilern des Royal Ballet London. Am 9. Februar 1965 wurde es in Covent Garden uraufgeführt. Einige Jahre zuvor hatte der Choreograf auf Einladung des kanadischen Fernsehens die Balkonszene für Lynn Seymour und Christopher Gable geschaffen, die dann auch in seiner Kreation in London auftreten sollten. Doch die Direktion des Royal Ballet entschied, den Premierenabend an Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn zu geben, was umstritten war, denn Seymour und Gable hatten den Startänzern Jugend und Temperament voraus. Sie kamen aber dann in der zweiten  Vorstellung zum Einsatz, welche Zeugnis davon gab, wie MacMillan seine Version interpretiert haben wollte. In mehreren Dokumenten liegt sie auf DVD vor – mit Alessandra Ferri und Wayne Eagling von 1984, mit Tamara Rojo und Carlos Acosta von 2007, mit Lauren Cuthbertson und Federico Bonelli von 2012. Sie allen wurden in der atmosphärischen Ausstattung von Nicholas Georgiadis aufgezeichnet.

Nun erschien bei OPUS ARTE als Blu-ray Disc  (OABD7261D) ein Film von Michael Nunn und William Trevitt mit dem Titel Romeo and Juliet – Beyond Words, der MacMillans Choreografie verwendet und auch die Kostüme von Georgiadis, nicht aber dessen Szenerie. Statt auf einer Bühne spielt das Geschehen nun auf Straßen und Plätzen von Verona, in einer naturalistischen Kulisse also, die in den Korda Studios in Etyek nahe Budapest nachgebaut wurde. Sie wird garniert von gackernden Hühnern, bellenden Hunden und gurrenden Tauben sowie starkem Wind und heftigem Regenschauer. Für die Kunstform Tanz ist dies eine ungewohnte und befremdliche Form. Auch musste Prokofjews mehr als zweistündige Komposition auf eine Filmlänge von 90 Minuten gekürzt werden, was den Verlust von mehreren Gruppentänzen zur Folge hatte. Aber das Handlungsgerüst blieb erhalten, so dass das Geschehen jederzeit nachverfolgt werden kann. Die Tonaufnahmen fanden in den AIR Studios in Hampstead, London, mit dem Orchestra of the Royal Opera House unter Leitung von Koen Kessels statt.

In der Besetzung finden sich junge, hoffnungsvolle Tänzer der Londoner Compagnie. Marcelino Sambé als Mercutio ist sogar bereits einer ihrer Stars. Sein rasantes Solo auf dem Ball der Capulets mit wirbelnden Pirouetten ist ein tänzerischer Höhepunkt des Films. Auch Matthew Ball ist ein bekanntes Gesicht des Ensembles – sein Tybalt atmet die gebührend aggressive Gefährlichkeit. Schließlich Christopher Saunders – eine Institution der Compagnie – als seriöser und autoritärer Lord Capulet. Kirsten McNally – eine Königin vom Dienst auf der Londoner Bühne – hat als Lady Capulet ihren großen Auftritt am Leichnam von Tybalt, wo sie sich ihrem Schmerz in exaltierten Posen hingibt. Das Trio der Freunde komplettiert James Hay als attraktiver Benvolio, von gebührender Blässe ist Tomas Mocks Paris, zu jung die Amme von Romany Pajdak.

Bezaubernd ist das junge Paar von William Bracewell und Francesca Hayward. Sein Romeo imponiert durch jugendliche Vitalität, Übermut und Temperament. Hinreißend in der Vehemenz das Duell mit Tybalt, grandios die Balkonszene. Die federleichte Julia entzückt zu Beginn in ihrer kindlichen Verspieltheit, der Tanz wandelt sich  zunehmend zu reizender Anmut, bis sie in ihrem Konflikt zwischen Romeo und dem ungeliebten Paris zu berührender Gestaltung findet. Überwältigend die Fassungslosigkeit und das Leid am Leichnam von Romeo. Die beiden jungen Tänzer dürften dem Ideal des Choreografen mit Seymour/Gable sehr nahe kommen, was als das denkbar größte Kompliment zu verstehen ist. Bernd Hoppe

Bei BelAir: Tanzdokument aus dem Mikhailovsky Theatre: BelAir veröffentlicht eine Aufzeichnung von Minkus’ Ballett La Bayadère aus dem Mikhailovsky Theatre St. Petersburg –  dem neben dem Marijinski Theatre zweiten bedeutenden Opernhaus der russischen Metropole. Der spanische Choreograf Nacho Duato war vor seinem Engagement als Intendant des Berliner Staatsballetts in vergleichbarer Funktion an diesem Hause beschäftigt und übertrug einige seiner dortigen Produktionen (z. B. Dornröschen und Der Nussknacker) später auf die Berliner Compagnie. Sein Ballett über die indische Tempeltänzerin Nikiya, ihren Geliebten Solor und die Rivalin Gamzatti war allerdings in Berlin nicht zu sehen. Umso erfreulicher ist diese Veröffentlichung, die im November 2019 aufgezeichnet wurde und nun auf einer DVD erschien (BAC 182).

Duato stützt sich in seiner Arbeit auf die Originalchoreografie von Marius Petipa, verwendet die dreiaktige Fassung (wie Nurejew in Paris), welche mit dem Wiedersehen von Nikiya und Solor im Schattenreich endet. Allerdings ist es kein Happy End wie in Paris, sondern eine schmerzliche Abschiedsszene, wie sie auch das Bolshoi in Moskau zeigt, denn nach dem Wiedersehen muss Nikiya zurück in ihre Welt und Solor bleibt im Gram allein zurück. Einige pantomimische Szenen, wie den Auftritt von Solors Gefolgsleuten, hat Duato aufgewertet, wie seine Version überhaupt viel tänzerischer orientiert ist als die bekannten Deutungen. Die Ausstattung von Angelina Atlagic ist von klassischem Zuschnitt mit Tempeln, Landschaftsprospekten im Hintergrund, Sternenhimmel sowie prachtvollen, historisch orientierten Kostümen.

In der Titelrolle ist Angelina Vorontsova zu sehen, die mit ihrem blonden Haar und der Physiognomie ein wenig zu europäisch wirkt für die exotische Figur, aber tänzerisch stark beeindruckt. Schon in ihren Auftritt hat Duato zusätzliche Schwierigkeiten eingebaut, die sie mühelos bewältigt. Mit stupender Gewandtheit absolviert sie ihren Tanz auf der Verlobungsfeier, bei dem Duato leider den ekstatischen Schlussteil gestrichen hat. Von höchster Kunstfertigkeit ist ihr Auftritt im großen Pas de deux des Schattenreiches.

Auch die Rivalin Gamzatti (Andrea Lassáková) ist keine rassige Schönheit, sondern eher die kühle Blonde, doch von hoheitsvoller Allüre und tänzerisch gleichfalls ohne Makel. Ihre Variation und die Coda im 2. Akt stellen ihr das Zeugnis einer erstrangigen Ballerina aus.

Victor Lebedev ist der sprungstarke Solor, der in der Variation im 2. Akt einen bravourösen Auftritt hat. Im Pas de deux des 3. Aktes ist er Nikiya ein wunderbarer Partner, leider ist seine schwierige Serie von double tour en l’air gestrichen – der einzige Schwachpunkt dieser insgesamt grandiosen Aufführung.

Das Bronze Idol, das eigentlich erst im 4. Akt auftritt, wird in einer dreiaktigen Fassung schon bei der Verlobung von Gasmzatti und Solor im 2. Akt gezeigt. Nikita Tchetverikov zeigt es mit gebührend bizarrer Aura und hoher Virtuosität in den wirbelnden Pirouetten.

Der Hohe Brahmane (Sergey Strelkov) und der Radscha (Andrey Kasyanenko) sind keine pantomimischen Figuren wie üblich, sondern werden mit anspruchsvollen tänzerischen Aufgaben betraut. Das Corps de ballet beeindruckt im Schattenreich, wo Duato die Originalchoreografie übernommen hat,  mit hoher Präzision und magischer Wirkung. Neben den 24 Tänzerinnen imponieren die drei Solo-Schatten (Svetlana Bednenko, Andrea Lassáková, Yulia Lukyanenko) mit exquisiten Variationen.

Am Pult des Orchestra of the Mikhailovsky Theatre steht der Ballett erfahrene Pavel Sorokin, der die Aufführung mit großem Gespür für die Tänzer leitet. Bernd Hoppe

Vorweihnachtliche Freude mit Coppélia von OPUS ARTE. Léo Delibes’ Coppélia ist ein Klassiker beim Royal Ballet London. Die reizende Choreografie stammt von Ninette de Valois, die sich bei ihrer Arbeit auf die historischen Vorlagen von Lev Ivanov und Enrico Cecchetti stützte. Osbert Lancasters Ausstattung entfaltet den märchenhaften Zauber eines Bilderbuches, hält perfekt die Balance von Naivität und Raffinement. Der Himmel im Hintergrund zeigt Magritte-Wölkchen, die Häuser von Swanilda und Coppélius scheinen aus einer Spielzeugstadt zu stammen. Eine geheimnisvolle Welt offenbart das Kabinett des Puppenmachers mit dessen phantasievollen mechanischen Schöpfungen. Da sieht man spanische Zigeunerinnen, behelmte Kreuzritter, berockte Schotten, chinesische Pagoden – geradewegs aus dem Kleiderschrank fährt die Puppe Coppélia heraus. Die Kostüme sind von folkloristischen Motiven inspiriert – die Aufführung zu sehen ist eine Freude für Jung und Alt.

Die legendäre Tänzerin und spätere berühmte Lehrerin Ninette de Valois (1898 – 2001), langjährige Prinzipalin des Royal Ballet; Foto Bassano Ltd. 1920, Lizenz mw60847 non commercial/ National Portrait Gallery St Martin’s Place London WC2H OHE

In neuer Besetzung kehrte die Produktion ins Repertoire zurück und bezieht ihre Attraktivität aus der Mitwirkung von zwei PrincipalsMarianela Nuñez und Vadim Muntagirov. Der bei OPUS ARTE auf DVD (OA1316D) veröffentlichte Mitschnitt vom 29. 11. und 10. 12. 2019 gibt Zeugnis von der Frische, dem Charme und komödiantischen Witz der beiden beliebten Interpreten. Die Argentinierin hat mit der Swanilda nun eine weitere zentrale Rolle der Ballettliteratur für die Ewigkeit dokumentiert und verblüfft mit ihrem anhaltend jugendlichen Reiz und Temperament sowie der ungebrochenen technischen Perfektion. Ihr Auftritt als Coppélia macht jeder Olympia Konkurrenz, steigert sich von abgehackt automatisierten Bewegungen zu einem rasanten Wirbel à la Kitri. Während sie seit zwanzig Jahren in London den Rang einer Ausnahmetänzerin innehat und erfolgreich verteidigt, ist der Russe erst seit ein paar Jahren an der Spitze des Ensembles. Als Typ mag er nicht jedermanns Geschmack sein, aber unbestritten ist seine Virtuosität, die er als Albrecht, Solor und Siegfried bewiesen hat. Nun gibt er mit dem Franz eine Probe seines Könnens im heiteren Genre mit sympathischer, burschenhafter Ausstrahlung. Doch im ersten Pas de deux mit Swanilda fehlt es ihm auch nicht an Zugewandtheit und lyrischer Empfindung. Im finalen Hochzeits-Pas de deux finden er und Nuñez zu bezaubernder Innigkeit und bestechender Brillanz in den jeweiligen Variationen.

Köstlich Gary Avis, ein Veteran der Compagnie und in allen Charakterrollen von Rothbart über Drosselmeyer bis zum Grand Brahmane erfolgreich, als skurriler, kauziger Dr Coppélius. Mitternächtliche Romantik atmet der Auftritt von Claire Calvert als Aurora im 3. Akt. Die Freude über diese Veröffentlichung vollendet der Dirigent Barry  Wordsworth mit dem Orchestra of the Royal Opera House, bringt Delibes’ reizvolle Wirkung mit Csárdás, Mazurka, Bolero und Scottish Jig zu hinreißender Wirkung.  (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Bernd Hoppe

Bei Cmajor/UNITEL: Peer Gynt in neuer tänzerischer Gestalt. Schon seit 1998 ist Peer Gynt auf der Tanzbühne präsent, denn John Neumeier schuf auf Musik von Alfred Schnittke ein Tanzstück nach Ibsens Schauspiel. Ihm folgte 2008 der renommierte Schweizer Choreograf Heinz Spoerli mit einem Ballett für seine Zürcher Compagnie. Nun kommt der Rumäne Edward Clug mit einer Version für das Wiener Staatsballett. Sie ist ein effektvoller Mix aus Neoklassik und Ausdruckstanz. Im Dezember 2018 hat C-Major/UNITEL eine Aufführungsserie in der Wiener Staatsoper mitgeschnitten und jetzt auf Blu-ray Disc veröffentlicht (755904).

Wie Spoerli verwendet auch Clug Edvard Griegs Musik – neben der berühmten Suite op. 23 Ausschnitte aus den Lyrischen Stücken, dem Streichquartett Nr. 1, op. 27, der Holberg-Suite op. 40 und dem Klavierkonzert Nr. 1 in a-Moll, op. 16. Das Orchester der Wiener Staatsoper musiziert unter Leitung des bewährten Ballettdirigenten Simon Hewett. Shino Takizawa absolviert den Solopart des Konzertes mit lyrischer Melancholie im Adagio und spielerischer Bravour im Allegro moderato molto e marcato.

Die Bühne von Marko Japelj ist streng stilisiert, zeigt bei der Hochzeit von Ingrid (Ioanna Avraam herb und unglücklich) eine aus dem Dunkel heraus geleuchtete kreisrunde Tafel, im 2. Akt folkloristische Details, die auf den Schauplatz Marokko verweisen.

In die Geschichte um den nach Reichtum gierenden Peer, seine Mutter Ase, das Mädchen Solveig und die Beduinentochter Anitra, die er in Marokko kennenlernt, fügt der Choreograf eine zusätzliche Figur ein – den Tod, der Peer vor der Rache der Trolle rettet  und darüber hinaus für dessen Todessehnsucht steht. Eno Peci verkörpert diesen Part, der gleich zu Beginn der Handlung in einem Vorspiel mit Peer zu sehen ist – mit Elchgeweih, zwei Prothesen und stilisiertem Skelett (Kostüme: Leo Kulas) ist er gleichermaßen bizarr in seiner Ausstrahlung wie virtuos bei den hohen Sprüngen. Jakob Feyferlik ist der Titelheld in heutiger Kleidung, ein sympathischer, jugendlich-kraftvoller  Bursche, der bei Ingrids Hochzeit die Aufmerksamkeit von Solveig auf sich zieht.  gibt sie vital und sinnlich. Dennoch verbringt Peer die Hochzeitsnacht mit Ingrid, was beider leidenschaftlicher Tanz anzeigt. Aber er wird ihrer schnell überdrüssig. Ein mysteriöses Wesen, die Grüne (Nikisha Fogo), verspricht ihm, der nächste König der Trolle zu werden, was Peer wegen seiner Gier nach Reichtum akzeptiert. Monströse Fabelwesen wie aus einem Science-fiction-Film, die Trolle, werden ihm gefährlich, doch der Tod kommt zu Hilfe. Peer ist nun mit Solveig auf einer Alm in inniger Zuneigung vereint, während seine Mutter Ase (streng: Franziska Wallner-Hollinek) in ihrem Krankenbett stirbt.

Der 2. Akt spielt vier Jahre später und führt nach Marokko, wo der inzwischen reiche Peer sich in die Beduinentochter Anitra verliebt. Céline Janou Weder verkörpert sie geheimnisvoll und verführerisch in ihrer orientalischen Aura. Doch ihr Sinn steht einzig nach Besitz und er ist wieder einsam. Ein seltsamer Arzt, Doktor Begriffenfeldt (András Lukács), nimmt ihm mit in eine Irrenanstalt, wo er fast den Verstand verliert und zum König der skurrilen Insassen gekrönt wird. Die Szene markiert einen Höhepunkt der Choreografie.

Alt und gebrochen kehrt Peer in die Heimat zurück, wo er die mittlerweile erblindete Solveig wieder findet. Lange hat sie auf ihn gewartet, nun bleibt beiden nur das gemeinsame Ende. Feyferlik macht den Reifeprozess des Titelhelden bezwingend deutlich, sorgt im Finale noch für einen berührenden Auftritt, wenn die Erinnerungen an ihm vorüber ziehen. Bernd Hoppe

Bei OPUS ARTE: Neues vom Royal Ballet. Triple Bills haben Tradition beim Royal Ballet in London – entweder sind es drei Ballette von einem Choreografen (häufig Frederick Ashton) oder es werden an einem Abend Arbeiten von verschiedenen Schöpfern gezeigt. Letztere Variante kam im Oktober/November des vergangenen Jahres zum Einsatz, als im Royal Opera House Stücke von Kenneth MacMillan, Frederick Ashton und Rudolf Nurejev präsentiert wurden. OPUS ARTE hat diesen Abend, welcher der Vielseitigkeit des Ensembles ein glänzendes Zeugnis ausstellt, nun auf Blu-ray Disc herausgebracht (OABD 7272D).

Am Beginn steht MacMillans Concerto auf Schostakowitschs dreisätziges Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2, das er 1966 für das Ballett der Deutschen Oper Berlin als dessen neuer Direktor kreiert hatte. 1970 wurde es erstmals in Covent Garden gezeigt. In der minimalistischen Ausstattung von Jürgen Rose wirken keine Startänzer der Londoner Company, hier ist Ensemblegeist gefragt, der sich in dieser Aufführung überzeugend vermittelt. Im 1. Satz wechseln Soli, Duos, Trios und Gruppentänze in raschem Tempo. Im duftigen Mittelsatz zeigen Yasmine Naghdi und Ryoichi Hirano einen wunderbar lyrischen Pas de deux, dessen anmutige Choreografie zur träumerischen Musik ideal korrespondiert. Der 3. Satz setzt dann wieder auf Schnelligkeit und verlangt der Company hinsichtlich Synchronität, Dynamik und Perfektion alles ab. Den anspruchsvollen Klavierpart nimmt Kate Shipway wahr, Pavel Sorokin leitet das Orchestra of the Royal Opera House.

Im Mittelteil ist Ashtons Choreografie auf Edward Elgars Enigma Variations zu sehen. Sie zählt zur Gattung des narrative ballet und schildert in der stimmungsvollen Ausstattung von Julia Trevelyan Oman Szenen aus dem Leben des Komponisten Elgar (Christopher Saunders), seiner Gattin (Laura Morero) und guten Freunden (brillant Matthew Ball als Architekt Troyte). Sie ist voller brillanter Einfälle und Witz, nutzt auch Elemente des Slapstick.

Das Finale krönt ein Juwel der klassischen Tanzkunst mit der Musik von Alexander Glazunov – Petipas Raymonda Act III in der Version von Nurejev (nach Petipa). Den russischen Startänzer begleitete dieses Ballett viele Jahre. Während seiner Zeit im Leningrader Kirov Ballet tanzte er im spektakulären Männer-pas-de quatre, nach seiner Flucht in den Westen trat er in Tänzen aus dem 3. Akt auf, bis er schließlich das komplette Ballett für London und Paris arrangierte. Aber immer wieder – wie hier in London – wird der 3. Akt, welcher die Hochzeit der Titelheldin mit Jean de Brienne prachtvoll ausmalt, als Divertissement aus der Gesamthandlung herausgelöst. Es vereint auf geniale Weise den klassischen russischen Tanz in Vollendung mit Elementen der ungarischen Folklore. Davon zeugt schon der hinreißende Ungarische Tanz mit Itziar Mendizabal und Reece Clarke. Der folgende Grand pas ist eine Herausforderung für das Corps de ballet und lässt auch das Solopaar erstmals auftreten. Das Royal Ballet hat in Barry Kays prachtvoller Ausstattung mit Natalia Osipova einen Trumpf in der Besetzung aufzubieten – die russische Primaballerina, seit zehn Jahren Principal bei der Company, brilliert in der berühmten Variation Nr. 6 mit majestätischer Attitüde, Raffinement und mitreißendem Temperament. Ihr Partner ist Vadim Muntagirov als Jean de Brienne, der zuvor (Variation Nr. 5) mit einem Feuerwerk an Sprüngen begeistert. Im fordernden Pas de quatre setzen Luca Acri, Cesar Corrales, James Hay und Valentino Zucchetti weitere Glanzlichter. Das Finale vereint alle Mitwirkenden zu einem schwungvollen Ausklang, dem der Jubel des Publikums folgt. Bernd Hoppe

In Zürich: Das unsterbliche Liebespaar auf der Tanzbühne. Mit schöner Regelmäßigkeit dokumentiert das Label accentus music die Zürcher Ballettszene, wo Choreograf Christian Spuck immer wieder bemerkenswerte Produktionen herausbringt. Nach Tschaikowskys Nutcracker and Mouse King von 2018 widmet sich die neueste Veröffentlichung einem der berühmtesten Ballette überhaupt – Prokofjevs Romeo and Juliet. Die Aufnahme im Opernhaus Zürich erfolgte im Juni 2019 und ist nun auf DVD erhältlich (ACC20484). Legendäre Choreografen – Frederick Ashton, John Cranko, Leonid Lawrowski, Yuri Grigorovich, Kenneth MacMillan, John Neumeier – haben Shakespeares Tragödie in eine Tanzversion gegossen, nun reiht sich Spuck in diese illustre Reihe ein, nachdem bereits Ivan Liska, Mats Ek und Sébastien Lefrançois neuere Deutungen vorgelegt hatten.

Spucks Fassung ist seit 2012 im Repertoire des Ballett Zürich und wurde mehrfach erfolgreich auch bei Gastspielen im Ausland gezeigt. Sie fußt auf neoklassischem Vokabular, zeigt aber auch, vor allem in der Armarbeit, die typische Bewegungssprache des Choreografen. Die häufig zu sehende Theater-im Theater-Situation gibt es auch hier, wenn in Christian Schmidts Einheitsraum zu beiden Seiten die Tänzer sitzen und bald beginnen, die Geschichte in ihrer Darstellung  auszubreiten. Hinten wird der Raum von einer Bleiglasfensterfront begrenzt, oben von einem blattgoldenen Plafond eingefasst und von einem venezianischen Lüster geschmückt. Mobile schwarze Tische werden in unterschiedlicher Funktion eingesetzt – als Traualtar bei Friar Lawrence, als Liebeslager in Julias Schlafzimmer und als Totenbahre in der Gruft. Die Kostüme von Emma Ryott prägen eine raffinierte Mischung aus mondänen Renaissance-Roben und legerer zeitgenössischer Kleidung. In Reinhard Traubs Lichtdesign dominieren Blau-Töne.

Deutlich aufgewertet in Spucks Fassung sind die Rollen des Friar und der Nurse. Ersterer fungiert als Spielmacher, greift an entscheidenden Punkten in die Handlung ein und übernimmt auch Aktionen, die normalerweise anderen Personen zugeordnet sind – wie das Gebot des Herzogs von Verona, die Waffen zwischen den verfeindeten Geschlechtern ruhen zu lassen. Sonnenbrille und schwarzer Anzug geben Filipe Portugal einen leicht mafiosen Anstrich, wozu auch seine undurchsichtige Aura fern jeder altersweisen Güte beiträgt. Tänzerisch ist die Rolle anspruchsvoller als gewohnt, denn die Szene, in der er Julia zur Einnahme des Betäubungstrankes ermuntert, ist hier nicht pantomimisch, sondern als forderndes Tanzduett angelegt. Ein Kabinettstück liefert Elena Vostrotina – lange Zeit geschätzte Erste Solistin beim Semper Ballett – als Nurse. Haarknoten und Nickelbrille rücken sie in die Nähe einer Gouvernante, aber sie könnte durchaus auch Julias ältere Schwester sein. Köstlich ihr darstellerischer Witz, der watschelnde Gang und der hinreißende Auftritt beim Überbringen von Romeos Nachricht an Julia.

Katja Wünsche ist eine gestandene und seit Jahren gefeierte Tänzerin. Ihr Juliet ist also nicht mehr ganz jung (und die Close-ups sind in dieser Hinsicht nicht eben förderlich), aber doch vermag sie der Figur die gebotene Aura von Jugendlichkeit zu verleihen. Technisch ist sie wie stets ohne Tadel – leichtfüßig, federnd in den Sprüngen, sicher in den Pirouetten. In leuchtend rotem Kleid ist sie der Mittelpunkt auf dem Ball, in der ersten Verliebtheit von großem Ernst, als ahnte sie den tragischen Ausgang der Geschichte, in der Liebesszene am Ende des 1. Aktes von leidenschaftlicher Hingabe. Bewegend der Abschied von Romeo, wo der auf dem Boden liegende Lüster die aus den Fugen geratene Welt symbolisiert. Fast gewaltsam müssen die Liebenden vom Friar und der Nurse getrennt werden. Vehement gestaltet Wünsche Juliets Weigerung, Count Paris zu ehelichen, was eine geradezu gewaltsame Reaktion ihrer Eltern hervorruft. Die physischen Qualen bei der Einnahme des Trankes stellt sie beklemmend naturalistisch dar.

Eine Idealbesetzung für den Romeo ist mit William Moore aufgeboten, der mit sympathischer Natürlichkeit und jungmännlicher Schönheit besticht. Seine brillante Variation zu Ende des 1. Aktes weist ihn ebenso als exzellenten Ballerino aus wie die souveränen Hebefiguren in den Duos mit Juliet. Mit äußerster Entschlossenheit will er den Tod des Freundes Mercutio rächen, sein Fight mit Tybalt ist erfüllt von Atem beraubender Spannung. Moores beeindruckende Ausdrucksstärke spiegelt sich auch im erschütternden Finale wider, wenn er in unfassbarem Schmerz gegen das Schicksal zu rebellieren versucht.

Glänzende Tänzer auch in den weiteren Rollen. Jan Casier ist ein ungewöhnlicher Count Paris mit strengem Scheitel und Brille. Sein  neckisch-infantiles Gehabe streift zuweilen die Karikatur, später aber sieht man deutlich pathologische Züge, wenn er im Tanz mit Juliet nach deren vermeintlicher Einwilligung in die Ehe seinen Besitzanspruch mit geradezu brutaler Härte durchzusetzen versucht. Ein rassiger Tybalt von viriler Ausstrahlung ist Tigran Mkrtchyan, der seinen Hass auf Romeo gefährlich-aggressiv zeigt. Hinreißend in seinem Schalk und dem ausgelassenen Duktus Daniel Mulligan als Mercutio, zuverlässig komplettiert Christopher Parker als schelmischer Benvolio das Freundes-Tio.

Vielfältige Aufgaben hat die Company zu absolvieren. Das Ballett Zürich, verstärkt durch das Junior Ballett, zeigt sich in bester Verfassung – ob zu Beginn im lebhaften Morning dance, dem strengen Dance of the knights, dem ausgelassenen Volkstreiben unter Lampiongirlanden im 2. Akt oder den Karnevalsvergnügungen. Mit Michail Jurowski steht ein ausgewiesener Prokofjev-Kenner am Pult der Philharmonia Zürich, der die Musik mit der gebotenen Schärfe, aber auch der schwelgerischen Lyrik zum Klingen bringt. Anhaltender Jubel im Opernhaus Zürich nach dieser denkwürdigen Aufführung. Bernd Hoppe

Ballettmusik von Tcherepnin bei cpo: Flirrende Farben. Der russische Komponist Nikolai Tcherepnin (1873-1945) legte zunächst an der St. Petersburger Universität das juristische Staatsexamen ab (1895). Noch während des Studiums nahm er am Konservatorium Klavierunterricht und trat in die Orchesterklasse von Nikolai Rimski-Korsakow ein. Nach der Abschlussprüfung 1898 wurde Tcherepnin Chorleiter und später Dirigent am Marientheater; in den Folgejahren dirigierte er regelmäßig in St. Petersburg. Die Zusammenarbeit mit Sergei Djagilew führte zu Tcherepnins berühmtesten Werk, dem Ballett Pavillon d’Armide, das 1908 gefeierte Premiere am Marientheater hatte und mit dem die Geschichte der Ballets Russes begann. Djagilew regte die Komposition von Narcisse et Echo (nach Ovids Metamorphosen) an, das mit der Choreographie des berühmten Michail Fokin 1911 unter Leitung des Komponisten im Casino von Monte Carlo uraufgeführt wurde. Diese Ballettmusik hat cpo jetzt in einer Aufnahme der Bamberger Symphoniker unter dem polnischen Dirigenten Lukasz Borowicz herausgebracht. Diesem gelingt es mit den in allen Gruppen ausgezeichneten Symphonikern durch sein inspirierendes, im Einzelnen sehr differenzierendes Dirigat, die Partitur mit ihren impressionistischen, flirrenden Farben eindrucksvoll zum Klingen zu bringen. Dazu tragen auch an wenigen Stellen der klarstimmige Tenor Moon Yung Oh  und ein Vokalensemble mit einschmeichelnden Vokalisen bei. Die CD enthält außerdem das sinfonische Vorspiel zum Schauspiel La Princesse Lointaine, ein schwelgerisches in den 1890er-Jahren entstandenes Frühwerk des Komponisten (cpo 555 250-2) (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei  https://www.jpc.de/jpcng/classic/home).   Gerhard Eckels

Der Dirigent Lukacz Borowicz/ Justyna Mielniczuk qudrat _Rias Kammerchor

Bei OPUS ARTE: Britische Historie auf der Tanzbühne. Verdienstvoll ist die Veröffentlichung des in unseren Breiten  unbekannten Balletts Victoria von Cathy Marston, das OPUS ARTE im März des vergangenen Jahres in Londons Sadler’s Wells aufzeichnete und nun auf Blu-ray Disc herausbrachte (OABD72640). Es handelt sich um eine Produktion des Northern Ballet, das 1969 von dem kanadischen Tänzer Laverne Meyer gegründet wurde und seinen Standort in Leeds, West Yorkshire hat. Unter seinem derzeitigen Artistic Director David Nixon, auf dessen Anregung dieses Ballett entstand, tourt es durch ganz Großbritannien.

Die Choreografin entwarf mit ihrer Dramaturgin Uzma Hameed auch das Szenarium, welches die legendäre britische Queen Victoria auf die Tanzbühne bringt. Der Komponist Philip Feeney, der mit Marston schon das Ballett Jane Eyre für das Northern Ballet schuf, sorgte mit seiner cinematografischen Musik für eine stimmige Klangfolie.

Mit dem Tod der  Königin beginnt die Handlung, die Ausstatter Steffen Aarfing in einer zweistöckigen Bibliothek angesiedelt hat. Inmitten von Stapeln ihrer Tagebücher sieht sie ihrem Ende entgegen, vertraut die Schriften ihrer Tochter Beatrice an zum Zwecke der Veröffentlichung. Abigail Prudames gibt sie mit herrscherlicher Strenge und maskenhafter mimischer Starre. Sie zeigt die Regentin als junge Witwe von leidenschaftlich-kraftvoller Persönlichkeit. Dramaturgisches Prinzip der Inszenierung ist der ständige Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, was gelegentlich für Verwirrung sorgt. Zudem ist die Rolle der Beatrice gedoppelt: Pippa Moore, eine Säule der Company, der sie seit 23 Jahren angehört, gibt als Older Princess Beatrice ihren Abschied von der Tanzbühne und besticht noch einmal mit ihrer Ausdrucksstärke und bezwingenden Aura. Miki Akuta ist als Young Princess Beatrice gebührend lebhaft, aber auch bezaubernd.

Beatrice kannte ihre Mutter nur als Witwe in schwarzer Trauerkleidung. Deren schmerzliche Erinnerungen an ihren verstorbenen Gatten Albert sind ein Hauptpfeiler des Geschehens. Dennoch beginnt sie mit ihrem Diener John Brown (Mlindi Kulashe von faszinierend fremdartiger Ausstrahlung) ein Liebesverhältnis. Beider leidenschaftlicher Pas de deux zählt zu den inspiriertesten Momenten der Aufführung. Beatrice sieht die freizügige Szene beim Lesen im Geiste vor sich und tilgt diese Erinnerungen aus den Tagebüchern. Auch bei anderen Stellen fungiert sie als Zensorin, so als Victoria die Zustimmung zur Verbindung ihrer Tochter mit Prince Henry (hier Liko genannt, jugendlich-sportiv: Sean Bates) vehement verweigert. Der Pas de deux der Jungverliebten ist von inniger Zuneigung. Schließlich gibt de Queen ihre Einwilligung zur Hochzeit und reicht der Tochter ihren Brautschleier. Das Einverständnis ist freilich an Bedingungen geknüpft, was das Glück des jungen Paares trübt. Der frustrierte Liko meldet sich zum Militärdienst in Afrika, wo er fällt, was Beatrice gleichfalls zur Witwe im schwarzen Gewand werden lässt.

Zu Beginn des 2. Aktes öffnet Beatrice ein frühes Tagebuch der Mutter, was die Queen als junge Frau in Erinnerung ruft. Ihr Onkel Leopold und Prime Minister William Gladstone informieren sie, dass sie nun die Königin Großbritanniens ist. Leopolds Neffe Albert wird als Ehegatte auserkoren, Victoria bereitet sich auf die Krönungszeremonie vor. Zurück in der Gegenwart, ist Beatrice fasziniert, über die anfängliche Gleichgültigkeit der Mutter gegenüber ihrem Vater zu lesen, die dann einer leidenschaftlichen Zuwendung weichen sollte. Ein expressiver Pas de deux zeigt die erwachende Liebe von Victoria und Albert (charismatisch: Joseph Taylor), die folgende Hochzeitsnacht ist in ihrer unverstellten erotischen Ekstase der tänzerische Höhepunkt des Balletts. Beatrice entfernt auch diese Stellen mit spitzen Fingern beinahe angewidert aus den Schriften ihrer Mutter. Zu ausgedehnt sind dagegen die Passagen, welche Victorias Schwangerschaft und die Geburten der Kinder schildern. Nach Alberts Tod hat die Choreografin für die Titelheldin noch ein effektvolles Solo von expressivem Schmerz erdacht. Da Stück endet in der Gegenwart mit Beatrice, die ihren Frieden mit der Mutter gemacht hat.

Im Bonus der DVD sind die Choreografin und der Ausstatter in informativen Gesprächen zur Entstehung des Balletts zu sehen (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Bernd Hoppe

Neu bei OPUS ARTE: Osipova im Doppel. Auf jede Neuveröffentlichung des Royal Ballet London warten die Ballettomanen mit besonderer Spannung – im Falle von Minkus’ La Bayadère, die bereits in zwei Londoner Versionen auf DVD existiert, liegt das vor allem an der exzellenten neuen Besetzung (OABD7263D). Die argentinische Startänzerin Marianela Nuñez hatte 2009 die Gamzatti getanzt – die stolze Tochter des Rajah, die den berühmten Krieger Solor begehrt und ihre Rivalin, die Tempeltänzerin Nikiya, aus dem Wege räumt. In dieser Neuaufnahme (vom November 2018) gibt sie nun die Titelfigur und fügt damit ihrem reichen auf DVD dokumentierten Repertoire (Giselle, Kitri, Odette/Odile) eine weitere Glanzrolle hinzu. Ihre Tempeltänzerin ist vom ersten Auftritt an von majestätischer Erscheinung und sinnlich-exotischem Reiz. Das Solo beim Verlobungsfest von Solor und Gamzatti besticht durch mirakulöse Biegsamkeit, ergreift aber auch durch die Darstellung mit dem Schmerz, der aufkeimenden Hoffnung und schließlich dem tragischen Tod nach dem Schlangenbiss. Wunderbar ihre Erscheinung im Schattenreich als ätherisches Traumwesen. Der Pas de deux mit Solor ist ein Musterbeispiel der Hohen Schule klassischer Tanzkunst. Natalia Osipova, seit 2014 Principal beim Royal Ballet, gilt selbst als eine weltweit führende Interpretin dieser Figur, die sie natürlich auch in London tanzt, ist aber in dieser Aufzeichnung als Gamzatti zu erleben. Das sorgt für einen Wettstreit zweier Ausnahmeballerinen von hohem Reiz. Beider von Eifersucht und Rivalität um die Gunst Solors erfülltes Aufeinandertreffen ist von höchster Spannung. Osipova in kostbarer Gewandung ist eine stolze Schönheit mit gefährlicher Aura. Ihr Pas de deux mit Solor beim Fest atmet aristokratische Noblesse und ist darüber hinaus eine Demonstration technischer Perfektion mit stupenden Pirouetten und Fouettés. Zudem wird die Partie der Gamzatti durch den integrierten letzten Akt aufgewertet. Ihr ist hier ein Solo von höchster Schwierigkeit zugeordnet, das Osipova in bestechender Manier absolviert.

Die hochrangige Besetzung wird auch von Vadim Muntagirov als Solor getragen, der zwar in seiner Aura nicht unbedingt den heldischen Krieger verkörpert, tänzerisch aber seine Klasse bestätigt. Schon im ersten Pas de deux mit Nikiya zeigt er seine Liebe zu ihr mit starker Empathie und glänzt zudem mit technisch perfekten Sprüngen. Atem beraubend sind seine acht double tours en l’air im Schattenreich, was seit den Zeiten von Carlos Acosta kein anderer Tänzer so bewältigt hat. Das Erscheinen der Schatten in diesem Akt ist von magischer Wirkung. Mit makellos zelebrierten Figuren und Formationen demonstriert das Corps de ballet seine Sonderstellung in der internationalen Tanzwelt. Exquisit die drei Solo-Schatten von Yuhui Choe, Yasmine Naghdi und Akane Takade mit ihren individuellen Variationen. Gestandene Tänzer der Company wie Gary Avis als The High Brahmin, Thomas Whitehead als Rajah und Alexander Campbell mit einem spektakulären Solo als The Bronze Idol stehen gleichfalls für den hohen Standard des Ensembles.

Die Produktion fußt auf Natalia Makarovas Choreografie (nach Petipa), die 1980 in Florenz mit den opulenten Bühnenbildern von Pier Luigi Samaritani und den prachtvollen Kostümen von Yolanda Sonnabend zur Premiere kam und in London erstmals 1989 gezeigt wurde. Die Fassung bezieht auch den oft gestrichenen letzten Akt mit der Zerstörung des Tempels und der Vereinigung Nikiyas mit Solor als Apotheose ein. Im Booklet gibt es einige seltene Aufnahmen von Natalia Makarova als Nikiya aus dem Jahre 1980, was den Wert der Veröffentlichung noch erhöht. Die Londoner Neubesetzung hat sie selbst einstudiert, ist im Bonus auch bei den Proben zu sehen, erscheint am Ende der Aufführung auf der Bühne und wird gebührend umjubelt.

Natalia Osipova in „Flames of_Paris“ am Bolshoi Theater 2011/ Wikipedia

Eine passende und informative Ergänzung zu dieser DVD ist eine weitere Neuausgabe von OPUS ARTE, die unter dem Titel Force of Nature – Natalia ein Porträt der russischen Assoluta Natalia Osipova bringt (OABD7269D). Regisseur Gerry Fox zeigt Szenen aus der Kindheit der Tänzerin, die zunächst Turnerin werden wollte, mit seltenen Filmdokumenten aus dem Archiv ihrer Familie (so als Coppelia mit neun Jahren). Danach ist sie als Kitri und Odette/Odile am Bolshoi Ballett Moskau zu sehen, wo sie sieben Jahre engagiert war. Dann lud der Director des Royal Ballet Kevin O’Hare sie ein, in London als Odette/Odile zu gastieren, was zu einem festen Vertrag als Principal der Company führte. Ihr erste Rolle als festes Mitglied war die Giselle an der Seite von Carlos Acosta (bei OPUS ARTE als DVD dokumentiert). Inzwischen gehört sie sieben Jahre zum Ensemble und spricht in den Interviews und Probenausschnitten mittlerweile auch Englisch. Die neueste Rolle in ihrem Repertoire ist die Gamzatti in Natalia Makarovas Produktion. Mit der legendären Assoluta ist sie in Probenszenen sowohl als Nikiya als auch als Gamzatti zu sehen – in letzterer Partie auch in einem Ausschnitt aus der oben besprochenen Aufführung.

Besonderes Gewicht legte der Regisseur des Porträts auf Osipovas Einsatz für den zeitgenössischen Tanz. Sie selbst sagt, dass es für sie die größte Herausforderung und Befriedigung sei, eine Rolle in Zusammenarbeit mit dem Choreografen zu kreieren. Zu sehen sind Szenen aus Flutter von Iván Pérez mit Jonathan Goddard (beim Sadler’s Wells), Medusa von Sidi Larbi Cherkaoui (der dreiteilige Ballettabend wurde von OPUS ARTE veröffentlicht und auf diesen Seiten besprochen) sowie zwei Arbeiten von Arthur Pita: The Mother (aus Edinburgh) und Facada. Das letzte Stück, I’m Fine, ist eine gemeinsame Kreation von ihr und ihrem Tanz- und Lebenspartner Jason Kittelberger. Ihre bedingungslose Hingabe an dieses Genre ist in jeder der sechs Szenen spürbar und stets von überwältigender Wirkung. Bernd Hoppe

 

Nach der großartig gelungenen Einspielung der Urfassung von Schwanensee für Pentatone waren die Erwartungen hoch, was die Vollendung des Tschaikowski-Ballett-Zyklus des Staatlichen Akademischen Symphonieorchesters der Russischen Föderation „Jewgeni Swetlanow“ unter seinem Chefdirigenten Vladimir Jurowski anbelangt (Dornröschen erschien bereits 2017 bei ICA). Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Neueinspielung des Nussknackers (Pentatone PTC 5186 761) muss leider als die am wenigsten geglückte Aufnahme der Trias gelten. Dies hat sicherlich nichts damit zu tun, dass es dem Label tatsächlich gelang, die 86:25 Minuten auf eine einzige hybride SACD zu pressen, wobei der erste Akt knapp 46 Minuten und der zweite Akt die restlichen gut 40 Minuten ausmachen. Die etwas neutrale Akustik, die im Jänner 2019 im Großen Saal des Tschaikowski-Konservatoriums in Moskau eingefangen wurde, mag allerdings die gewisse Problematik, welche der Einspielung zugrunde liegt, noch besonders zutage fördern. Hat der Autor dieser Zeilen in der Schwanensee-Rezension noch den wiedergefundenen alten sowjetischen Klang dieses geschichtsträchtigen Orchesters lobend herausgestellt, muss man das dieses Mal doch mit Einschränkungen verbinden. Hie und da blitzt zwar etwas vom einstigen Klangideal Swetlanows auf, doch im Großen und Ganzen könnte es sich auch um eine westliche Darbietung handeln. Ob man dem Klangkörper dafür die Schuld geben kann, sei mal dahingestellt; nach der superben Darbietung im Schwanensee wird man dies eher verneinen können.

Vermutlich liegt es dann doch vielmehr im ziemlich hemdsärmligen Zugriff, den der ansonsten hochgeschätzte Jurowski an den Tag legt. Eine rechte Begeisterung will sich einfach nicht einstellen. Zwar ist alles (natürlich) tadellos dargeboten, doch fehlt die innere Anteilnahme, die bei dieser Musik so essentielle Innigkeit. Ein Mehr davon wäre wünschenswert gewesen. Das fällt freilich insbesondere an hochemotionalen Stellen auf, so im hyperromantischen Pas de deux, eigentlich ein astreiner Selbstläufer, der hier wie gezähmt herüberkommt. An die alte Gesamtaufnahme unter dem Namensgeber des Orchesters mit ihrem traumhaft schönen Streicherteppich und ihren wild herausfahrenden, fanfarenartigen Blechbläsern darf man dabei jedenfalls nicht zurückdenken. Das ist merkwürdig, da sich die Tempi bei Swetlanow und Jurowski meist gar nicht so stark voneinander unterschieden und zuweilen bis auf die Sekunde identisch sind. Die weltberühmten Tänze des zweiten Aktes plätschern wie nette Hintergrundmusik, die niemandem wehtut, dahin. Wieviel man etwa aus dem Arabischen Tanz und dem russischen Trepak herausholen kann, zeigt exemplarisch wiederum Swetlanow. Das Verträumte des Tanzes der Zuckerfee fehlt bei Jurowski beispielsweise auch komplett; es klingt zu nüchtern-sachlich. Am besten gelingt noch der Blumenwalzer. Pathetisch gesagt, fehlt der Neuaufnahme die vielzitierte russische Seele. So reiht sie sich ein bei den vielen sehr ordentlichen, aber irgendwie nicht wirklich herausragenden Einspielungen, die man nicht unbedingt besitzen muss. Das kann auch das gut aufbereitete Booklet nicht nachhaltig ändern. Daniel Hauser

Neues vom Royal Ballett: Ihre Serie mit Aufzeichnungen des Royal Ballet aus Londons Covent Garden erweitert OPUS ARTE mit einem dreiteiligen Abend, der im Mai 2019 aufgenommen wurde und das Bemühen der Company um die Pflege des zeitgenössischen Tanzes eindrucksvoll widerspiegelt (OA1300D). Arbeiten von drei renommierten Choreografen sind hier versammelt. Den Beginn des Programms markiert Within the Golden Hour von Christopher Wheeldon, der dem Royal Ballet als Artistic Associate seit Jahren eng verbunden ist. Vor allem seine Handlungsballette Alice’s Adventures in Wonderland von 2011, das auch beim Bayerischen Staatsballett im Repertoire zu finden ist, und The Winter’s Tale (nach Shakespeare) von 2014, das in dieser Saison beim Hamburger Ballet gezeigt wird, waren große Würfe. Das Royal Ballet präsentiert sein früheres ballet blanc auf Musik für Streichorchester von Ezio Bosso und Antonio Vivaldi, welches 2008 für das San  Francisco Ballet aus Anlass dessen 75jährigen Bestehens entstand. Der Choreograf bewegt sich hier ganz in neoklassischen Bahnen in der Nachfolge von Frederick Ashton, George Balanchine and Jerome Robbins. Er zeigt Episoden für sieben Paare in eleganten Trikots mit Jugendstil-Ornamentik (Jasper Conran), darunter vier Pas de deux, die zu den emotionalen und tänzerischen Höhepunkten des Stückes zählen. In ihnen finden sich Anklänge an Charleston, Walzer und Tango. Unter den 14 Interpreten sind Principals wie Sarah Lamb und Vadim Muntagirov.

Der Mittelteil bringt eine Kreation von Sidi Larbi Cherkaoui – Medusa – mit elektronischer Musik der Polin Olga Wojciechowska sowie live gesungenen Songs von Henry Purcell. Als Solisten wirken die Sopranistin Alish Tynan und der renommierte britische Countertenor Tim Mead mit. Der Choreograf schuf sein Ballett – das erste für die Company – eigens für die Ausnahmeballerina Natalia Osipova, für die er eine zentrale Rolle außerhalb ihres normalen Repertoires und von extremem Charakter kreieren wollte. In der Geschichte der Tempelpriesterin Medusa, die von Poseidon geraubt und missbraucht wird, was den Zorn der Tempelgöttin Athene hervorruft, der sich statt gegen den Täter gegen das Opfer richtet, fand er die geeignete Vorlage.

Natalia Osipova folgt mit dieser Figur im Ausnahmezustand ihrer exzeptionellen Anastasia in MacMillans gleichnamigem Ballett. Zu Beginn in weißem Gewand als Priesterin verströmt sie Liebreiz und Eleganz mit wunderbarer Armarbeit, während sich Olivia Cowley als Athene in herrscherlicher Allüre ergeht. Dem jugendlichen Soldaten Perseus, dem Medusa ihr Schwert als Glückssymbol für die Kämpfe auf dem Schlachtfeld gibt, verleiht Matthew Ball sympathisches Profil, während Ryoichi Hirano den halbnackten Poseidon mit exotisch-gefährlicher Aura zeichnet. Dem gewaltsamen Missbrauch Medusas durch den Meeresgott folgt die nicht weniger grausame Bestrafung des Opfers durch Athene. Sie verwandelt Medusa in das Monster mit dem Schlangenhaupt. Am ganzen Körper zuckend und mit flatternden Armen ist sie psychisch ein Wrack, doch dazu verurteilt, jedes Wesen, das sie ansieht, in Stein zu verwandeln. Zum „Cold Song“ aus King Arthur wird das beklemmend gezeigt. Perseus gelingt es, ihrem tödlichen Blick zu entgehen und sie zu erwürgen. Vielleicht wünschte sie auch selbst ihren Tod von seiner Hand. Beider spannender Pas de deux ist ein gefährlicher Zweikampf auf Augenhöhe, tänzerisch geradezu artistisch umgesetzt. Am Ende ist Medeas Seele erlöst und frei. Zu „O let me weep“ aus The Fairy Queen dreht sich Osipova in einem tranceartigen Abgesang von archaischer Dimension.

Beklemmend beginnt auch das letzte Stück – Flight Pattern der kanadischen Choreografin Crystal Pite von 2017 – mit einem Zug von Flüchtlingen in dunkler Einheitskleidung (Nancy Bryant). Henryk Goréckis Sinfonie der Klagelieder (mit der Sopranistin Francesca Chiejina) in ihrem Bezug zum Holocaust unterstreicht das düstere Geschehen. Eng zusammengepfercht agieren die 36 Tänzer, aus denen sich ein Paar absetzt und mit einem ernsten Pas de deux berührt. Es sind Kristen McNally und der athletische Marcelino Sambé, ein neuer männlicher Star der Company. Am Ende legen die Tänzer ihre dunkle Kleidung ab und vereinen sich, in helles Licht getaucht, zu einer Gemeinschaft voller Hoffnung und Zuversicht. Allein zurück bleibt das Solopaar mit traumatischen Erinnerungen an die düstere Vergangenheit.

The Orchestra of the Royal Opera House unter den beiden Dirigenten Andrew Griffiths und Jonathan Lo erweist sich als kompetent in den verschiedenen Stilrichtungen. Bernd Hoppe

Getanzte Weltliteratur bei BelAir: In der aufreizenden Pose eines Mädchens wie auf einem Balthus-Gemälde sitzt Hedda Gabler im Ohrensessel ­– es ist das Cover der Neuausgabe des gleichnamigen Ballettes bei BelAir (Bluray BAC567).  Das auf Henrik Ibsens Schauspiel basierende Tanzstück hat die norwegische Choreografin Marit Moum Aune in einer Mischung aus Neoklassik und Ausdruckstanz beim Norwegian National Ballet herausgebracht. Nach Ibsens Geistern ist es ihre zweite Auseinandersetzung mit einem Werk des norwegischen Dichters. Die Musik dazu schuf Nils Petter Molvaer. Es sind oft monoton klopfende, pochende Geräusche, dann wieder sphärische, rätselhafte Klänge. Im Oktober 2017 wurde die Aufführung im Opernhaus von Oslo aufgezeichnet. In der surrealen Ausstattung von Even Borsum hängen Möbel in der Luft, erscheinen Figuren im Frack mit Fischköpfen (Kostüme: Ingrid Nylander).

Während Ibsens Stück mit der Rückkehr Heddas und ihres Mannes Jorgen Tesman (Philip Currell) von einer Hochzeitsreise beginnt, lässt Marit Moum Aune das Ballett mit einer Erinnerung an Hedda als Kind (Erle Ostraat) mit ihrem Vater, General Gabler (Kristian  Alm), einsetzen. Man sieht ein verwöhntes, selbstbewusstes Geschöpf im Reitkostüm mit Zylinder. Dann folgt ein Zeitsprung mit der Ankunft von Eilert Lovberg (Silas Henriksen), einem früheren Verehrer Heddas, in der Stadt. Zwischen ihnen besteht noch immer eine starke erotische Anziehung, was beider Körper betonter, fast aggressiver Tanz sehr eindrücklich darstellt. Die folgende Szene mit der nackten Hedda und ihrem Mann, der sich nur seinen Bücherstapeln widmet und von ihr keinerlei Notiz nimmt, ist ein ernüchternder Einblick in die Beziehung des Paares. Zudem hat er offenbar ein Verhältnis mit seiner Tante Julie (Samantha Lynch), bei der er aufgewachsen ist. Trotz der tiefen Kluft zwischen den Eheleuten ist Hedda schwanger, was sie Assessor Brack (Shane Urton), einem Freund der Familie, anvertraut. Lovberg stellt für Heddas Mann, der auf ein Professorenamt an der Universität hofft, einen Konkurrenten dar. Denn er ist ein begabter, doch alkoholabhängiger Bohemien, der von Thea Elvsted (Eugenie Skilnand) geliebt wird, die für ihn ihren Mann verlassen und mit ihm zwei Buchmanuskripte geschrieben  hat. Eine gespenstische Atmosphäre stellt sich bei einer Party im Hause von Brack ein, wo schwarze, verschleierte Gestalten unter Anführung der Tante wie Todesboten erscheinen. Lovberg verliert das Manuskript seines neuen Buches. Tesman findet es und vertraut es seiner Frau an. Sie aber verbrennt es und händigt Lovberg eine Pistole aus, aus der sich zufällig ein Schuss löst und zu seinem Tode führt. Brack nutzt sein Wissen, von wem die Waffe stammt, Hedda zu seiner Geliebten zu machen. Grete Sofie Borud Nybakken in der Titelrolle ist ein Ereignis. Sie verdeutlicht alle Facetten der Figur bezwingend, ist lasziv, launisch, mondän, herrschsüchtig, trotzig, wild, verzweifelt und am Ende eine Gebrochene, die sich den tödlichen Schuss aus der Pistole gibt. Bernd Hoppe

Bei hm: Königliche Freuden in luxuriöser Präsentation. Eine Deluxe-Edition mit drei CDs und einer DVD offeriert harmonia mundi unter dem Titel Ballet Royal de la Nuit (902603.06). Zu Beginn des Jahres 1653 war dieses an sieben Abenden im Louvre zur Aufführung gekommen – unter Mitwirkung des 15jährigen Ludwig XIV., der bei dem Unternehmen als Tänzer auftrat. Das Libretto von Isaac de Benserade besteht aus vier „Veilles“ (Nachtwachen) von jeweils drei Stunden Dauer und einem großen Ballett als Finale mit der Absicht, den Sonnenaufgang in aller Pracht zu inszenieren. Darsteller, Handlung und Ausstattung spiegeln die phantastische Welt des 17. Jahrhunderts wider. In den Versen findet man ernste und komische Elemente sowie Bezüge zur Mythologie. Götter, Koketten, Räuber, Soldaten, Jäger und andere Figuren treten auf, was eine abwechslungsreiche Handlung garantiert. Sie beginnt mit dem Alltag von Dorfbewohnern, bis mit dem Einbruch der Dämmerung die bizarre Welt des „Bauchs von Paris“ erwacht. Dann folgen Vergnügungen und ein Ball unter der Ägide der Venus. Die Mondgöttin steigt herab, um ihren Geliebten Endymion zu treffen. Zu einem Hexensabbat finden sich Ungeheuer aller Art ein. In der letzten „Veille“ werden die Zuschauer in das Reich der Träume entführt. Nach ihrem Erwachen erscheint Aurora auf dem Wagen, um das wundersame Erscheinen des Lichts anzukündigen, das nichts anderes symbolisiert als den jungen Ludwig selbst. Er ist die Sonne, die über die Welt herrscht, was das große Schlussballett preist.

Die DVD zeigt das in einer bizarren Realisierung von Francesca Lattuada (Regie/ Ausstattung/ Choreografie). Die Kostüme sind von überbordender Phantasie, verfremden den barocken Stil mit asiatischen Elementen und heutiger Mode. Einige Figuren stelzen auf Kothurnen in weißen Anzügen, die mit Reptilien-Zacken besetzt sind. Surreale Erscheinungen wie ein Mond-Kaninchen und Personen en travestie sorgen für eine wundersame Szenerie. Männliche Tänzer mit nacktem Oberkörper und monströsen schwarzen Reifröcken sind die Grazien, welche den Auftritt der Vénus in der Seconde Veille begleiten. Caroline Dangin-Bardot erscheint im weißen plissierten Kleid und lässt einen strengen Sopran hören. Von Herren in Nadelstreifen-Anzügen wird Thétis bei ihrer Hochzeit akrobatisch balanciert, ihr weißes Kleid mit Stoffrosen geschmückt und sie schließlich wie eine Tote davongetragen. Die folgende Folia-Szene zeigt Akrobaten, die Körperpyramiden bauen, und einen Jongleur, der virtuos mit einer Feuerschlange hantiert. Die Troisième Veille schildert den verliebten Herkules (Renaud Bres mit resonantem Bass im bunten Anzug) und seine eifersüchtige, erzürnte Gattin Dejanira (Dagmar Saskova mit bohrendem Sopran in pompöser barocker Robe) sowie die Astrologen Ptolémée und Zoroastre, die aus Leuchtstäben Sternbilder zusammenfügen. Wieder erscheint Venus, diesmal im leuchtend roten Kleid, in Begleitung ihrer Grazien, um sich mit Herkules im Duett zu vereinen. In rasendem Zorn sieht man Juno in silbernem Paillettenkleid, das zur Hälfe von einer Rüstung bedeckt ist. Caroline Meng lässt einen besonders farbigen und interessant timbrierten Sopran hören. Ihr Furor setzt den Hexensabbat in Gang, der Missgeburten und Fabelwesen aller Art auftauchen lässt. Das Orchester begleitet diese Szene mit überwältigender Klangkulisse. Muntere, helle Soprantöne bringt Marie-Frédérique Girod als Pasithea, Hüterin des Schlafes, ein. Von ihr erbittet Juno,  den Gott des Schlafes mitnehmen zu dürfen. Davon erzählt die Quatrième Veille mit Träumen aller Art, welche die vier Temperamente ausdrücken. Und hier treten auch Orphée und Euridice mit ihrer sattsam bekannten Geschichte auf. Euridices Tod deklamiert Caroline Weynants eindringlich in der Art eines monteverdischen Lamento. Den Apollo im weißen Anzug singt der Countertenor Stephen Colardelle mit klagendem Ton. Danach kündigen sechs Schmiede den Anbruch des Tages an. Aurora (Davy Cornillot mit klangvollem Tenor) eröffnet den Sonnenaufgang. Alle vereinen sich zum Grand Ballet mit dem Titel Le Soleil, in welchem festlich-pompöse Klänge zu hören und artistische Kunststücke zu sehen sind. In goldener Rüstung mit Umhang und Strahlenkranz erscheint der König als krönender Höhepunkt des Spektakels. Alle preisen die Macht der Liebe.

Die Aufführung entstand 2017 für das Théatre de Caen und wird geleitet von Sébastien Daucé, der das Ensemble Correspondances mit stilsicherer Hand dirigiert und für ein reiches Spektrum an Farben und dynamischen Kontrasten sorgt. Der Abend ist lang, doch ein Fest für Augen und Ohren, wovon der enthusiastische Applaus des Publikums kündet.

Prachtvoll ausgestattet ist das umfangreiche Begleitbuch mit Einführungstexten in drei Sprachen (auch in Deutsch!) und zahlreichen Abbildungen. Bernd Hoppe

Deutsch-Russisches von 1710

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Aus welchen Gründen die 1710 komponierte Oper Boris Goudenow oder Der durch Verschlagenheit erlangte Thron von Johann Mattheson in der Hamburger Oper am Gänsemarkt nicht aufgeführt wurde, ist ungeklärt. Gemutmaßt wird, dass der Komponist das Werk zurückgezogen habe oder dass die Aufführungsbedingungen im Opernhaus unzulänglich gewesen seien. So kam es erst am 29. Januar 2005 im Bucerius Kunst Forum Hamburg zur Uraufführung, von der ein Mitschnitt bei der Edition Musik Landschaften Hamburg auf drei CDs vorliegt. Rudolf Kelber leitete das auf historischen Instrumenten musizierende Cythara-Ensemble.

Jetzt bringt cpo eine Neuaufnahme des in Deutsch und Italienisch komponierten Werkes auf zwei CDs heraus (555 502-2), bei der ebenfalls ein historisch orientierter Klangkörper musiziert – das 2012 gegründete Jugendorchester THERESIA unter Andrea Marchiol. In der Ouvertüre und mehreren Instrumentalteilen  – Entrées, Sinfonie (von Reinhard Keiser), Bourrée (von Georg Philipp Telemann),  Menuett, Passepied –  zeigt er sein Gespür für den delikaten und spritzigen Stil der Musik Die Besetzung weist keine bekannten Sängernamen auf, ist aber von solider Qualität. Angeführt wird sie von dem Bassisten Olivier Gourdy in der Titelpartie. Seine  Auftrittsarie „Empor!“ stattet er mit energischem Aplomb aus und erweist sich auch als souverän in der Bewältigung der Koloraturläufe. Das zeichnet auch sein letztes Solo im 3. Akt, „Mi prepara il Ciel contento“, aus. Julie Goussot gibt seine Tochter Axinia mit gefälligem, leichtem Sopran. In der Aria „Son più dolci“ im 3. Akt gewinnt er noch an lyrischer Substanz. Auch Theodorus Iwanowitz, Großfürst von Moskau, ist eine Basspartie und Yevhen Rakhmanin singt sie mit profunder Stimme von weichem Klang. Davon profitiert auch die gewichtige Aria „Wer vergnüget herrschen will“ im 2. Akt.

Seine Gemahlin Irina ist die Sopranistin Flore Van Meerssche, der mit der Aria col Coro, „Hochbeglückte Zeiten“,  das erste Solo des Werkes zufällt. Sie singt es mit heller Stimme und intensivem Vortrag. Auch ihre wiegende Aria „Der Neigung widerspricht“ im 1. und die Aria „Per seguire vano piacere“ im 2. Akt überzeugen in Tongebung und Musikalität.

Den in Irina verliebten Bojaren Fedro singt Sreten Manojlovic mit etwas verquollen klingendem Bass. In der munteren Aria „Ein heimliches Hoffen“ am Ende des 1. Aktes hinterlässt er einen günstigeren Eindruck.

Die Besetzung wird komplettiert von der Mezzosopranistin Alice Lackner als russische Fürstin Olga sowie den Tenören Eric Price als Prinz Josennah und Joan Folqué als Prinz Gavurst. Sie vereinen ihre Stimmen harmonisch in zwei Arias à 3Wer die geliebten Augen siehet“ und „O Glücke, wer dir folgt“.  Die Sängerin kann zudem in ihrer empfindsamen Aria „Vorrei scordami“ und der Arietta im 3. Akt, „Wer Liebe recht ansieht“, gefallen und der Tenor Folqué in der stürmischen Aria „Will sich die Liebe rächen“ energisch auftrumpfen. Und alle Mitwirkenden singen gemeinsam die finale Ciacona „Auf Bestand muss Liebe sich gründen“, mit der das Werk feierlich endet, denn Boris wird zum neuen Zaren gekrönt. Bernd Hoppe

Gebührende Wiederentdeckung

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„Was Strauß einst war für Wien – ist Lincke für Berlin!“ Anlässlich des 75. Geburtstages des Berliner Komponisten Paul Lincke im Jahre 1941 dichtete der Komiker Franz Heigl diese zutreffenden Zeilen. Endlich scheint sich diese alte Erkenntnis auch in der Schallplattenindustrie nach Jahrzehnte langem Dornröschenschlaf neuerlich durchzusetzen. Das umtriebige Label cpo bringt früher als erwartet Vol. 2 der Ouvertüren Linckes (cpo 555 448-2). Wie in Vol. 1 sind neun Stücke enthalten und selbst die Gesamtspielzeit ist mit 66 Minuten identisch.

Auch wenn Lincke als Schöpfer der Berliner Operette das Gegenstück zu Johann Strauss Sohn darstellt, so waren seine eigentlichen Vorbilder eigentlich Jacques Offenbach, Franz von Suppè und Carl Millöcker, was sich anhand der Instrumentation nachweisen lässt.

Chronologisch den Anfang macht mit Sinnbild (1898) einer von Linckes wenigen klassischen Konzertwalzern. Dieser entstand während seiner Pariser Zeit. Den eigentlichen Durchbruch feierte der Komponist nach seiner Rückkehr nach Berlin mit der Operette Frau Luna (1899), deren relativ kompakte Ouvertüre die Einleitung zu dieser Neuerscheinung darstellt. Die Operette, die am Apollo-Theater zum größten Erfolg geriet, soll übrigens demnächst komplett bei cpo erscheinen. Noch aus demselben Jahr 1899 stammt auch die eingängige Ouvertüre zu Im Reiche des Indra, exotisch in Indien verortet. Schon in dieser Orchesterintroduktion wird die berühmte Melodie von Wenn auch die Jahre enteilen zitiert, einst im Repertoire jedes bedeutenden Operettensängers. Mit Nakiris Hochzeit (1902) geht es sodann nach Thailand. Die schon in Vol. 1 enthaltene Siamesische Wachtparade entstammt derselben Operette und wurde zum Gassenhauer.

Die ganz große Zeit der Lincke-Einakter war bereits 1906 vorüber, als er mit Das blaue Bild eine sogenannte Fantasie in einem Akt präsentierte. Deren französisch angehauchte Ouvertüre erschien allerdings erst 1911 einzeln. Aus dieser Zeit stammt auch der eindrucksvolle Brandbrief-Galopp. Doch gelang es dem einfallsreichen Lincke, sich schon 1908 neu zu erfinden mittels seiner legendär gewordenen Jahresrevuen am Metropoltheater.

Nach ein paar insgesamt vergeblichen Versuchen, in den letzten Friedensjahren vor dem Ersten Weltkrieg mit großen dreiaktigen Operetten nach Wiener Vorbild zu punkten, gab Lincke 1917 die Komposition für die Bühne zunächst gänzlich auf. Es folgten Ouvertüren nach dem bewährten alten Muster, nun allerdings völlig losgelöst von einem Bühnenstück. Die Ouvertüre zu einer Revue (1928) stellt mustergültig diesen neuen Typus dar, der stilistisch indes aus der Zeit gefallen war und den Entwicklungen der jungen Weimarer Republik nicht Rechnung trug. Insofern war die Wiederentdeckung Linckes nach 1933 nicht zufällig, passte sein modernen Tendenzen fremder Ansatz doch zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. Mit der Ouvertüre zu einer Festlichkeit komponierte er 1933 gar seine herausragendste und ausgedehnteste Ouvertüre überhaupt, die er indes erst im Zuge seines groß begangenen 70. Geburtstages drei Jahre später in Druck geben ließ.

Frau Luna feierte in einem abendfüllenden Neuarrangement nicht mehr für möglich gehaltene Erfolge und wurde gar von Theo Lingen mit Lizzi Waldmüller verfilmt. Nach viel gutem Zureden schuf Lincke mit Ein Liebestraum dann 1940 nach jahrzehntelanger Pause seine letzte Operette, die er im Nürnberg der Meistersinger des 15. Jahrhunderts ansiedelte. Die ihr vorangestellte Ouvertüre stellte insofern auch den Schlusspunkt in Linckes sinfonischem Schaffen dar.

Die Einspielungen entstanden zwischen 10. und 16. Dezember 2020 in der Messehalle 1 in Frankfurt (Oder) und lassen klanglich keine Wünsche offen. Die Textbeilage (auf Deutsch und Englisch) ist rundum geglückt. Eine in jeder Hinsicht vorbildliche Neuerscheinung. Daniel Hauser

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Wenn sich das traditionelle Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker in der Waldbühne seinem Ende zuneigt, erklingt ebenso geläufig mit Berliner Luft die altüberlieferte Zugabe, die weit über Berlin hinaus, wo sie gar als inoffizielle Hymne der Hauptstadt gilt, Berühmtheit besitzt, deren Komponist aber mittlerweile selbst vielen Berlinern kein Begriff mehr sein dürfte: Paul Lincke, am 7. November 1866 selbstredend ebendort in Berlin geboren. Der Vater der spezifischen Berliner Operette stand in seiner Bedeutung zeitweilig Johann Strauss Sohn sowie Jacques Offenbach nicht nach. Anders als in Wien und Paris, ist die Lincke-Pflege nach dem Zweiten Weltkrieg indes mehr und mehr im Sande verlaufen. Dies dürfte nicht zuletzt an der durch die Nazis beförderten Wiederentdeckung liegen, die er und seine Musik während des Dritten Reiches erlebten. Da lagen seine besten Jahre eigentlich bereits lange hinter ihm. Seine größte Popularität erlebte Lincke in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreiches, dem er persönlich bis zuletzt verbunden blieb. Nach dem Ersten Weltkrieg waren seine Operetten, die zwischen 1897 und 1913 in rascher Abfolge erschienen waren, bereits nicht mehr gefragt. Bezeichnend, dass es 1940, also zur Zeit seiner unverhofften Renaissance, mit Ein Liebestraum noch eine letzte solche Komposition geben sollte. Nach Kriegsende 1945 ins Visier der Siegermächte gerückt, wurde Lincke in der amerikanischen und britischen Besatzungszone gar mit einem Auftrittsverbot belegt, auch wenn dieses nicht konsequent eingehalten wurde. Eine Anklage wegen möglicher NS-Kollaboration kam freilich auch nicht zustande. Gesundheitlich bereits angeschlagen, verstarb Paul Lincke am 3. September 1946, kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag, im Kurort Hahnenklee bei Goslar.

Paul Lincke im Jahre 1905/ Wikipedia

Unverhofft nimmt sich nun nach Jahrzehnte langer unverdienter Nichtbeachtung – die letzten nennenswerten Lincke-Platten erschienen in den 1960ern – das Label cpo der Musik Paul Linckes an. Eine Reihe der sämtlichen Ouvertüren wurde soeben mit Vol. 1 eingeläutet (555 428-2). Die mit 66 Minuten recht gut bestückte Disc umfasst neun Nummern, davon vier Operettenouvertüren im eigentlichen Wortsinn: Mit den orchestralen Einleitungen zu Venus auf Erden (1897), Lysistrata (1902), Grigri (1911) und Casanova (1913) wurde chronologisch eine geschickte Auswahl getroffen. Hinzu tritt die Ouvertüre zur Burleske Berliner Luft (1904), die selbstredend die berühmte Melodie enthält. Diesen Ouvertüren gemein ist eine Länge zwischen sechs und zehn Minuten, also vergleichsweise ausgedehnte Vorspiele, die sich mehr an den Vorbildern Offenbachs und Franz von Suppès orientieren als an den Wiener Operetten um 1900, die meist mit nur kurzen Orchestereinleitungen auskamen. Für den Freund sinfonischer Musik ist dies freilich durchaus vorteilhaft, zeichnen sich Linckes schwungvolle Ouvertüren doch durch große Sorgfalt und die Anlehnung an bedeutende Vorbilder bis zurück zu Haydn aus. Hinsichtlich seiner Instrumentationskünste steht Lincke dem als genial anerkannten Franz Lehár nicht nach. Als Nachzügler gesellt sich die sog. Ouvertüre zu einer Operette (1926) hinzu, ein Vorspiel ohne Werk, die tatsächlich problemlos auch zwei Jahrzehnte davor hätte entstanden sein können. Überhaupt passte der Komponist seinen Stil nicht vermeintlichen Erfordernissen der neuen Zeit an, sondern blieb sich im Prinzip bis zuletzt treu. Bereits mit der ebenfalls für sich allein stehenden Ouvertüre zu einem Ballett (1919) komponierte er zu Beginn der Weimarer Republik unbeirrbar genauso weiter, als gäbe es den von ihm verehrten Kaiser noch und ließ mit einer Reminiszenz an Rossini die alten Zeiten wiederaufleben. Als meisterhaft und eine seiner besten Kompositionen darf die knapp zehnminütige Walzerfolge Verschmähte Liebe (1897) gelten. Eines seiner populärsten Stücke stellt die gerade gut dreiminütige sog. Siamesische Wachtparade aus der Operette Nakiris Hochzeit, oder: Der Stern von Siam (1902) dar. Überhaupt ist eine Tendenz zum Exotischen bei Lincke zuweilen unverkennbar. Die Libretti zu seinen Operetten steuerte fast ausschließlich sein Freund Heinrich Bolten-Baeckers (1871-1938) bei, der auch für den Text der Berliner Luft verantwortlich zeichnete. Dabei bediente man sich teils auch aus heutiger Sicht grenzwertiger Sujets wie im Falle der Titelfigur in Grigri der Lieblingstochter eines „Negerkönigs“ in Afrika.

Mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt unter der Leitung des in diesem Repertoire bewanderten Dirigenten Ernst Theis konnte man idiomatische Kräfte verpflichten, deren Darbietung insgesamt wenig zu wünschen übriglässt. Einzig die Berliner Luft hätte man sich vielleicht noch ein wenig stürmischer erhofft; hier bleibt die Konkurrenzaufnahme bei Marco Polo unter John Georgiadis vorzuziehen (8.225366). Die Klangqualität der im November 2020 in der Messehalle 1 in Frankfurt (Oder) eingespielten cpo-Produktion ist anstandslos auf dem gewohnten hohen Niveau. Sehr pointiert fällt der Einführungstext von Stefan Frey aus.

Es bleibt zu hoffen, dass das Label aus Osnabrück diese sehr begrüßenswerte Reihe baldigst fortsetzt. Es harrt noch u. a. die Ouvertüre zur Operette Im Reiche des Indra (1899), deren Wenn auch die Jahre enteilen zum geradezu massentauglichen Schlager avancierte. Daniel Hauser

Ein Engländer namens German

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Edward wer? Kommt die Rede auf Edward German (1862-1936), 1928 vom britischen König Georg V. zum Sir geadelt, so dürfte die Resonanz hierzulande eher verhalten ausfallen. Geboren in Whitchurch, Shropshire, als Sohn eines englischen Spirituosenhändlers, der sich kurioserweise auch als Laienprediger betätigte, kam er – Geburtsname German Edward Jones – bereits früh mit Musik in Berührung. 1880 schließlich an der ehrwürdigen Royal Academy of Music, änderte er seinen Namen zunächst in J. E. German und später in die heute geläufige Form. Der Grund war eigentlich ganz trivial: Er wollte nicht mit einem Kommilitonen namens Edward Jones verwechselt werden. Mit Deutschland hat sein Name übrigens nichts zu tun, handelt es sich doch um eine anglisierte Form des walisischen „Garmon“. Neben Komposition umfassten seine Studien Orgel und Violine. Früh wurde man auf sein Talent aufmerksam. Schon 1885 wurde an der Royal Academy sein Te Deum aufgeführt, 1886 bereits seine erste komische Oper The Two Poets. Auslandsaufenthalte führten ihn unter anderem zu den Bayreuther Festspielen. Sein Œuvre war breit aufgestellt und umfasste fast alle musikalischen Gattungen. 1901 vervollständigte er Sullivans letzte Oper The Emerald Isle und galt in der Folge als dessen legitimer Nachfolger, was ihn fortan aber auch auf die sogenannte „leichte Klassik“ festlegte. Besonders Merrie England (1902) und Tom Jones (1907) erfreuten sich langanhaltender Beliebtheit. Daneben waren es gerade Bühnenmusiken – primär für Werke von Shakespeare –, für die German berühmt wurde, angefangen bei Richard III (1889) über Henry VIII (1892), Romeo and Juliet (1895), As You Like It (1896), Much Ado about Nothing (1898) bis hin zu The Conqueror (1905). Trotz seiner großen Popularität zu Lebzeiten, inklusive der Bewunderung durch niemanden Geringeren als Sir Edward Elgar, und einiger großer Fürsprecher auch danach – darunter Sir John Barbirolli –, ist German, vielleicht abgesehen von Merrie England, weitestgehend in der Versenkung verschwunden.

Naxos legt nun dankenswerterweise eine bereits fast 30 Jahre alte Produktion neu auf, die einst auf dem Entdecker-Label Marco Polo erschienen ist (8.555228). Enthalten sind die 1893 komponierte Sinfonie Nr. 2 a-Moll Norwich, die Germans letzten Beitrag zu dieser Gattung darstellt (Nr. 1 entstand 1887), sowie die Welsh Rhapsody von 1904 und die Valse gracieuse von 1895 in der revidierten Fassung von 1915. Verantwortlich zeichnet der in diesem Repertoire bewährte Dirigent Andrew Penny mit dem National Symphony Orchestra of Ireland. Die Einspielung wurde am 29. und 30. März 1994 in der National Concert Hall in Dublin produziert. Tatsächlich stellen die Marco Polo/Naxos-Produktionen, die noch einige CDs mehr umfassen, bis heute das Gros in der schmalen German-Diskographie dar. Soweit ersichtlich, wurden lediglich die zweite Sinfonie und die Valse gracieuse seither ein weiteres Mal aufgenommen (2007 mit dem BBC Concert Orchestra unter John Wilson für Dutton). Die Textbeilage (Einführung von David Russell Hulme) ist erfreulich ausführlich, wenn auch labeltypisch bloß auf Englisch.

Edward Germans nach der ostenglischen Stadt Norwich benannte viersätzige Sinfonie Nr. 2 stellt ein im Vergleich zur Vorgängerin gewichtigeres Werk dar (die Spieldauer beträgt eine gute halbe Stunde). Beide haben sie ihren Ursprung in des Komponisten akademischen Lehrjahren. Obschon von der zeitgenössischen Kritik durchaus gewürdigt, führten Selbstzweifel Germans dazu, dass er niemals eine dritte Sinfonie vollenden sollte. Über Jahrzehnte lag die Partitur der Zweiten auch bloß als Arrangement für zwei Klaviere im Druck vor. Erst 1931 entschloss sich der bereits hochbetagte German zu einer Drucklegung der Orchesterfassung, welche tatsächlich neuerlich Interesse an dem Werk entfachte. Obgleich der Komponist betonte, dass sich nicht viel „Altenglisches“ in der Sinfonie befinde, stellt sie eine der bedeutendsten britischen Sinfonien des späten 19. Jahrhunderts und vor Elgar dar. Majestätisch der zehnminütige Kopfsatz, schlicht und anmutig zugleich der sich anschließende langsame Satz (acht Minuten). Im spritzigen fünfminütigen Scherzo zeigen sich am ehesten operettenartige Züge. Beschlossen wird das Werk mit einem an den Beginn gemahnenden Finalsatz (achteinhalbminütig), der breit und choralartig eröffnet wird. Theatralisch klingt die Sinfonie schließlich aus und lässt den Bühnenkomponisten durchscheinen.

Die Welsh Rhapsody, knapp 20-minütig, ist heutzutage vermutlich das am häufigsten aufgeführte Orchesterwerk Germans. Den Eindruck, den es beim Cardiff Musical Festival 1904 schindete, war ganz beträchtlich. Obwohl dem Titel nach eine Rhapsodie, zeigen sich doch sinfonische Züge. So hat German selbst in der Partitur die vier Abschnitte wie folgt betitelt: I. Loudly Proclaim, II. Hunting the Hare – Bells of Aberdovey, III. David of the White Rock und IV. Men of Harlech. Anklänge an Musik aus Wales sind freilich auszumachen, was dem Stück besonders die Anerkennung der Waliser bescherte. Es war im Übrigen auch das letzte eigene Orchesterwerk, welches Edward German öffentlich dirigierte (1927 passenderweise in Aberystwyth, Wales).

Die sechseinhalbminütige Valse gracieuse schließlich ist eigentlich der zweite von insgesamt vier Sätzen der sinfonischen Suite Leeds (1895). Obwohl German auch in diesem Falle die Bezeichnung als Sinfonie vermied, sind derartige Anklänge nicht ganz abzustreiten. Mit einem Wiener Walzer hat diese Valse wenig zu tun, eher findet sich noch ein dezenter französischer Touch, wenngleich sie im Grunde ein Musterbeispiel für den Typus des schnellen englischen Walzers darstellt. Das Stück gibt bereits eine Vorahnung auf die Melodien in Merrie England und letztlich sogar schon auf Eric Coates.

Die künstlerische Darbietung ist, wie angedeutet, tadellos und von den Tontechnikern dankenswerterweise sehr adäquat eingefangen worden. Wer nun Lust auf mehr Edward German bekommen hat, dem seien die ebenso exzellenten Produktionen von Dutton ans Herz gelegt, wo u. a. die erste Sinfonie und die komplette Leeds-Suite vorgelegt wurden. Daniel Hauser

Einschließlich Heft sieben

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Die Deutschen Volkslieder von Johannes Brahms liegen nun komplett bei Naxos vor. Vol. 3 der neuen Edition mit sämtlichen Liedern des Komponisten enthält die verbliebenden zwei Hefte (8.574346). Bei den Volksliedern handelt es sich um Bearbeitungen überlieferter Vorlagen. Mit den Quellen beschäftigt sich Ulrich Eisenlohr, der Klavierbegleiter der Edition, im Booklet. Brahms habe sich vor allem aus der Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen“ der Volksliedforscher Andreas Kretzschmer (1775-1839) und Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1803-1869) bedient, die etwas siebenhundert Titel aus dem deutschsprachigen Raum umfasst. Zuccalmaglio, der dreißig Jahre nach Kretzschmer starb, sei es in seiner Forschung „nicht um eine wissenschaftliche Rekonstruktion akribisch gesammelter und konservierter Volksweisen, unabhängig von jeder künstlerischen Qualität gegangen“. Vielmehr habe er Wert auf den „Geist“ des Volksliedes gelegt, wozu Eisenlohr „Ursprünglichkeit, Einfachheit, Klarheit, Tiefe, Wahrhaftigkeit im Inhaltlichen wie im Musikalischen“ zählt. Diese Herangehensweise sei von Brahms ganzem Herzen unterstützt worden. Zuccalmaglio veröffentlichte Texte und Melodie. „Brahms‘ künstlerischer Beitrag besteht im Hinzufügen einer Klavierbegleitung. Er begnügte sich dabei keineswegs mit dem Unterlegen simpler Begleitfiguren und akkordischer Grundierungen. Es herrscht große Vielfalt an Ausarbeitungen des Klavierparts“, so der Pianist. Alle Lieder, die Brahms bearbeitet habe, handelten von Geschichten, die das Leben schreibe. Auch wenn die äußerlichen Situationen, die Berufe der handelnden Personen und die Sprache „uns heute antiquiert klingen“, seien Inhalte, die sich um Liebeserklärungen und -abweisungen, Treueschwüre und -brüche, zu Herzen gehende und vergiftete Komplimente, Verführungsversuche, Sex ohne Einverständnis oder Tod in der Blüte des Lebens drehten, immer aktuell.

Insofern macht es Sinn, dass sich junge Sänger, die noch am Beginn ihrer Karriere stehen, diesen Liedern zuwenden und dabei ihren eigenen Erfahrungen und Empfindungen einbringen. Teilen sich in den meisten Aufnahmen zwei Solisten in die Sammlung, wartet Naxos gleich mit vier in unterschiedlichen Stimmlagen auf: Alina Wunderlin (Sopran), Esther Valentin-Fieguth (Mezzosopran), Kieran Carrel (Tenor) und Konstantin Ingenpaß (Bariton). Und noch etwas unterscheidet diese Volkslieder-Einspielung von ihren Vorgängern: Sie ist komplett, enthält auch das siebte Heft, dessen Titel für Vorsänger und kleinen Chor – hier die vier Solisten – angelegt sind. Dadurch kommt noch zusätzlich eine gewisse theatralisch-singspielartige Atmosphäre auf, die ihren ganz besonderen Reiz hat. Nach Auffassung des Pianisten Eisenlohr öffnen sich durch die Wechselgesänge neue Ebenen des Musizierens. Komplettiert wird das Programm der CD mit den Volkskinderliedern. Brahms hatte sie den Kindern von Robert und Clara Schumann gewidmet. Hierbei sei die musikalische Faktur und Ausführbarkeit des Klaviersatzes einfach und „kindgerecht“, so Eisenlohr. Für die Liedauswahl gelte das nicht immer. So gehöre das Heidenröslein mit seiner sexuell konnotierten Symbolik trotz „vordergründig naiver Erzählweise nicht in den Bereich des Kindlichen“.

Startet eine Firma eine neue Gesamtaufnahme aller Lieder ist dies immer noch ein besonderes Ereignis auf dem Musikmarkt. Zuletzt hatte Hyperion aus London so eine Edition mit insgesamt 249 Titeln einschließlich der Volksliedbearbeitungen vorlegt. Diese abgezogen beläuft sich die einschlägige Abteilung im Schaffen von Brahms auf etwa 200 originäre Lieder. Wer die Texte näher besehen oder beim Hören mitlesen möchte, findet sie auf Naxos.com. Sie können in der Originalsprache sowie in englischer Übersetzung heruntergeladen werden. Die genaue Seite ist auch diesmal auf der CD-Hülle angegeben. Ein – wie ich finde – Papier sparender und praktischer Service, an dem man sich bei dieser Firma inzwischen gewöhnt hat. Aufgenommen wurde die neue CD 2021 ebenfalls im nach dem Dirigenten Hans Rosbaud benannten Studio des SWR in Baden-Baden. Rüdiger Winter

Wagner-Wunder in HD

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Keine Aufführung hat die Bayreuther Festspiele im 20. Jahrhundert nachhaltiger geprägt als Patrice Chéreaus bahnbrechende Inszenierung von Wagners Ring des Nibelungen. Die Aufführung von 1976 schrieb Operngeschichte. Sie setzte sich nach anfänglicher Skepsis und heftigen Protesten der konservativen Fraktionen des Publikums im Laufe der Jahre eindrucksvoll durch. Heute gilt sie als unabdingbare, nicht zu hintergehende Modernisierung des Wagner-Bildes der Gegenwart. Chéreau hatte die Bayreuther Szene mächtig aufgewühlt. Seine Idee, das Setting des Rings ins frühe Industriezeitalter zu verlegen, verlieh Wagners schillernder Mythenwelt eine ungeahnte Aktualität.

Der französische Theatermann konfrontierte das Publikum mit den sozialen Problemen der Arbeitswelt und stellte die traditionelle Logik am Grünen Hügel völlig auf den Kopf. Weisheitliche und heroische Gestalten wie Wotan oder Siegfried traten als herrschsüchtig und heuchlerisch in Erscheinung. Dagegen verwandelten sich typische Bösewichte wie Alberich oder Mime in Opfer der Gesellschaft. Alles roch nach Veränderung in jenem Jahr 1976, in dem die Bayreuther Festspiele ihr hundertjähriges Bestehen feierten.
Chéreau war der erste Nicht-Deutsche und mit 31 Jahren der jüngste Regisseur, der in Bayreuth inszenieren durfte. Ihm zur Seite stand der große Komponist und Dirigent Pierre Boulez, der im Orchestergraben eine musikalische Revolution anzettelte. Boulez verlangte dem Festspielorchester einen kammermusikalischen Ton ab, dessen entschiedene Pathosferne komplett den Gewohnheiten des opulenten Wagner-Ideals widersprach, heute jedoch gerade deshalb, der klanglichen Finesse wegen, Bewunderung hervorruft.

Eine wuchtige Wirkung entfaltete das Bühnenbild. Richard Peduzzi veranschaulichte mit einfachen Mitteln wie einem mächtigen Räderwerk oder einem überdimensionalen Dampfhammer die ästhetische Faszination und unheimliche Atmosphäre der frühen Industriewelt. Unter den Sängerstars des glänzenden Castings der Aufführung, die bis 1980 lief, stachen Gwyneth Jones als Brünnhilde, Peter Hofmann in der Rolle des Siegmund und Donald McIntyre als Wotan hervor.

Jetzt erscheint die revolutionäre Inszenierung erstmals auf Blu-ray Video, neu gemastered in HD-Qualität. Die sinnliche Qualität der Ausgabe ist enorm. Man wird hautnah an das Bühnengeschehen herangeführt und erlebt den poetischen Reichtum der Musik ganz neu. Neben den vier Discs mit den Opern wartet die Edition mit einem Making-of der Inszenierung auf. Die Dokumentation gewährt faszinierende Blicke hinter die Kulissen der Aufführung. Deutsche Grammophon / 0736180 (Quelle Universal)

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Gemessen an der Bedeutung, welche dem „Jahrhundertring“ zugesprochen wird, nimmt es wunder, dass über vierzig Jahre verstreichen mussten, ehe eine technisch adäquate Umsetzung der vielleicht berühmtesten Nachkriegsproduktion der Bayreuther Festspiele auf den Markt kommt. Nun legt Deutsche Grammophon/Unitel endlich ein zeitgemäßes Remastering dieser Jubiläumsproduktion der Wagner-Tetralogie auf fünf Blu-ray-Discs (inklusive The Making of) vor (00440 073 6180). Anlass war die 1976 anstehende 100. Wiederkehr der kompletten Erstaufführung des Rings des Nibelungen. Verantwortlich zeichnete das fast ausschließlich französische Team um Pierre Boulez (Dirigent, assistiert von Jeffrey Tate), Patrice Chéreau (Regie), Richard Peduzzi (Bühnenbild), Jacques Schmidt (Kostüme), Manfred Voss (Lichtgestaltung) und François Regnault (Dramaturgie). Besonders die beiden erstgenannten Namen gingen dadurch in die Geschichte ein, wobei landläufig tatsächlich zurecht in erster Linie vom Chéreau-Ring die Rede ist. Die künstlerische Gesamtleitung oblag dem Bayreuther Festspielleiter Wolfgang Wagner, dessen eminenter Anteil am Zustandekommen des Mammutprojektes nicht unterschlagen werden darf. Tatsächlich war Chéreau gar nicht die erste Wahl, sollte doch ursprünglich der Regisseur Peter Stein herangezogen werden, was sich aufgrund künstlerischer Differenzen indes zerschlug. Wie mutig es von Wolfgang Wagner eigentlich war, dann ausgerechnet den „Erbfeind“ mit der Neuinszenierung zu betrauen, erschließt sich aus heutiger Sicht nicht mehr auf den ersten Blick, doch war die formale deutsch-französische Aussöhnung durch Konrad Adenauer und Charles de Gaulle seinerzeit erst knapp anderthalb Jahrzehnte her. Damit nahm der bis dahin im Vergleich zu seinem verstorbenen Bruder Wieland als biederer Bewahrer geltende Wolfgang den Zorn des ihm lange wohlgesonnen Bayreuther Kreises in Kauf. Dass es gerade in Frankreich schon immer besonders eifrige Wagnerianer gab, ist freilich genauso richtig. Dies merkte Frau Winifred Wagner im Zuge des fünfstündigen Dokumentarfilms von Hans-Jürgen Syberberg, der im Vorjahr 1975 entstand, gleichsam erklärend an. Dass ihr bereits nach der Generalprobe dann der Ausspruch „Jetzt sind wahrhaft die Irren los“ entfuhr, wie der Spiegel berichtet (Ausgabe 32/1976), muss im Kontext der Zeit betrachtet werden. Tatsächlich war die Schwiegertochter Richard Wagners nicht die einzige Kritikerin des „Franzosenrings“. Alte und neuerdings überwunden geglaubte Ressentiments traten im Zuge der streitbaren Premierenaufführungen im Sommer 1976 zu Tage. Die erregte Stimmung des noch zu einem guten Teil aus Altwagnerianern bestehenden Publikums steigerte sich von Abend zu Abend, wie man anhand der Live-Rundfunkmitschnitte des BR anschaulich nachvollziehen kann. Im Laufe der Zeit hatte man sich Trillerpfeifen organisiert, mit denen vor allem die Aufführung der abschließenden Götterdämmerung zeitweise fast zum Erliegen gebracht wurde. Einige Sänger im Premierenjahr hielten nicht groß hinterm Berg mit ihrem Unverständnis hinsichtlich dessen, was sich auf der Bühne tat. Dies dürfte mitunter zu Umbesetzungen geführt haben, wie sie sich in den späteren Wiederaufnahmen der Produktion manifestierten. Dass der „Jahrhundertring“ überhaupt fünf Jahre im Programm bleiben konnte, war nach der ganz überwiegenden und teils geradezu aggressiven Ablehnung im Premierenjahr alles andere als gewiss. Tatsächlich kehrte im Laufe der Zeit mehr und mehr Ruhe ein, was freilich auch daran gelegen haben dürfte, dass sich mancher erzkonservative Gralshüter demonstrativ nicht mehr auf dem Grünen Hügel blicken ließ.

Dass es zum Abschluss dieser am Ende bereits legendären Produktion zu einer filmischen Umsetzung im Zuge einer Koproduktion des Bayerischen Rundfunks mit Unitel kam, darf aus heutiger Sicht durchaus als Glücksfall bezeichnet werden. Von Anfang an war primär an eine Fernsehausstrahlung gedacht, was auch das dort seinerzeit übliche Format 4:3 erklärt. Die Fernsehregie führte Brian Large. Aufgezeichnet wurden die vier Ring-Teile in den beiden letzten Jahren der Inszenierung 1979 (Götterdämmerung) und 1980 (Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried). Zunächst wurde die Walküre am 29. August 1980 als einziger Teil im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt; die weiteren Opern folgten sukzessive, wobei es erst im Zuge des Wagner-Jahres 1983 (100. Todestag) zu einer vollständigen Ausstrahlung des kompletten Rings kam. Die weitere Genese für den Privatgebrauch ist durchaus interessant. 1981 erschienen die Tonspuren auf 16 LPs bei Philips. Später kam die Videoproduktion bereits auf dem heute vergessenen Format als CD Video (einer Kombination von CD und Laserdisc) heraus. Es folgten Anfang der 1990er Jahre die Audiospuren auf CD sowie die Videos auf VHS. 2005 schließlich kam dieser Ring als DVD-Box auf den Markt. Ihnen allen gemein ist die technisch nicht besonders überzeugende Machart, die eher erahnen als erfahren ließ, was den „Jahrhundertring“ auszeichnet. Dies lag zum einen an der suboptimalen Bildqualität, zum anderen aber gerade auch am dumpfen und wenig kontrastreichen Klang. Dass diese Produktion ihre volle Wirkung nur als Einheit von Ton und Bild erzielen kann, liegt auf der Hand. Beides muss auf hohem Niveau sein. Dies ist nun zum ersten Mal überhaupt der Fall, denn gerade beim Klang (24-Bit Stereo PCM und DTS-HD Master Audio Surround 5.1) wurde kaum mehr für möglich Gehaltenes erzielt. Das Bild ist nun schärfer und detaillierter denn je, wenngleich man natürlich keine heutigen Standards erwarten sollte und das altmodische Bildformat für den modernen Zuschauer auch erst einmal etwas gewöhnungsbedürftig anmuten kann.

All diese technischen Belange treten allerdings sogleich in den Hintergrund, sobald man den Einstieg wagt. Mit dem Vorabend, also dem Rheingold, beginnt die monumentale Tetralogie. Das schon ikonisch gewordene erste Bild mit dem Staudamm ist als unmittelbarer Startpunkt genial gewählt. Wie wichtig wirkliche Sängerschauspieler für den nachhaltigen Erfolg des Gesamtkunstwerkes im wagnerischen Sinne sind, ist bei Hermann Bechts Alberich erfahrbar. Die Anfangsszene mit den drei Rheintöchtern (Norma Sharp als Woglinde, Ilse Gramatzki als Wellgunde, Marga Schiml als Floßhilde) lässt im Grunde nichts zu wünschen übrig. Auch zeigt sich bereits hier, welch guter Kenner der Partitur Chéreau war, dessen Gesamtkonzept, im industriellen Zeitalter angesiedelt, nur mit Bauchschmerzen unter „modernes Regietheater“ einzuordnen ist und herzlich wenig mit dem zu tun hat, was sich heutzutage auf den Bühnen abspielt. Mit Hanna Schwarz tritt eine resolute Fricka ihrem Göttergatten Wotan, verkörpert von Donald McIntyre, entgegen. Bereits hier lässt sich das spätere Unheil erahnen. Allvaters fast schon kindische Naivität wird von Donner (Martin Egel) und Froh (Siegfried Jerusalem) – beide unübersehbar der Dekadenz verfallen – zu Ungunsten Freias (Carmen Reppel) geteilt. Der Unmut der (wirklich riesenhaften) Riesen Fasolt und Fafner, großartig dargestellt von Matti Salminen und Fritz Hübner, ist hier sehr nachvollziehbar. In einer absoluten Glanzrolle geht Heinz Zednik als listiger, durchaus skrupelloser Feuergott Loge auf. Den Reigen ergänzen adäquat Helmut Pampuch als Mime und Ortrun Wenkel in der Partie der Erda. Die Überlistung Alberichs, dessen sich anschließender Fluch und die Warnung Wotans durch die Urwala dürfen also weitere Höhepunkte gelten. Die sich am tiefsten einprägende Szene ist allerdings der Einzug der Götter in Walhall, das bereits hier auf tönernen Füßen steht. Unfreiwillig komisch und halb widerwillig folgt die unsterbliche Schar Wotan in den herrlichen Bau, während der vom eigenen Bruder ermordete Fasolt, das erste Opfer des verfluchten Rings, als böses Omen den „Vorgarten“ ziert. Loge indes seilt sich sich mit süffisanter Miene rechtzeitig ab. Er ist es dann auch, der vielsagend den Vorhang zuzieht.

Der erste Tag, die Walküre, genießt inmitten des Ring-Zyklus seit jeher eine Sonderstellung. Fraglos kann sie am ehesten auch für sich allein genommen bestehen, was auch für die Chéreau’sche Deutung gelten darf. Der erste Aufzug, häufig konzertant gegeben, steht und fällt mit den drei Protagonisten. Peter Hofmann als Wälsungenspross Siegmund erlebt man, sängerisch wie darstellerisch, in der Rolle seines Lebens. Dass das „Hofmann-Bashing“ später in gewissen Kreisen zum guten Ton gehörte, nimmt diesem unglaublichen Urerlebnis nichts von seiner Wirkung. Hier wird erfahrbar, wieso der seinerzeit blendend aussehende Tenor von den ganz großen Dirigenten wie Herbert von Karajan, Leonard Bernstein und James Levine umworben wurde. Vom späteren traurigen und allzu verfrühten Niedergang glücklicherweise noch keine Spur. Mit Jeannine Altmeyer hat er eine kongeniale Zwillingsschwester Sieglinde an seiner Seite, der man die Unschuld vom Lande ohne Wenn und Aber glaubwürdig abnimmt. Als nicht zu unterschätzende Komponente, die selbst in der goldenen Glanzzeit des Wagnergesangs selten genug erfüllt war, muss die ungemein adäquate Optik des Wälsungenpaares gelten. Vortrefflich auch Matti Salminen als saturierter und selbstgefälliger Hunding. Dass Peduzzi den Hundingsbau gewaltig und durch seine Kälte abweisend zugleich zeichnet, darf als künstlerische Freiheit ebenso durchgehen wie das in der Partitur nicht vorgesehene Gefolge Hundings, das dessen gesellschaftlichen Status freilich gut unterstreicht. Dies gilt letztlich auch für den zweiten Aufzug, der zu einem guten Teil im Innern Walhalls sich abspielt. Donald McIntyres Wotan, nicht mehr jugendlich frisch, sondern auf der Höhe des Lebens, erweist sich letztlich als Pantoffelheld, Hanna Schwarz‚ Fricka hörig. Mit Gwyneth Jones tritt erstmals die namensgebende Titelfigur in Erscheinung. Obwohl gerade einmal zwei Jahre jünger als McIntyre, ist das Vater-Tochter-Verhältnis sehr glaubhaft. Die zeitlose Todesverkündigungsszene mit dem weißen Leichentuch dürfte Generationen von Bayreuth-Pilgern fest im Gedächtnis verankert geblieben sein. Im dritten Aufzug tritt bekanntlich die übrige Walkürenschar hinzu (Carmen Reppel als Gerhilde, Karen Middleton als Ortlinde, Katie Clarke als Helmwige, Gabriele Schaut als Waltraute, Marga Schiml als Siegrune, Ilse Gamatzki als Grimgerde, Gwendolyn Killebrew als Schwertleite, Elisabeth Glauser als Rossweiße), die letztlich außer Stande ist, der vermeintlich verräterischen Schwester beizustehen. Wotans Zorn dämpft sich sukzessive ab und mündet im herzergreifenden Abschied, der eine Meisterleistung der Personenführung darstellt. Die Reminiszenz des Walkürenfelsens, der an Böcklins Toteninsel gemahnt, ist seither breit rezipiert worden.

Der Siegfried stellt als zweiter Tag gewissermaßen das Scherzo des Rings dar und ist bis heute in gewisser Weise das Stiefkind geblieben. Mehr als alle anderen Ring-Opern hängt dieser Teil an einer einzigen Figur, was Teil des Dilemmas sein kann. Mit Manfred Jung konnte man einen bewährten und insgesamt guten Rollenvertreter vorweisen, obschon man ihm gerade den Jung-Siegfried äußerlich nur schwer abnimmt. Hier erwies sich der Wegfall René Kollos, der diese Partie bis in der Produktion bis 1978 verkörpert hatte, als nachteilig. Umso überzeugender dafür abermals Heinz Zednik, diesmal als Mime. Man geht wohl nicht zu weit, in Zednik den größten Rolleninterpreten des vergangenen halben Jahrhunderts zu erblicken. Er zeichnet den intriganten Nibelung nicht nur als Witzfigur. Weitere Highlights sind die Auftritte des Wanderers, vor allem im ersten und dritten Akt, wo Donald McIntyre zunächst noch zum letzten Mal gebieterisch den Ton angibt, um dann am Ende vom eigenen Abkömmling verlacht und aller Macht entkleidet zu werden. Die kurze aber einprägsame Szene mit Alberich (wiederum Hermann Becht) hat ihren Reiz. Fritz Hübners abermaliges Auftreten als Fafner ist von Chéreau letztlich sehr textnah umgesetzt worden. Die kurzen Einstreuungen des Waldvogels, gesungen von Norma Sharp, sind ähnlich überzeugend wie Erdas (Ortrun Wenkel) letztmaliges Erscheinen. Gwyneth Jones‚ wiedererweckte Brünnhilde, erst ganz am Schluss auftretend, zeigt stimmlich hier deutlicher als noch in der Walküre stimmliche Defizite, die indes den Gesamteindruck kaum trüben.

Mit der Götterdämmerung wird am dritten Tag sodann die Tetralogie beschlossen. Die einleitende Nornenszene (verkörpert von Ortrun Wenkel, Gabriele Schnaut und Katie Clarke) führt eigentlich vor Augen, dass die Würfel bereits gefallen sind. Die Morgendämmerung und das sich anschließende große Duett stellen den Höhepunkt des Vorspiels dar, welches Wagner beinahe schon als eigenen Akt dem Geschehen voranstellte. Hier wird durch Siegfried und Brünnhilde, unverändert Manfred Jung und Gwyneth Jones, noch einmal die euphorische Stimmung vom Finale des Siegfried aufgegriffen. In dem Maße, in welchem Jung als gereifter Held augenfälliger herüberkommt, werden andererseits berechtigte Kritikpunkte hinsichtlich der Stimmführung der Jones ebenso offenkundiger. Indes gilt nach wie vor, dass die Wirkung als großes Ganzes keine merklichen Einbußen erfährt. Der nachfolgende eigentliche erste Götterdämmerungs-Akt gilt nicht ganz zu Unrecht als Bewährungsprobe. Bei allzu statischer und wortundeutlicher Ausführung kann es mitunter etwas mühselig werden. Diese Gefahr besteht erfreulicherweise mitnichten, erzeigen sich doch nicht nur der Hagen Fritz Hübners, sondern erstaunlicherweise auch der von Franz Mazura dargebotene Gunther als große Interpreten. Gerade der oftmals blasse Gibichungenherrscher gewinnt hier an Format. Dass Siegfried gleichwohl zunächst Hagen für den Herrn hält, führt Gunther die Bedrohung durch den eigenen Halbbruder vor Augen. Auch als Gutrune weiß Jeannine Altmeyer für sich einzunehmen und wird Teil des Komplotts gegen den Heroen. Dass sich Hermann Bechts Alberich, letztmalig in Erscheinung tretend, der Treue seines Sohnes Hagen nicht vollauf gewiss sein kann, ist unübersehbar. Zwar ist Hübner nicht der stimmgewaltigste Nachtalbensprössling – so beim Mannenruf, allerdings sehr gekonnt szenisch vom erstmals auftretenden Chor unterstützt –, doch erscheint sein heimtückischer Mord dadurch auf seine Art auch nachvollziehbarer. Siegfried, der ohne eigenes Zutun zum Eidbrüchigen wird, steuert unaufhaltsam seinem traurigen Schicksal entgegen. Das nochmalige Auftreten der Rheintöchter (neuerlich Norma Sharp, Ilse Gramatzki und Marga Schiml) als letzte Chance zum unblutigen Ausgang ist zum Scheitern verurteilt. Eine der stärksten visuellen Szenen gelingt Chéreau während Siegfrieds Trauermarsch, was freilich auch der gekonnten Fernsehregie von Brian Large hoch anzurechnen ist, der mittels Nahaufnahmen den Eindruck des Volkes einfängt, ein filmisches Element, welches auch ganz am Ende nach Brünnhildes Schlussgesang wirkungsvoll angewandt wird.

Es bleibt insgesamt ein gewaltiger Gesamteindruck, angesichts dessen die ganz wenigen Kritikpunkte zu Marginalitäten verkommen. Pierre Boulez erweist sich als sehr gediegener Begleiter, der sich niemals in den Vordergrund drängt und die volle Konzentration somit auf das Bühnengeschehen ermöglicht. Es gibt insofern gewiss emotionalere Ring-Dirigate, doch passt Boulez‘ nüchterner Ansatz gut ins hier angestrebte Gesamtkonzept. Das einstündige Making of bietet schließlich interessante Einblicke in die Hintergründe dieser Produktion. In der Summe kann angesichts der hervorragenden Aufbereitung eine volle Empfehlung auch an diejenigen ausgesprochen werden, die den „Jahrhundertring“ bereits in einem Vorgänger-Format vorliegen haben (alle Fotos Unitel/DGG). Daniel Hauser

Repertoirewürdig

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Ein ganz harmloses, idyllisches Libretto wünschte sich Pietro Mascagni nach seinem Sensationserfolg mit Cavalleria Rusticana, denn das auf dem Roman von Giovanni Verga basierende hatte seiner Meinung nach zu viel Aufmerksamkeit bei Kritik und Publikum gefunden und seine Musik in den Schatten gestellt. Das Booklet zur Blu ray von L’amico Fritz von Dynamic berichtet davon und stellt damit einen bemerkenswerten Kontrast zu Giuseppe Verdi her, der immer darauf versessen war, ein noch leidenschaftlicherisches, noch dramatischeres Sujet als das gerade verarbeitete von seinen Librettisten geliefert zu bekommen. L’amico Fritz erfüllte die Wünsche seines Komponisten in idealer Weise, in ländlichem Milieu spielend und mit einer Heirat endend, ohne dass die Wogen der Leidenschaften allzu hoch hätten gehen können. In nur zwölf Tagen war das Libretto von Pierre Suardon fertiggestellt, einiges noch von Mascagni und Freunden hinzugefügt, und 1891 konnte die neue Oper im Teatro Costanzo von Rom uraufgeführt werden, wo die Musik gefiel, die vom Komponisten mit einem „la mia musica è per i cuori buoni“ klassifiziert worden war. Zwei berühmte Sänger, Emma Calvè, auch die erste Santuzza, und Fernando De Luca waren ebenfalls Garanten des Erfolgs, der allerdings ein im Vergleich zur Cavalleria recht kurzlebiger war, und nur das Kirschenduett erlangte eine dauerhaftere Popularität. In gewisser Weise bedeutet L’amico Fritz durch die Wiedereinführung einer Rolle en travestie und die Gliederung in einzelne Gesangsnummern einen Schritt zurück in der Musikgeschichte.

Während des Maggio Musicale Fiorentino des Jahres 2022 wurde trotz Corona das Stück mit Chor und sogar reichlich zusätzlichem Personal aufgeführt, der Kinderchor mit durchsichtigen Masken ausgestattet. Das Bühnenbild von Gary McCann weicht etwas von den Angaben des Librettos ab, zeigt für den ersten Akt ein Café mit französischem Flair, für den zweiten das Arbeits- und Lagerzimmer von Fritz Kobus und kehrt dann ins Bistro zurück. Nicht mehr ein Rabbiner ist der hochzeitsstiftende Freund David, kein Zigeuner der fiedelnde Beppe, obwohl dieser mit einem „Viva lo zingaro“ empfangen wird. Die Regie von Rosetta Cucchi hat die Handlung in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verlegt, Suzel trägt Jeans und hämmert als Bürokraft auf einer Schreibmaschine herum, zur ihrer Romanze trägt sie Kopfhörer auf den Ohren.

Wie in Cavalleria ist die rein orchestrale Musik, so das Vorspiel zum 3. Akt, besonders den Ohren schmeichelnd, ein weiterer Höhepunkt ist das Violinsolo, das mit dem Erscheinen des Beppe verbunden ist, und auch die Oboe hat einen besonders schönen Auftritt.

Die Titelpartie singt Charles Castronovo mit dunkler gewordenem Tenor, der im Duett mit Suzel aufblühen kann und insgesamt metallischer erscheint als erinnerlich. Die bekannten Plattenaufnahmen lassen zum größten Teil einen mehr im Lyrischen angesiedelten Tenor vernehmen. Die erst im Verlauf der Handlung Angebetete, Salome Jicia,  tut trotz der modernen Jeans recht gschamig, verfügt über einen dunklen, weichen Sopran, der sich im „Non mi resta che il pianto“ schön entfaltet und eigentlich nicht so recht zur blonden Perücke passt. Teresa Iervolino ist der Beppe mit geschmeidigem Mezzosopran, Massimo Cavaletti der würdige David mit samtweichem Piano des sonoren Baritons, der überzeugend trösten kann. Riccardo Frizza leitet souverän das Orchester des Maggio Fiorentino.

Zum Schlussapplaus erscheinen alle Solisten mit gelb-blauer Schleife am Revers, es war schließlich nicht nur Corona-, sondern dazu auch noch Kriegszeit (Dynamic 57960). Ingrid Wanja

Mit und ohne Orchester

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Die Versuchung, Lieder von Franz Schubert zu orchestrieren, hält sich hartnäckig. Schon Zeitgenossen wie Hector Berlioz haben sich damit versucht. Dessen hochdramatische Bearbeitung des Erlkönig hat ihre Faszination bis in die Gegenwart behalten und ist oft eingespielt worden. Hermann Prey hat die Ballade als einer der ersten Sänger bei RCA auf einer Platte mit zahlreichen anderen Bearbeitungen eingespielt. Neben Berlioz finden sich darauf die Namen von Johannes Brahms, Franz Liszt, Jacques Offenbach und Richard Strauss. Anne Sofie von Otter und Thomas Quasthoff legten ein Album vor, auf dem sich auch Orchestrierungen von Benjamin Britten und Anton Webern (Deutsche Grammophon) finden. Bei Erato entstanden Einspielungen mit Wiebke Lehmkuhl und Stanislas de Barbeyrac. Besonders oft taucht in den Tracklisten der Name Max Reger auf. Von ihm ist überliefert, dass er für seine feinsinnigen Orchestrierungen einen ganz praktischen Grund hatte. Als Dirigent setzte er Lieder gern auf seine Konzertprogramme zwischen sinfonische Werke. Es störte ihn, dass dafür immer ein Konzertflügel aufs Podium geschoben werden musste. Also versah er sie mit Orchesterstimme. Sämtliche Versionen sangen Camilla Nylund und Klaus Mertens komplett für eine CD bei cpo.

Matthias Goerne geht mit seiner neuen CD, die bei Deutsche Grammophon erschienen ist, einen ganz anderen Weg (500741). Er greift nicht auf Vorhandenes zurück. Die Orchesterstimmen stammen allesamt von Alexander Schmalcz, seinem langjährigen Begleiter. Er hat neunzehn Titel im Programm, darunter Ganymed, Fahrt zum Hades, Schäfers Klagelied, Drei Gesänge des Harfners, Des Schäfers Liebesglück, Alinde. Selbstreden ist auch Erlkönig dabei. Grenzen der Menschheit mit gut sieben Minuten ragt nicht nur wegen seines schwergewichtigen Inhalts sondern auch der Form nach deutlich heraus. Goerne ist des Lobes voll über die Arbeit von Schmalcz und folgt dessen Eingebungen mit stimmlicher Professionalität und Hingabe zugleich: „Sein Einfallsreichtum bei der Adaption dieser Lieder für das Orchester ist enorm, sein stilistisches Feingefühl und sein subtiler Ansatz, die richtigen Instrumente im richtigen Moment einzusetzen, sind wirklich erstaunlich. Die Auswahl an Liedern bekommt eine klangliche Dimension, die das Klavier so nicht darstellen kann. Das heißt nicht, dass sie besser ist, sondern anders“, so der Sänger, der von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter der Leitung von Florian Donderer begleitet wird.

Anders“– das trifft es. Wenn nicht sogar – ganz anders. Wer sich darauf einlassen will und kann, dem sind spannende und durchaus unterhaltsame Momente garantiert. Ich habe mich nicht eine Minute gelangweilt mit dieser CD. Verglichen mit weiter oben genannten Beispielen führen die Bearbeitungen von Schmalcz nach meinem Empfinden zu sehr von Schubert weg, als dass sie ihn viertiefen. Allenfalls illustrieren sie ihn. Das kann durchaus positive Wirkungen haben auf jenen Teil des Publikum, der sich mit dem klassischen Klavierlied noch immer schwer tut. Musikalische Einleitungen wie bei Heimweh, Pilgerreise oder dem das Programm abschließenden Abendstern klingen wie auch Passagen innerhalb einzelner Lieder fast einschmeichelnd. So gehört, hat CD hat die Potenzial, Anstöße für die vertiefte Beschäftigung mit dem Original zu geben.

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Mit dem Original also, wie es auf der CD mit dem Bassisten Andreas Bauer Kanabas anzutreffen ist, die bei Avi-music erschien (8553516). Begleitet wird er von Daniel Heide. Im Zentrum der Neuerscheinung steht Schuberts Schwanengesang, jene Sammlung, die erst nach seinem Tod zu ihrem Namen kam. Zunächst sind Der Wanderer, Totengräbers Heimweh, Der Tod und das Mädchen sowie Wehmut im Angebot. Diese Balladen sind ein gelungener Einstieg. „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück“, singt der Wanderer, der vom Gebirge her kommt. Und umreißt mit diesen bekannten Worten die Gedanken- und Gefühlswelt des Komponisten. Bauer, der erst seit wenigen Jahren den Zusatz Kanabas in seinem Namen trägt, verleugnet nicht den Opernsänger, als der er vorzugsweise tätig ist. Sein Liedvortrag entwickelt sich aus dem Wort und der jeweiligen dramatischen Situation. Das muss kein Nachteil sein, zumal er sehr gut zu verstehen ist. Er vermag, regelrecht plastisch zu singen. Atlas oder Doppelgänger wuchtet er stimmlich so hin, als stünden sie vor einem. Bei ausgesprochen lyrischen Titeln greift diese Methode nicht so überzeugend. Da wünschte man sich doch mehr Eleganz und mehr Farbe iom Ausdruck. Rüdiger Winter

Nesslers „Rattenfänger von Hameln“

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Mehr als der Titel seiner Oper Der Trompeter von Säckingen und vielleicht noch daraus der früher im Radio-Wunschkonzert gespielte Dauerbrenner „Behüt´ dich Gott, es wär so schön gewesen“ ist vom Werk des Komponisten Victor Nessler nichts übrig geblieben. Dabei war gerade diese Oper bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts ungemein erfolgreich. Im letzten sorgten noch Sänger wie Hermann Prey oder Wolfgang Anheisser für den Fortbestand zumindest dieses Stückes. Aber wie Opern des jüngere Kollegen Lortzing oder Brüll,  Flotow und andere mehr  werden diese deutschen Stoffe nicht mehr als zeitgemäß erachtet  (oder werden in Ignoranz dafür gehalten). Und vielleicht ist das angesichts der Bedenkenlosigkeit heutiger Regisseure auch gut so, dass sie diese außerordentlich an ihre Zeit und deren Geschmack, Bildung (!) und Tradition gebundenen Stoffe nicht in die Finger bekommen. Man mag sich nicht ausmalen, wie heutige Aufführungen davon aussehen würden.

Der Komponist Victor E. Nessler/ Wikipedia

Aber schade ist´s, die schöne Musik, diese eben typisch deutschen Melodien nicht mehr hören zu können. Nur wir Älteren können das ermessen. Und so ist es uns ein Anliegen, diese Lücke zumindest in unserem online-Rahmen mit einem Opernführer zum Rattenfänger von Hameln von Victor Nessler etwas zu scließen.

Dem Regisseur Ingolf Huhn habe ich ja schon dicke Kränze geflochten. Als Fan des heutigen Operndirektors in Annaberg reiste ich nach der Wende zu dessen damaligen Produktionen an den kleineren Bühnen Ost-Deutschlands, denn Huhn war und ist für mich der Champion für die Deutsche romantische Oper. Lortzings Weihnachtsabend, Der Pole und sein Kind, Rolands Knappen und Andreas Hofer, Dorns Nibelungen, Goldmarks Götz von Berlichingen, Gasts Löwe von Vendig und viele andere vergessene Werke des vorletzten Jahrhunderts erblickten durch ihn erneutes Leben, immer im Rahmen und der Möglichkeiten der kleinen Theater wie Döbeln, Freiberg, Plauen oder zuletzt eben Annaberg. Und so beruht der nachstehende Artikel über Nesslers noch viel unbekannterer Oper Der Rattenfänger von Hameln auf den Vorstellungen an den Theatern Freiberg und Döbeln 2004 und auf dem Programmheft vom Dramaturgen Christoph Nieder.

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Oskar Herfurth/ Der Rattenfänger von Hameln/ OBA

Am 19. März 1879 wurde im Leipziger Stadttheater eine Oper uraufgeführt, die in den nächsten Jahrzehnten ihren Weg durch Europa machte: Der Rattenfänger von Hameln von Victor E. Nessler. Grundlage der „Großen romantischen Oper“ war natürlich die berühmte Sage, die Geschichte vom Rattenfänger, der im Auftrag der Hamelner Bürger das Ungeziefer vertreibt und dann, als ihm der versprochene Lohn vorenthalten wird, mit den Kindern der Stadt davonzieht. Damit die operntypischen Liebesgeschichten nicht fehlen, ist der Titelheld, wie schon in der Goethe-Ballade vom Rattenfänger, auch ein „Mädchenfänger“, der dem Damenchor ebenso den Kopf verdreht wie der Fischer- und der Bürgermeistertochter.

Der Rattenfänger war nicht die erste, wohl aber die bis dahin erfolgreichste Oper Nesslers, die in Leipzig auf die Bühne kam. Wie sehr damals in Leipzig das Musikleben blühte, zeigt schon die Tatsache, dass mindestens vier einschlägige Zeitschriften nebeneinander existierten: Die „Allgemeine musikalische Zeitschrift“, die von Robert Schumann gegründete „Neue Zeitschrift für Musik“, die „Signale für die musikalische Welt“ und das „Musikalische Wochenblatt“ informierten wöchentlich oder monatlich Leipzig und die „musikalische Welt“ über Aufführungen klassischer Werke, vor allem aber auch über Novitäten, über Ur- und Erstaufführungen, die ganz anders als heute das Musikleben bestimmten.

So hatte sich der elsässische Komponist Victor E. Nessler 1864 nicht etwa nach Paris, sondern nach Leipzig gewandt, um seine musikalische Karriere voranzubringen; und auch den Librettisten Friedrich Hofmann, der aus Thüringen stammte, zog es 1858 in die „geistige Metropole Sachsens“.

Die „Signale für die musikalische Welt“ begannen ihre Besprechung der Rattenfänger-Uraufführung mit leiser Ironie: „Die beiden Verfasser der Oper haben ihren Wohnsitz – wie zuvörderst bemerkt sein soll – in Leipzig: der Librettist als Mitarbeiter der „Gartenlaube“, der Componist als Chordirektor am Stadttheater. Beide Männer sind auch in weiteren Kreisen nicht unbekannt: Herr Hofmann besonders durch seine gemütvollen poetischen und prosaischen Beiträge in dem genannten Weltblatt, Herr Nessler durch seine Bestrebungen auf dem Gebiete der Männergesang-Composition.“

Oskar Herfurth/ Der Rattenfänger von Hameln/ OBA

Zu diesem Zeitpunkt allerdings war Nessler nicht mehr Chordirektor, sondern bereits als Kapellmeister ans Carola-Theater gewechselt; sein Nachfolger wurde der später weltberühmte Dirigent Arthur Nikisch. Direktor des Stadttheaters war damals Angelo Neumann, der gerade mit der Aufführung von Wagners Ring, mit der er dann auch auf Europa-Tournee ging, Aufsehen erregt hatte. Neumann erkannte schnell die Qualitäten Nikischs und machte ihn zum Kapellmeister; in dieser Funktion dirigierte er die Uraufführung des Rattenfänger wie 1884 auch die des Trompeter von Säckingen, ehe er seine Karriere in den USA und Budapest fortsetzte, um schließlich als Gewandhauskapellmeister nach Leipzig zurückzukehren.

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Drei Deutsch-Nationale: Victor E. Nessler, 1841 im Elsass geboren, stammte aus einem protestantischen Pfarrhaus. Er studierte zunächst Theologie, der Erfolg seines Erstlings Fleurette in Straßburg ließ ihn jedoch zum Komponisten werden – die Quellen widersprechen sich, ob er wegen des „Fehltritts“ exmatrikuliert wurde oder aber freiwillig von der Theologie zur Musik wechselte. Nessler ging nach Leipzig und sammelte vielfältige musikalische Erfahrungen, komponierte Gelegenheitswerke und leitete Männerchöre. 1870 wurde er Chordirektor am Stadttheater, später Kapellmeister am Carola-Theater. Einige frühere Opern wie Dornröschens Brautfahrt (1867) oder Irmingard (1876), mit denen sich der junge Komponist ausprobiert hatte, waren über Leipzig nicht hin-ausgekommen; der Rattenfänger aber wurde ein Riesenerfolg, nachgespielt nicht nur an den Hofopern in Berlin, Stuttgart oder München und vielen anderen deutschen Bühnen, sondern auch in London. Danach konnte er sich zur Ruhe setzen, versuchte 1881 mit dem gleichen „Team“ – Librettist Friedrich Hofmann bearbeitete eine Vorlage von Julius Wolff: Der wilde Jäger – vergeblich an den Erfolg anzuknüpfen, bis 1884 Der Trompeter von Säckingen so einschlug, dass auch der Rattenfänger langsam in Vergessenheit geriet. Nessler kehrte wieder in das inzwischen deutsch gewordene Straßburg zurück, wo er bereits 1890 starb.

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Der Librettist Friedrich Hofmann/ Wiki

Der Librettist Friedrich Hofmann wurde am 18. April 1813, im selben Jahr wie Giuseppe Verdi und Richard Wagner, Georg Büchner und Friedrich Hebbel, in Coburg geboren. Seine Mutter war als junges Mädchen Dienstmagd bei Jean Paul gewesen; sein Vater, während der napoleonischen Kriege 1813 bis 1815 Feldtrompeter, wurde später Hofmusikus. Als Gymnasiast dichtete Hofmann „Freiheitslieder“ für den „Vaterlandsverein“ und wurde daraufhin für alle Zukunft vom Staats-dienst ausgeschlossen. In Jena studierte er Literatur und Geschichte; erste Veröffentlichungen beschäftigten sich mit der Geschichte seiner Coburger Heimat, und 1841 zog er als Mitarbeiter von Meyers „Großem Konversationslexikon“ nach Hildburghausen. 1854 erhielt er für seine Verdienste um die Volksbildung die Doktorwürde der Universität Jena und ging bald darauf als Hauslehrer eines Verwandten der Coburger Fürsten nach Venedig. Nach Hildburghausen zurückgekehrt, wurde er zum Begründer der Coburger Mundartdichtung, ehe es ihn 1858 nach Leipzig, in die geistige Metropole Sachsens, zog. Nachdem er an verschiedenen Zeitschriften mitgearbeitet hatte, wurde er 1861 Redakteur der „Gartenlaube“. 1871 war er in deren Auftrag einer der ersten Deutschen, die das belagerte Paris besuchten. Nach dem Krieg war er mit Kriegs- und Vaterlandsgedichten erfolgreich, baute aber auch einen Suchdienst für Vermisste und Verschollene auf und setzte damit sein soziales Engagement fort, das in den 40er Jahren mit dem „Weihnachtsbaum für arme Kinder“ – der Erlös seiner Gedichte finanzierte Weihnachtsgeschenke für bedürftige Kinder – begonnen hatte. 1883 wurde er Chefredakteur der Gartenlaube, und im Januar 1888 ernannte ihn die Gabelbachgemeinde auf dem Kickelhahn bei Ilmenau zum „Gemeindepoeten“ – als Nachfolger des verstorbenen Joseph Victor von Scheffel, dessen Trompeter von Säckingen Julius Wolff wesentlich beeinflusst hatte und der zur Vorlage der zweiten Erfolgsoper Nesslers wurde. Während eines Urlaubs in Ilmenau starb Hofmann im August desselben Jahres.

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Der Gelegenheitsdichter Friedrich Wolf/ OBA

Die Vorlage: Julius Wolff, 1830 in Quedlinburg geboren, übernahm zunächst die elterliche Textilfabrik. Nach deren Bankrott wurde er Journalist. 1870/71 zog er in den Krieg und arbeitete anschließend als Angestellter in Berlin. Ersten Schriftstellerruhm erntete er mit einer Kriegsliedersammlung „Aus dem Felde“. In der Tradition von Scheffels ungemein populärem Trompeter von Säckingen erschien 1876 Der Rattenfänger von Hameln – eine „Aventiure“, ein Erfolg, der Wolff finanziell unabhängig machte und ihm auch die Ehrenbürgerschaft der Stadt Hameln eintrug. In den nächsten Jahren verfasste er epische Dichtungen wie Tannhäuser. Ein Minnesang oder Der fliegende Holländer. Seemannssage. Er wurde zu einem Protagonisten der „Butzenscheibenromantik“ und erfüllte den Wunsch des wilhelminischen Publikums nach einem nostalgischen Rückblick in die „gute alte Zeit“. Noch nach seinem Tod 1910 erschien eine knapp zwanzigbändige Gesamtausgabe seiner Werke.

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Die Komposition: Nesslers Musik im Rattenfänger von Hameln umfasst eine weite Spanne. Sie ist harmonisch und in der Verarbeitung durchaus auf der Höhe ihrer Zeit und reicht vom leichten Singspieltonfall (2. Bild) über das sentimentale Strophenlied bis zur großen Verfluchungs-Szene, vom Buffo-Terzett (Beginn 3. Akt) bis zum sechsstimmigen, kanonartig aufgebauten Ensemble (Finale des 1. Aktes: „Nun reiche mir die Hand“), vom schlichten Volkschor bis zum komponierten Chaos im Streit der Ratsherren gleich zu Beginn. Immer ist die Musik dramatisch, theater-praktisch gedacht, immer im Dienst der Szene. Nessler verwendet einige prägnante Motive, die in der Oper häufig wiederkehren, aber nicht als Wagnersches Leitmotiv, sondern eher als Erinnerungsmotiv, z. B. ein sich um sich selbst windendes, schleichendes chromatisches Motiv als Symbol für die Ratten, das gleich zu Beginn der Ouvertüre eingeführt wird, oder eine marschartige Melodie für die Rats- und Bürgermeister-welt. Auffällig sind die zahlreichen Zitate in Nesslers Musik. Mal handelt es sich um ein Detail der Instrumentation, wenn z. B. die Solobratsche das Duett zwischen Regina und Dorothea im zweiten Bild maßgeblich begleitet, ist das Vorbild klar: die zweite Ännchen-Arie aus dem Freischütz.

Nesslers „Rattenfänger von Hameln“ in Döbeln/ Szene/ MTDF

Manchmal sind es Motivfetzen (Wotans Speermotiv in der Gerichtsszene des 5. Aktes, das „Auf Wiedersehen“ aus dem ersten Quintett der Zauberflöte), manchmal auch reizt die Parallelität der Situationen Neßler zum Zitat: Wenn im 4. Akt der steinerne Roland zu sprechen beginnt, erklingt umgehend eine kurze Phrase Leporellos aus dem Finale des Don Giovanni, der Nachtwächter scheint direkt den Meistersingern entsprungen zu sein, und ob bei der Wahl des „tragischen“ c-Moll Beethovens für den Streit der Ratsherren ein Schuss Ironie im Spiel ist, sei dem Zuhörer anheimgestellt… Die Häufigkeit und Auffälligkeit der Zitate lassen jedenfalls eher auf eine Hommage an die Vorbilder schließen denn auf billiges „Klauen“. Besonders kunstvoll arbeitet Neßler im großen Duett zwischen Gertrud und Hunold zum Schluss des zweiten Aktes. Jeder Figur ist ein Soloinstrument zur Seite gestellt, Gertrud die Bratsche und Hunold das Violoncello, die die Melodielinien mitspielen. Nach Hunolds „Dich zu erringen“ in A-Dur zweifelt Gertrud „Lieber Zaubrer, sag mirs ehrlich, bist du wahr und wirklich mein“ harmonisch weit entfernt in F-Dur, stößt dann aber bei „du bist mein, ich bin die deine“ mit E-Dur über Hunolds Harmonie hinaus. In einem Zwischenspiel verschlingen sich die Melodielinien der Soloinstrumente symbolisch für die Figuren auf der Bühne. Nach einem längeren zweistimmigen Teil schließen die Sänger in hymnischer Ein-stimmigkeit in A-Dur – beide sind vereint, musikalisch wie szenisch, und Gertrud ist in Hunolds Welt angekommen.

Das Mittelsächsische Theater in Döbeln/ Wikipedia

Neuland betritt Nessler im Mittelteil der Ouvertüre, wo er ein Melodram einführt, das die Ouvertüre gleich zu einem Teil der Handlung werden lässt. Erst sehr viel später sollten Leoncavallo und Mascagni auf ähnliche (dann aber gesungene) Modelle bei I Pagliacci und bei Cavalleria rusticana zurückgreifen. Der Trauermarsch des 5. Aktes weist schon voraus bis zu Gustav Mahler, manche Finesse der Harmonie im Lied „Wenn dem Wächter das Horn einfriert“ zu Beginn des 3. Aktes zu Hugo Wolf. Und auch vor kräftigen Dissonanzen scheut Neßler in der Ouvertüre nicht zurück, um gleich zu Beginn klarzustellen, dass dieser Rattenfänger von Hameln weit mehr bietet als brave Butzenscheibenromantik. Martin Bargel

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Verbreitung und Dokumente: Kaum eine Note Nesslers ist – außer einem dürftigen Querschnitt des Trompeter von Säckingen mit Hermann Prey bei Electrola und einer diskutablen Gesamtaufnahme des WDR (leider ohne Dialoge) als Nachklang der Aufführungen beim Festlichen Herbst Bad Urach bei Capriccio (noch bei jpc erhältlich) – auf Tonträger dokumentiert. Historische Einzelaufnahmen der eingangs erwähnten Arie finden sich von Prey, Tauber, Schlusnus, Melchior, Muench, vom Montanara Chor und in Blasorchesterfassung.

Dabei ist der Trompeter nicht etwa sein eigentlicher Erfolg gewesen, sondern eben der Rattenfänger. Aber die Aufführungen des damals scheidenden Intendanten des Mittelsächsischen Theaters, Ingolf Huhn, in den Theatern von Freiberg und Döbeln im Frühjahr 2004, wurden leider nicht beim MDR aufgezeichnet. Das Mittelsächsische Theater gastierte mit dem Werk bei den Musikfestspielen Dresden im Sommer 2004 und nahm es in der neuen Saison noch einmal auf, wo  auch  Lortzings Oper Rolands Knappen ebendort dort im Mai 2005 zur Aufführung kam.

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Das Mittelsächsische Theater in Freiberg/ Wikipedia

Der Rattenfänger von Hameln, Große romantische Oper in fünf Akten von Victor E. Nessler; Libretto von Friedrich Hofmann nach dem Gedicht von Julius Wolff UA: 19. März 1879 Leipzig (1. Aufführung in moderner Zeit 2004 am Mittelsächsischen Theater Freiberg-Döbeln).

Inhalt: Die deutsche Sage tritt auf und spricht einen Prolog. Erster Akt: Rathaussaal Streit im Hamelner Stadtrat: Die Stadtkasse ist leer, die Bürger klagen über die hohen Steuern. Der Bürgermeister weist darauf hin, dass es ein noch größeres Problem gebe: die Rattenplage. Aber er hat auch schon eine Lösung parat: Ein fremder Spielmann, Hunold Singuf, hat sich angeboten, die Stadt von Ratten und Mäusen zu befreien. Dafür fordert er 100 Mark und eine später zu benennende zusätzliche „Spende“. Trotz der hohen Forderungen nimmt der Stadtrat schließlich das Angebot des Rattenfängers an. Hausgarten des Bürgermeisters Regina, die Tochter des Bürgermeisters, erwartet ihren Bräutigam Heribert, den Sohn des Stadtschultheißen. Als der von einem Studienaufenthalt Heimgekehrte erscheint, sind alle zufrieden – außer dem Stadtschreiber Ethelerus, der sich selbst vergeblich um Regina bemüht hatte.

Zweiter Akt: Im Wirtshaus zum „Braunen Hirsch“. Hunold unterhält die Gäste mit seinen Liedern; insbesondere die Frauen sind von ihm fasziniert. Ethelerus lädt ihn zu einem abendlichen Treffen im Weinkeller gemeinsam mit seinem Freund, dem Kanonikus Rhynperg, ein. Da erscheint Gertrud; Hunold und sie erkennen im jeweils anderen den lange Erträumten. Die übrigen Gäste sind verwundert; Wulf, der Schmied, Gertruds Verlobter, schwört Rache. Beim Fischerhaus am Strom Gertrud und Hunold haben ein Stelldichein; Wulf versucht vergeblich, Gertrud zurückzugewinnen.

Oskar Herfurth/ Der Rattenfänger von Hameln/ OBA

Dritter Akt: Vor dem Ratskeller. Der Schreiber und der Kanonikus wetten mit dem Rattenfänger, dass auch er, der sich seines Erfolgs bei Frauen rühmt, Regina keinen Kuss abgewinnen könne.

An der Weser: Wulf beklagt sich bei seinen Nachbarn über Gertruds Untreue. Des Nachts lockt der Rattenfänger Ratten und Mäuse in die Weser; Wulf lauert Hunold auf, wird aber von diesem besiegt. Vierter Akt Offene Ratshalle Die Frauen sind glücklich darüber, dass die Ratten fort sind. Von Wulf aufgestachelt, wollen die Bürger dem Rattenfänger dennoch den versprochenen Lohn nicht zahlen. Regina, Dorothea und Heribert bezeugen, dass im Keller des Bürgermeisters noch ein „Rattenkönig“, fünf zusammengewachsene Ratten, die nicht fortlaufen konnten, geblieben, der Vertrag also nicht erfüllt sei. Hunold klagt nun Wulff an, der entgegen den Bedingungen nachts auf der Straße geblieben sei: Deshalb habe der Zauber nicht vollständig funktioniert. Außerdem fordert er nun die zusätzlich zum Geld vereinbarte Spende – einen Kuss der Bürgermeistertochter. Die Frauen finden diese Zusatzforderung apart, die Männer sind empört. Hunold will mit seinem Zauber auch Regina berücken. Die Roland-Statue auf dem Markt warnt ihn: „Recht verbürg‘ ich! Missethat würg‘ ich!“

Vierter Akt: Der Rathhaussaal als Festsaal. Die Verlobung von Heribert und Regina wird gefeiert. Regina wird unruhig, als Hunold erscheint, und fällt ihm um den Hals, nachdem er ihr ein Lied gesungen hat. Hunold wird des bösen Zaubers angeklagt.

Der Autor: Der Musiker, Dirigent, Pianist und Komponist Martin Bargel/ LIN

Fünfter Akt. Vor der Stadt Hameln. Gertrud beklagt den Verrat Hunolds an ihr. Die Richter verurteilen Hunold zum Tode. Gertrud beruft sich auf ein altes Gesetz, demzufolge das Leben eines Verurteilten einer Jungfrau geschenkt werden kann, die dann mit ihm fortziehen muss. So befreit sie Hunold, stürzt sich dann aber verzweifelt in die Weser. Vor der Kirche: An der Brücke. Aus der Kirche, wo die Hochzeit Heriberts und Reginas gefeiert wird, tönt der Gesang der Bürger. Hunold tritt auf, lockt mit Schalmeienspiel und Gesang die Kinder der Stadt herbei und führt sie über die Brücke davon. Seine Rache schreit er in die Kirche hinein; die herauseilenden Bürger müssen mit ansehen, wie die Brücke einstürzt und ihre Kinder im Berg verschwinden.

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Die vorliegenden Texte übernahmen wir – mit leichten Modifikationen – dem informativen Programmheft zur Aufführung in Freiberg-Döbeln 2004, wobei wir dem dortigen Dramaturgen Christoph Nieder sehr zu Dank verpflichtet sind. Der Autor Martin Bargel war damals Dirigent am Mittelsächsischen Theater, während er in dieser Zeit und auch danach immer wieder in spannenden musikalischen Projekten in Erscheinung trat, auch mit Eigenkompositionen. Redaktion und ergänzende Texte G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier

Mehr von Händel

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Von Händels Frühwerk Amadigi di Gaula präsentiert Chandos Records eine bemerkenswerte Neuaufnahme auf zwei CDs, die Ende 2021 London entstand (CHSA 0406/2). 1715 wurde die dreiaktige Oper im Londoner King’s Theatre uraufgeführt, der Autograph des Werkes ist verschollen, doch existieren davon mehrere handschriftliche Kopien. Teile der Ouverture sowie neun Gesangsnummern übernahm Händel aus seiner 1713 komponierten Oper Silla. Die in Griechenland spielende Geschichte handelt von dem für seine Heldentaten berühmten Ritter Amadigi und seiner Liebe zu Prinzessin Oriana, welche durch die Zauberin Melissa und ihren Anspruch auf Amadigi auf die Probe gestellt wird.

Die Early Opera Company leitet deren Gründer Christian Curnyn, der sich durch viele Einspielungen barocker Werke international einen Namen gemacht hat. Die reiche Palette der musikalischen Klangfarben der Komposition fächert er faszinierend auf und erzielt dabei stupende Wirkungen. Solche hört man schon in der Ouverture mit ihrem gravitätischen Largo als Einleitung und einem lebhaften Allegro als Mittelteil. Am Ende sorgt er mit dem Ballo di Pastori e Pastorelle für einen lebhaft-heiteren Ausklang.

Die Besetzung führt der renommierte Countertenor Tim Mead in der Titelpartie an. Er führt sich mit der Cavatina „Notte, amica die riposi“ ein und lässt eine sanft schmeichelnde Stimme hören. Das folgende Allegro „Non sa temere“ ist von beherztem Zuschnitt und demonstriert die flexible Stimmführung des Sängers. Zu Beginn des 2. Aktes kann er in der wiegenden Siciliana „Sussurrate, onde vezzose“ mit schwebenden Tönen bezaubern. Mit „Sento la gioia“ brilliert er am Ende des Werkes noch mit einem jauchzenden, Koloratur gespickten Solo. Seine Geliebte Oriana, Tochter des Königs der Glücklichen Inseln, nimmt die britische Sopranistin Anna Dennis wahr – auch sie erfahren im Barock-Genre und mit einer Stimme von lyrischem Wohllaut ausgestattet. Mit der Aria „Oh caro mio tesor“ fällt ihr eine Perle der Oper zu, welche sie mit fein gesponnenen Tönen zu bester Wirkung bringt. „Ti pentirai, crudel“ im 2. Akt ist dagegen erregt und heftig im Vortrag. Zu Beginn des 3. Aktes bezaubert sie mit zarten Klängen in „Dolce vita del mio petto“. Geliebt wird Amadigi auch von der Zauberin Melissa, die Mary Bevan singt. Ihr Sopran entfaltet in der Auftrittsarie „Ah! spietato!“ klagende Laute der Verzweiflung. In „Io godo, scherzo e rido“ kann sie dagegen vehement auftrumpfen. Auch ihr Duetto mit Amadigi im 2. Akt, „Crudel, tu non farai“, ist von stürmisch-auffahrendem Duktus. Mit „Desterò dall’empia dite“ fällt ihr ein von Trompetengeschmetter begleitetes Bravourstück zu, in welchem die Sängerin ihr virtuoses Vermögen demonstriert. Von ähnlichem Zuschnitt ist das rasante „Vanne lunghi“ im 3. Akt, das ihr energische Koloraturläufe abverlangt, in denen dann auch einige strapazierte Momente zu hören sind.

Eine der weltweit führenden Altistinnen ist Hilary Summers, der die Hosenrolle des thrakischen Prinzen Dardano anvertraut wurde. Mit „Pugnerò contro del fato“ fällt ihm das erste Solo des Werkes zu, ein energisches Presto, in welchem die Sängerin ihre noch immer perfekt funktionierende und agile Stimme vorführt. In der Aria „Agitato il cor mi sento“ überzeugt sie mit resolutem Ausdruck. Das getragen-ernste „Pena tiranna“ nimmt das berühmte „Lascia ch’io pianga“ aus dem Rinaldo auf und Summers zelebriert es in würdevoller Manier. „Tu mia speranza“ bringt eine kokette Note ein. Der Countertenor Patrick Terry komplettiert die Besetzung klangvoll als Zauberer und Orianas Onkel Orgando.

Das Werk ist auf dem Musikmarkt nicht eben reich vertreten. Die vorliegende Chandos-Aufnahme ist erst die dritte kommerzielle Einspielung der Oper und ergänzt die bisher maßstäbliche unter Marc Minkowski von 1989 auf Erato. Sie dürfte sogar eine starke Konkurrenz zu dieser Vorgängerin sein. Bernd Hoppe

Robuste Emotionen

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Eine beachtliche Karriere hat der armenische Bariton Gevorg Hakobyan bereits gemacht, der im kommenden Sommer auch in der Arena di Verona zu erleben sein wird, nachdem er bereits an vielen bedeutenden Bühnen mit Erfolg gesungen hat. Mit Ettore Bastianini und mit Silvano Carroli soll man ihn verglichen haben, welchem Urteil man zumindest, was den Jüngeren der beiden betrifft, zustimmen kann, entspricht doch trotz eines süffisanten Lächelns, das er auf dem Cover seiner CD bei Delos mit dem Titel Arias of Love & Sorrow zeigt, die Optik, aber auch die Stimmfarbe eher dem typischen „Brunnenvergifter“ á la Barnabà als dem edel-tragischen Helden.

Es beginnt mit dem Credo des Jago, das man allerdings weder der Liebe noch der Sorge zuordnen kann, zu dem aber die etwas dumpfige, dunkel grollende Stimme sehr gut passt, die Gemütsbewegungen weniger durch ein chiaro-scuro als durch einen Wechsel der Lautstärke hörbar werden lässt. Besonderen Nachdruck will der Sänger durch ein energisches Hervorstoßen der Töne erzielen, in der Höhe wird die Stimme etwas flacher, das grässliche Gelächter, das viele Baritone der Arie folgen lassen, unterlässt Hakobyan dankenswerterweise.

Hört man Nemico della patria, das dem Credo folgt, kann man wahrnehmen, dass die Stimme von Natur aus gar nicht so böse klingt, für den Jago wohl künstlich abgedunkelt wurde und nun einen echten Heldenbariton vernehmen lässt. Bärbeißiger zeigt sich dann wieder der Michele aus Il Tabarro, der seine Arie mit einem sieghaften Spitzenton krönen kann.  Legato und Phrasierung stimmen im Gebet Nabuccos, eine farbige mezza voce wird für den Renato eingesetzt, der für die besungenen dolcezze auch einiges davon im Timbre aufweist. Soweit das italienische Repertoire.

In die italienischen Arien eingestreut sind solche aus russischen und armenischen Opern. Bekannt ist Tschaikowskis Pique Dame, aus dem der Bariton die Erzählung des Tomsky vorträgt, sehr empfindsam nimmt er sich der Klage des Fürsten Igor aus Borodins gleichnamiger Oper an, zugleich ein beachtliches Material ausstellend wie sich mit Erfolg um ein differenzierendes Portrait des unglücklichen Fürsten bemühend. Das wilde Aufbegehren des Gryaznoy aus Rimski-Korsakows Zarenbraut wird eindrucksvoll vermittelt. Aus Rachmaninoffs Aleko wird dessen Arie schließlich  schön differenzierend zwischen Wut und zärtlicher Erinnerung dargeboten.

Im Westen nicht bekannt sind die armenischen Opern, derer sich Hakobyan verständlicherweise annimmt. 1945 wurde Levon Khodja-Eynatyans Oper Arshak II in Jerewan uraufgeführt, die  Arie des Titelhelden klingt recht basslastig, aber auch die sichere Höhe der Stimme kann ihre Wirkung entfalten. Mit zwei Werken ist der Armenier Armen Tigranian vertreten, und sowohl in der Arie des Mosi aus Anoush wie in der des David Bek aus der gleichnamigen Oper kann der armenische Sänger noch einmal alle Vorzüge seiner Stimme ausstellen. Begleitet wird er von John Fisher und Constantine Orbelian, die das Kaunas City Symphnony Orchestra leiten (Delos 3577). Ingrid Wanja    

Unentwegt auf Tour

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So richtig auf den Geschmack gekommen, was Freilichtgroßereignisse betrifft, scheint Luciano Pavarotti nach dem Konzert 1990 mit den anderen zwei Tenören in den Thermen des Caracalla in Rom anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 1990 gekommen zu sein. Damals gewann übrigens Deutschland den Titel. Bereits im folgenden Jahr gab es , allerdings nur mit ihm als Alleinstar, im Londoner Hydepark und noch ein Jahr später im Central Park von New York  ein Konzert mit einer halben Million Zuschauer.

Die Programme der beiden Veranstaltungen ähnelten einander, nahmen allerdings auch Rücksicht auf die jeweiligen Vorlieben des Publikums, das Wetter hätte nicht unterschiedlicher sein können, denn während in London ein buntes Meer von Regenschirmen wetterfest ausharrte, konnte man und kann man nun auch auf zwei Blurays in New York bei strahlendem Sonnenschein den einen oder anderen nackten männlichen Oberkörper bewundern.  Während das Londoner Publikum Weltmeister im Winken zu sein scheint, ist das in New York  weitaus gelassener.

War in Ravenna, wo es im Juni eigentlich kaum regnet, ein Pavarotti-Konzert im Hafen der Stadt wegen schlechten Wetters noch auf den kommenden Abend verschoben worden, ist man in London schlechtes Wetter gewöhnt und trotzt ihm, so wie auch Lady Diana, Prince Charles und Ministerpräsident Major in der ersten Reihe, die Mitglieder des Philharmonia Orchestra fürchteten wahrscheinlich um ihre kostbaren Instrumente, aber Leone Magiera, bevorzugter Dirigent italienischer Sänger und oft auch ihr Begleiter am Flügel, zog das Programm durch.  In New York war er gleichfalls der Taktgeber, diesmal für The New York Philharmonic. An beiden Orten beginnt man mit der Ouvertüre zu Luisa Miller, gefolgt von der Arie des Rodolfo, „Quando le sere“, einschließlich Rezitativ, aber ohne Cabaletta. Für die vielen Verdi-Partien, die der Tenor sang, ist abgesehen vom Duca und Alfredo die Stimme recht hell, in New York klingt sie etwas metallischer als in London, der Spitzenton ist natürlich ein strahlender und wird mit Lust lange gehalten. Geht es in London mit „O paradiso“ weiter, so in New York sehr viel angemessener mit dem Schlussbild von Lucia di Lammermoor, in London bleibt man weit eher der bedeutenden  E-Musik verhaftet, ehe es zu den Canzoni geht, in New York wechselt nach einem Lamento di Federico der Star bereits ins Populäre, ehe er bei den Zugaben wieder  zu den beiden Cavaradossi-Arien und damit zur Oper zurückkehrt.

In London hat der Philharmonia Chorus eine bedeutende Funktion im Konzert, natürlich mit dem unvermeidbaren „Va pensiero“, aber völlig unverhofft und aus dem Rahmen fallend auch mit dem Brautchor aus Lohengrin. Die Londoner bekommen weit mehr Pavarotti serviert als die New Yorker, die auf Canio und Des Grieux verzichten müssen, dafür aber, unbefangen wie man in den USA nun einmal ist, mitten im Pavarottikonzert mit dem Boys Choir of Harlem und Strayhorn, Ellington und I can go to God konfrontiert werden.

In beiden Städten kommt das Publikum in den Genuss der Kunst eines außergewöhnlich guten Flötisten, Andrea Griminelli, der in London nur eine Carmen-Phantasie, in New York dazu noch Mercadantes Rondo Russo zum Besten gibt. Auf O Sole mio und Nessun dorma aber braucht man weder in London noch in New York zu verzichten, und auf beiden Aufnahmen ist der Maestro in guter Form, stellt seine Stimme genüsslich und genussvoll aus, ein prächtiges Material, das sich selbst genug ist (C-Major 762404 und 762704). Ingrid Wanja      

Hallo London: Besuch aus Byzanz

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Das goldene Byzanz mit seiner Hauptstadt Konstantinopel (heute Istanbul) lag bereits in seinen letzten Zügen, als es zu einer historisch bedeutsamen Zusammenkunft kam, die Ost und West zusammenführte. Die Reise von Manuel II. Palaiologos (1350-1425), dem drittletzten byzantinischen Kaiser (reg. 1391-1425), nach Westeuropa in den Jahren 1399 bis 1403 war zuvörderst ein Hilfeschrei gen Westen, das über tausendjährige Römische Reich, dessen östlicher Teil anachronistisch später als „byzantinisch“ bezeichnet wurde, vor der osmanischen Bedrohung zu retten. Bereits damals bestand das Imperium, das einst das Mittelmeer umspannt hatte, fast bloß noch aus Konstantinopel, welches an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert nur mehr etwas über 50.000 Einwohner vorzuweisen hatte und sich seit 1394 einer Belagerung durch die Osmanen ausgesetzt sah. Manuel II. besuchte im Zuge seiner Reise Italien, Frankreich und zum Jahreswechsel 1400/01 eben auch England. Diesem einzigen Besuch eines oströmischen Kaisers auf der Insel widmet das Label Capella Records nun eine mit A Byzantine Emperor at King Henry’s Court – Christmas 1400, London betitelte Neuerscheinung (CR427). Mit King Henry ist der englische König Heinrich IV. (1367-1413) gemeint, der erst kurz davor als Usurpator auf den Thron gekommen war und die Dynastie des Hauses Lancaster, einer Nebenlinie der Plantagenets, etablierte. Opernfreunden dürfte dieser König von England durch Verdis Falstaff und Nicolais Lustige Weiber von Windsor zumindest peripher ein Begriff sein, sind beide Shakespeare-Vorlagen doch in dessen Regierungszeit (reg. 1399-1413) angesiedelt.

Bei Capella Records handelt es sich im Übrigen um das Eigenlabel der 1991 von Alexander Lingas in Portland, Oregon, gegründeten Cappella Romana. Das Ensemble hat sich auf slawische und byzantinische Musik in deren Originalsprache spezialisiert und sich in der Vergangenheit in diesem Bereich große Meriten erworben. Die Neuerscheinung – übrigens eine hybride SACD, die auch das Mehrkanalton-Format aufweist – ist bereits die 30. Veröffentlichung der Portlander. Frühere Erscheinungen widmeten sich beispielsweise den Hymnen der legendären byzantinischen Komponistin Kassia aus dem 9. Jahrhundert und dem Fall von Konstantinopel im Jahre 1453. Bereits mit der Namenswahl bewies Lingas, Musikwissenschaftler und langjähriger Professor an der City University in London und nun in Cambridge, das richtige Händchen für historische Zusammenhänge, bezieht sich die Bezeichnung als „Römische Kapelle“ doch auf das byzantinische Konzept der römischen Oikumene, also der gesamten bewohnten damals bekannten Welt. Die sogenannten Byzantiner betrachteten sich selbst bis zuletzt als Rhomaioi, also als Römer (Rhomäer), auch wenn sie im lateinischen Westen „Griechen“ genannt wurden. Das A-Cappella-Ensemble besteht jedenfalls aus zwei Sopranistinnen, zwei Altistinnen, drei Tenören, einem Bariton und drei Bassisten, sämtlich ausgewiesenen Spezialisten für dieses exotische Gebiet der Alten Musik.

Vom musikalischen Leiter Alexander Lingas stammt auch der vorzügliche, sehr umfassende und mit Quellenverweisen angereicherte Einführungstext (allerdings nur auf Englisch), der wichtige und unerlässliche Hintergrundinformationen bietet. Die Zusammenkunft von byzantinischem Kaiser und englischem König war nicht zuletzt eben auch ein direktes Aufeinandertreffen von östlicher und westlicher Musik. Nach seinem Aufbruch im Dezember 1399 war Kaiser Manuel II. zunächst über Italien nach Paris gereist, wo ihn der französische König Karl VI. im Juni 1400 mit allen Ehren empfing. Die Hauptstadt Frankreichs wurde in den kommenden zwei Jahren dann auch die Ausgangsbasis für den Autokrator der Rhomäer in seinen Beziehungen zu den Herrschern des lateinischen Abendlandes. Im Oktober 1400 war Manuels Besuch in England diplomatisch auf den Weg gebracht worden, so dass der Kaiser samt seines Gefolges zunächst ins seinerzeit noch englische Calais übersiedelte. Am 11. Dezember 1400 kam es schließlich zur Kanalüberquerung nach Dover, wo ihn zunächst der Klerus von Canterbury willkommen hieß. Am 21. Dezember 1400 kam es dann endlich zum Herrschertreffen in Blackheath bei London. Das Weihnachtsfest verlebte der Kaiser als Ehrengast des Königs im Eltham Palace. Nach den Festtagen wurde die Konstantinopeler Delegation in London als Gast des Johanniterordens beherbergt. Die tiefe Frömmigkeit des Kaisers und seines Hofstaates im Verbund mit Manuels asketischer und doch kaiserlicher Ausstrahlung beeindruckte die Engländer nachhaltig. Wirklich bedeutsame finanzielle oder militärische Unterstützung konnte ihm Heinrich indes nicht liefern, so dass Manuel im Februar 1401 nach Paris zurückkehrte, wobei ein Teil seiner Abordnung in England verblieb, um die Verhandlungen weiterzuführen. Eine kostbare Reliquie aus Konstantinopel, ein Stück des nahtlosen Gewandes der Gottesgebärerin und Jungfrau Maria, wurde Englands König in diesem Zusammenhang zum Geschenk gemacht. Da die Versuche, Waffenhilfe zu erlangen, auch dort fruchtlos blieben, reiste der Kaiser von Byzanz im November 1402 nach Konstantinopel zurück, wo er bei seiner Rückkehr im Juni 1403 immerhin feststellen konnte, dass die osmanische Belagerung infolge der Niederlage Sultan Bayezids gegen Tamerlan in der Schlacht bei Ankara (28. Juli 1402) nach achtjähriger Dauer mittlerweile aufgehoben worden war.

Charles, Duke of Orléans, in the Tower of London from a 15th-century manuscript/ Quelle: Gedichte von Herzog Karl von Orléans, Brügge 1483 u. 1492-1500 (British Library, Royal MS 16 F II, f. 73r)/ Wikipedia

An Weihnachten 1400 kamen im Eltham Palace die Kleriker und Sänger sowohl der kaiserlich byzantinischen als auch der königlich englischen Hofkapelle zusammen. Genaue Quellenbeschreibungen der dort gespielten Musik haben sich erhalten, einzig der Hinweis auf prächtige und aufwendige Festlichkeiten. Die englischen Chronisten berichten jedenfalls von täglichen Gottesdiensten der kaiserlichen Geistlichen. Aufgrund des seinerzeitigen Schismas zwischen der römisch-katholischen und griechisch-orthodoxen Kirche ist anzunehmen, dass beide Monarchen an Festgottesdiensten teilnahmen, die gemäß ihren jeweiligen Riten gefeiert wurden. Dies ermögliche eine Rekonstruktion der Inhalte mittels anderweitiger Text- und musikalischer Quellen.

Hinsichtlich des heute sogenannten byzantinischen Ritus ist bedauerlicherweise nichts über die Musik bekannt, die im Zuge dessen von Blechbläser, Holzbläsern und Schlagwerk gespielt wurde – eine musikalische Notation ist hier praktisch nicht existent. Geläufig ist dafür die Vokalmusik der sogenannten Prokypsis durch liturgische Sammlungen aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Stilistisch mannigfaltig, reicht diese von einfachen Formen der Psalmodie und traditionellen Melodien für vorwiegend syllabische Hymnodien bis hin zu anspruchsvollen und teils langatmigen Werken in kalophonischem („schön klingendem“) Idiom. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts standen in der kaiserlichen Kapelle die Gesänge zweier Schüler des Protopsaltis (Erster Kantor) Johannes Glykes (Mitte 13. Jahrhundert-um 1320) im Mittelpunkt: Der hl. Johannes Papadopoulos Koukouzeles (vor 1270-vor 1341) und Xenos Korones (spätes 13. Jahrhundert-Mitte 14. Jahrhundert).

Was die englische Hofkapelle betrifft, befand sich diese um 1400 in einer bereits unter Richard II. (reg. 1377-1399) begonnenen und unter Heinrich V. (reg. 1413-1422) gipfelnden personellen Vergrößerung. Für das Weihnachtsfest 1400 sind 33 Mitglieder belegt, wovon in den frühen Regierungsjahren Heinrichs IV. üblicherweise 18 reife Sänger waren, etwa fünf jüngere Sänger und neun bis zehn Chorknaben. Liturgisch bediente man sich des sogenannten Sarum Use, des Salisburger Ritus.

Trotz aller offenkundigen Unterschiedlichkeit, die sich schon in den beiden Sprachen Griechisch und Latein zum Ausdruck kamen, gab es auch Parallelen. So gab es weder in Byzanz noch in England seinerzeit einen wirklich einheitlichen, überall identischen Ritus, sondern lokale Unterschiede. Man stützte sich da wie dort auf traditionelle Gesänge, die ein Gros der im Gottesdienst gesungenen Musik ausmachten. Während spätbyzantinische Komponisten vor allem um die Virtuosität bedacht waren, war man im englischen Falle um eine Verschönerung der Musik durch Mehrstimmigkeit bemüht. Improvisierte Polyphonie scheint im frühen 15. Jahrhundert die Regel gewesen zu sein. Infolge des Bruchs im religiösen Leben in England nach der protestantischen Reformation ist bedauerlicherweise kein einziges Manuskript englischer Polyphonie aus dem 14. Jahrhundert erhalten geblieben. Aus den erhaltenen Fragmenten lässt sich erahnen, dass die komplexesten Werke der seinerzeitigen englischen Polyphonie Massensätze und Motetten für vier Stimmen waren, wobei eine Ähnlichkeit zu kontinentalen Komponisten wie Guillaume de Machaut (um 1300-1377) festzustellen ist.

Die Capella Romana versucht aus den genannten Gründen keine strenge Rekonstruktion, die aufgrund der Quellenlage unmöglich erscheint, sondern bedient sich einer Auswahl von Gesang und Polyphonie zur Geburt Christi, welche stilistisch das Repertoire der byzantinischen und englischen Kapelle um 1400 repräsentiert. Hierbei war eine gewisse Flexibilität unabdingbar. So stellt man die Musik in eine ungefähre liturgische Reihenfolge, beginnend mit dem Heiligen Abend und endend mit dem Magnificat für den Gottesdienst der zweiten Vesper, die am Abend des 25. Dezember gefeiert wird. Die griechische und lateinische Auswahl legt Wert auf gemeinsame Themen und parallele musikalische Technik. Tatsächlich ist die Quellenlage hinsichtlich der byzantinischen Musik um 1400 aufgrund der Klosterbibliotheken des Sinai und des Bergs Athos in diesem Falle sogar die bessere.

Mit dem lateinischen Iudea et Hierusalem, einem Responsoriumsgesang, beginnt die Vesper für die Vigil der Geburt des Herrn am Heiligen Abend. Byzantinischerseits wird auf dem Höhepunkt der neunten Stunde an Heiligabend zunächst die Anwesenheit des Kaisers besungen und anschließend Akklamationen für ihn und seine Familie dargebracht. Danach kam der Kaiser in vollem Ornat hinter einem Vorhang hervor, betrat die Bühne (Prokypsis) und empfing den Beifall des versammelten Hofes. Auf Reisen war dieses Zeremoniell reduziert und wurde auf die Fanfaren der Blechblasinstrumente verzichtet, die in Konstantinopel ebenfalls beteiligt gewesen wären. Gleichsam als Coda beendet ein sogenanntes Polychronion die Abfolge der Huldigungen.

Eine Abbildung von Konstantinopel um 1420/Quelle: Cristoforo Buondelmonti, Liber insularum Archipelagi, 1465-1475 (Bibliothèque nationale de France, GE FF-9351 RES, f. 37r)/ Gallica/ BNF

Den eigentlichen Weihnachtstag eröffnet Ovet mundus letabundus, eine anonyme Vertonung eines nicht-liturgischen Weihnachtstexte für vier Stimmen aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die ersten traditionellen byzantinischen Morgengesänge an Weihnachten stellen die Pentekostaria-Hymnen dar, mittels derer die jungfräuliche Geburt Jesu betont wird. Das lateinischsprachige O magnum mysterium hat ebendieses Wunder zum Thema, was neuerlich die gemeinsame Tradition verdeutlicht, trotz jahrhundertelanger unterschiedlicher Entwicklung in Ost und West. Mit dem ersten Kanon der Weihnachtsmatutin, des nächtlichen Offiziums zwischen Mitternacht und frühem Morgen, folgt wiederum eine griechische Hymne, die auf Kosmas von Jerusalem im 8. Jahrhundert zurückgeht. Gleich anschließend folgt ein majestätisches kalophonisches Megalynarion von bald neun Minuten Länge. Als westliches Gegenstück erklingt sodann die Sequenz Te laudant alme Rex, gefolgt von Hodie Christus natus est, also die Hervorhebung der heutigen Geburt  Christi. Das griechische Gegenstück stellt der Prolog zum Kontakion des hl. Romanos Melodos dar. Ein Überbleibsel des liturgischen Erbes der Antike, welches sich die griechischen und lateinischen Christen des Mittelalters teilten, war das Singen des Kyrie eleison in der Messe. Hier hat sich der griechische Wortlaut auch im lateinischen Westen erhalten. Das nachfolgende polyphone Gloria in excelsis ist ein anonymes Werk, welches anhand zweier Quellen (Fountains Abbey in Yorkshire und das sogenannte Old Hall Manuscript) rekonstruiert werden konnte. Der Kommunionsvers für den Weihnachtstag schließlich geht zurück auf den Mönch Agathon Korones (erste Hälfte des 14. Jahrhunderts) und beschließt den zweiten Teil.

Den letzten großen lateinischen Gottesdienst, der am 25. Dezember 1400 im Eltham Palace gefeiert wurde, stellt das Abendgebet der zweiten Vesper dar. Als Höhepunkt desselben erklingt das Magnificat mit dem sich anschließenden Antiphon Hodie Christus natus est. Bruchstückhaft ist die polyphone Vertonung dieses Mariengesangs aus dem 15. Jahrhundert an der Universität Cambridge überliefert.

Die künstlerische Qualität dieser Einspielung ist über jeden Zweifel erhaben und bietet einen spannenden Einblick in eine musikalisch nahezu unbekannte Welt fernab des üblichen Repertoires. Hierzu ist es lediglich notwendig, sich auf den für heutige Ohren ungewohnten, teils sehr reduzierten A-Capella-Gesang einzulassen, was aufgrund des ausgezeichneten Klangs idealtypisch erfolgen kann (Aufnahme: The Madeleine Parish, Portland, Oregon, 18.-22. September 2022). Dass die Gesangstexte vollständig auf Griechisch und Lateinisch jeweils nebst englischer Übersetzung abgedruckt sind, versteht sich von selbst. Daniel Hauser

Morbide Opulenz

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Wieder einmal ist das Münchner Rundfunkorchester eine fruchtbringende Verbindung mit dem Palazzetto Bru Zane eingegangen. Am 29. Januar 2023 gab’s  ein Konzert von Jules Massenets Oper Ariane in München, das dann mitgeschnitten beim Palazzetto Bru Zane in dessen CD-Buch-Reihe der Französischen Romantischen Oper im Frühjahr erscheinen wird. Ein schönes Joint-venture, wie man von anderen Unternehmen dieser Art in der Vergangenheit weiß (so die Proserpine von Saint-Saens, Le Tribut de Zamora von Gounod oder dessen Cinq-Mars)

Massenets „Ariane“: Die bedeutende Lucienne Bréval war die Ariane der Uraufführung/ Wikipedia

Die Besetzung war jung (Amina Edris, Marianne Croux, Judith van Wanroij, Kate Aldrich, Julie Robard-Gendre, Jean-François Borras, Yoann Doubrouque, Jean-Sébastien Bou, Philippe Estèphe sowie Chor des Bayerischen Rundfunks und Münchner Rundfunkorchester unter Leitung von Laurent Campellone, der die Oper bereits beim Massenet-Festival in Saint Etienne 2007 dirigierte). Opernliebhaber des Besonderen, die es nicht ins Konzert geschafft haben, konnten am Radio der Live-Übertragung am 29. Januar folgen. Und man muss bei dieser Gelegenheit den wirklich fabelhaften Service des Münchner Rundfunkorchesters loben, der das französisch-deutsche Libretto in drei Druck- (bzw smartphone-) Versionen sowie den nachstehenden Einführungsartikel auf seiner Seite zum Downloaden anbietet, chapeau! das ist gut angewandtes Beitrags-Geld.

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Noch ein Massenet für den Palazzetto, fragt sich der grundsätzliche Opern-Fan? Wäre die Ariane (die es nur auf einem älteren Radio-Mitschnitt gibt/ unten mehr) nicht wirklich eine Rarität, würde man die Augenbrauen sehr hoch ziehen. Andere Palazzetto-Veröffentlichungen – wie die jüngste geplante – sind keine. Die geplante Hérodiade aus Lyon 2022 ist in der Titelpartie fragwürdig besetzt und kommt – wie inzwischen bei manchen Palazzetto-Veröffentlichungen – als Doublette oder sogar Triplette daher, unnötig wie ein Kropf (wie die Péricole oder eine erneute Vestale … Man schüttelt doch den Kopf über der Repertoirepolitik des franco-italienischen Hauses, zumal nicht immer wirklich beglückend gesungen wird).

Wie auch immer, Ariane (Uraufführung: 31. Oktober 1906 an der Pariser Oper/Palais Garnier) ist hoch willkommen. Und deshalb – nach der Konzertkritik – eine Einführung von Florian Heurich aus dem Programmheft des Münchner Rundfunk Orchesters für das besagte Konzert. G. H.

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Und nun die Rezension zur Aufführung von Herbert Schneider: Ein Fest an schmaler Opulenz. Das Herausragende an der konzertanten Aufführung von Massenets später Oper Ariane am 29. Januar 2023 waren für mich die mitwirkenden Herren, der sensationelle Chor und das raumgreifende Münchner Rundfunk Orchester unter Laurent Campellone.

Auf den Damen lag ein Schatten. Was umso bedauerlicher war, als bei der Uraufführung 1906 und späteren Wiederaufnahme 1937 immerhin solche absoluten Stars wie Lucienne Bréval oder die große Germaine Lubin die Titelrollen verkörperten, letztere unterstützt von niemandem Geringeren als Georges Thill in der Partie des Thésée. Und wenn man sich verdeutlicht, dass die Sängerinnen der Pariser Premieren zeitgleich auch Wagners Brünnhilden, Kundrys oder Ortruds sangen, hatte man doch Erwartungen an die Mutigen, die sich diesen Partien nähern.

Diese späten Opern einer sterbenden Epoche, die ihr Ende mit dem 1. Weltkrieg fand, bedürfen der Opulenz, der unglaublichen Eleganz, der Großräumigkeit der Präsentation, um zu wirken. Sie waren für eine uns unvorstellbare Üppigkeit gedacht, für ein müdes, blasiertes Publikum und den Ikonen der Bühne auf den Leib geschrieben. Ihnen nur handwerklich-solide beizukommen, wird ihnen nicht gerecht und kann sie nur blass ins Leben zurückholen, so lobenswert der Versuch auch ist. In München kochte alles auf kleinerer Flamme, liedhafter oft und definitiv lyrisch statt heroisch, wenngleich der Ariane-erfahrene Laurent Campellone an lautem Schmackes nicht sparte und diesem gigantischen Kitschkasten zu einiger orchestraler Wiederbelebung verhalf: weniger die Streicher als vielmehr wunderbare Holzbläser und tolles Blech beim Münchner Rundfunk Orchester, dabei durchaus auch heruntergeschraubt zu leisen Passagen, um die Mitwirkenden nicht im Klang zu ertränken: sehr anständig! Und dazu der wirklich total wortverständliche Chor mit himmlischen Sopranen und sonoren dunklen Stimmen. Man hätte mitschreiben können. Und badete im Klang. Stellario Fagone  sei Dank.

Die solistischen Herren waren exzellent. Der recht helle, mir etwas zu lyrische Jean-Francois Borras gab dem Thésée vielleicht weniger Virilität denn frische Jungenhaftigkeit, aber seine Diktion – wie die seines Bariton-Kollegen Jean-Sébastien Bou als expressiver, schön singender und eben französisch timbrierter Pirithous – war exemplarisch, ein Genuss auch seine geforderte Strahlkraft der nicht sehr großen Tenorstimme. Dazu kamen Philippe Estèphe und Yoann Dubruque in kleineren Partien, ebenfalls hervorragend ebenfalls französisch im Timbre.

Vier Damen waren das Problem. Amina Edriss sang als Mezzo-Ariane in den leiseren Momenten, wenn sie nicht drücken musste, betörend tonal, nicht wirklich wortverständlich und mir viel zu liedhaft. Solange sie über mezzavoce nicht hinausgehen musste, war´s ein Fest an schmaler Opulenz, und das muss man wirklich anerkennen. Im Saal verlor sich dies auch etwas, nachgehört vom Radio fiel´s mir auf. Alles darüber klang eng, hart erarbeitet, in der knappen Höhe dann mit einem auf die Dauer nervenden Metallton, der signalisierte, das Mehr nicht möglich war. Und die Partie ist eindeutig zu groß für sie – die braucht eine Sutherland, Crespin, Esposito, auch Netrebko oder DiDonato, eben eine erfahrene Operndiva der alten Schule. Es ist eine Diven-Partie. Für diese geschrieben. Diese Opern sind nichts für junge Stimmen. Dennoch: Ich war hin-und hergerissen zwischen Bewunderung und Augenbrauenhochziehen. Singen kann Frau Edriss, sans doute, aber vielleicht nicht diese großen Partien, und nicht so hohe und nicht so große.

Der Fleck auf dem reduzierten Gemälde war die schartig gewordene Mezzostimme von Kate Aldrich als Phèdre – wobei nur im Saal klar war, wer wann sang. Am Radio waren die Stimmen oft nicht auseinanderzuhalten (Dank an das Münchner Rundfunkorchester für das auch im dunklen Saal lesbare online-Libretto!). Hier – denke ich – herrscht ein Besetzungsfehler, der sich auf der CD des Palazzetto später rächen wird. Weil Ariane ein dramatischer Sopran mit leuchtender Höhe ist  (Germaine Lubin!) und kein halber Mezzo mit knapper wie Frau Edriss. Kate Aldrich hatte ihre leisen, durchaus lyrisch-schönen Mezzo-Momente, aber unter Druck rettete sie sich auch mal in den scharfen Schrei oder in einen störenden  Brustschnarrer (ihre genannte Kollegin zweimal auch, im letzten Akt). Die Stimme gibt nach, so viele Carmen rächen sich eben.

Julie-Robard-Gendre sang die Perséphone, trotz des allgemeinen Jubels für mich viel zu unruhig und quallig, eindrucksvoll sicher, aber stimmlich bei dem starkem Registerwechsel nicht wirklich ein Gewinn. Und bei einer so tiefliegenden Erda-Ulrica-Stimme erstaunlicher Weise auf Kosten des Wortes (naja, bei dem zum Teil abenteuerlichen Text von Camille Mendès – was für ein Kitsch, wahrlich kein Hoffmannsthal!) Da hatte ihre Rollenkollegin Anne Pareuil in Saint Etienne 2007 wirklich die Nase vor und zeigte, was ein gut geführter französischer Alt ist (nachzuhören bei youtube). Wobei man auch sagen muss, dass Massenet gemeine Intervallsprünge für alle drei Frauenpartien geschrieben hat.

Judith van Wanroij, Hauskraft beim Palazzetto, bei dem das Konzert noch in diesem Jahr veröffentlicht wird, ließ (als erbarmende Göttin Cypris) herbe Verschleißspuren hören, besonders in den scharfen hohen Noten, sie verliert Farbe in der Stimme. Auch hier zu viel oder unzureichende Technik? Und auch Marianne Croux in der kleinen Partie der Eunoe machte stimmlich nicht viel her außer einer hellen, recht unruhigen Stimme. Noch mal zum Lehrer?

Dennoch: Die Begegnung mit diesem Spätwerk eines müden, ausgebufften und vielleicht auch zu erfolgreichen Komponisten war als solche lohnend, verfügt das Werk im Dauerparlando doch über viele schöne Stellen (das Finale allzumal), die in Teilen stark an Wagner erinnern. So in Akt 2 oder das Aufflammen der Leidenschaft in Akt 5 á la Tristan. Anderes erinnert an Lalo (Le Roi d´Ys) und reicht zu Massenets Esclarmonde oder zum Roi de Lahore zurück, so das Klingeling-Ballett im 4. Akt. 1906 war eben schon sehr, sehr spät, und der Rückgriff auf Vergangenes geht einher mit den sozialen/ politischen  Entwicklungen in einem Frankreich nach Versailles. Oper als etwas Spiegel der Gesellschaft zeigt sich auch hier.  Herbert Schneider

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Massenets „Ariane“: Bühnenbild zur Wiederaufführung 1937 an der Pariser Opéra Garnier/ BNF Gallica

Florian Heurich: Nach einer gewissen Fin-de siècle-Opulenz in der Kunst machte sich um 1900 zunehmend ein Interesse an der Antike bemerkbar und damit am Klassischen und Archaischen. Rund fünfzig Jahre zuvor hatte Hector Berlioz mit Les troyens bereits das unumstößliche Monument eines antiken Sujets aus dem Blick der Romantik geschaffen, und insbesondere das Spätwerk von Jules Massenet war dann geprägt von Stoffen aus dem Altertum und der Mythologie. Die 1906 uraufgeführte Ariane steht am Beginn dieser Phase, darauf folgten noch der als Fortsetzung und Partnerstück konzipierte Bacchus (Uraufführung 1909) sowie Roma (1912) und Cléopâtre (posthum 1914). „Es war vor vier oder fünf Jahren, ich hatte gerade Le jongleur de Notre-Dame beendet, als ich zu meinem Verleger sagte: Da ich schon bis ins 13. Jahrhundert zurückgegangen bin, würde ich nun gerne bis in die Antike gehen“, äußerte Massenet wenige Tage vor der Uraufführung von Ariane in einem Zeitungsartikel. Gerade in dieser Oper werden der Klassizismus und die mythologische Geschichte jedoch mit Zutaten aus der Kunst der Jahrhundertwende angereichert: Symbolismus, ein Hang zur Morbidität, Gegenüberstellung von reiner und erotischer Liebe, sinnliche Opulenz, verklärender Erlösungstod, thematische und musikalische Bezüge zu Wagner.

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Massenets „Ariane“: Lucy Arbelle war Massenets Favoritin, mit ihr verband sich eine intime Beziehung; sie sang die Perséphone/ BNF Gallica

Insbesondere in ihrer Wagner-Verehrung fanden sich mit Massenet und seinem Librettisten Catulle Mendès zwei Geistesverwandte. Beide hatten das legendäre Pariser Tannhäuser-Fiasko 1861 miterlebt, Mendès besuchte Wagner 1869 sogar in Tribschen am Vierwaldstättersee und reiste 1876 zu den ersten Festspielen nach Bayreuth. Massenet wiederum sah den Ring in Brüssel und kam 1886 nach Bayreuth. So ist Ariane nicht nur durchzogen von einigen wiederkehrenden Motiven, durch die Massenet an Wagners Leitmotivtechnik anknüpft, es gibt bisweilen auch Bezüge zu Wagners Gedankengut und zu inhaltlichen Elementen: Die Sirenen am Beginn und am Ende erinnern etwa an die Rheintöchter, der Kampf Thésées mit dem Minotaurus an Siegfrieds Drachenkampf, und in Arianes Tod schwingt die Idee eines erlösenden Selbstopfers mit. (Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass die beiden Sopranistinnen Lucienne Bréval und Louise Grandjean, die bei der Uraufführung Ariane und Phèdre sangen, fast zeitgleich in Paris und an anderen europäischen Bühnen als Brünnhilde, Isolde oder Kundry zu hören waren. In der Aufführung von 1937 war die große Germaine Lubin als Ariane zu erleben, ebenfalls eine berühmte Wagner-Sängerin. G. H.)

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Gleichzeitig ist Massenets Oper über den in der Ägäis angesiedelten Ariadne-Mythos aber auch ein mediterraner Gegenentwurf zur germanischen Sagenwelt und ein Aufbruch in eine neue künstlerische Phase mit einem neuen Themenbereich. Die zuvor entstandenen Opern Grisélidis (Uraufführung 1901) und Le jongleur de Notre-Dame (1902) sowie das über viele Jahre sich hinziehende Projekt Amadis (posthum 1922) spielten allesamt in einem mittelalterlichen Umfeld, und mit Chérubin (1905) wurde ein stilisiertes Rokoko-Ambiente à la Mozart heraufbeschworen.

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Massenets „Ariane“: Lucien Muratore war der erste Thésée/ BNF Gallica

Bei Catulle Mendès hatte es Massenet dann mit einem der prominentesten französischen Literaten des späten 19. Jahrhunderts zu tun, den eine gewisse Exzentrik umgab und in dessen Werken die Dekadenz des Fin de siècle mitschwingt. Die 1904 begonnene gemeinsame Arbeit an Ariane, die später mit Bacchus fortgesetzt werden sollte, gestaltete sich jedoch als schwierig. Obwohl – oder gerade weil – die beiden Künstler ästhetisch und gedanklich auf einer Wellenlänge lagen, führten Misstrauen und Animositäten dazu, dass sich ihre Treffen auf das absolut Notwendige beschränkten. Gegenüber der Öffentlichkeit beteuerte Massenet jedoch immer wieder die gegenseitige Inspiration: „Schon in unserem ersten Gespräch, noch bevor ich selbst etwas über die Themen, an die ich gedacht hatte, gesagt hatte, sprach der Dichter den Namen Ariadne aus: Das war mehr als genug, um mich dazu zu bringen, meine Gedanken zu präzisieren.“

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Im Oktober 1905 war das Werk fertig, und die Uraufführung am 31. Oktober 1906 im Palais Garnier geriet zu einem großen Erfolg, sodass die Oper 61 Mal gegeben wurde, bevor man sie 1908 aus dem Programm nahm. Insbesondere der III. Akt, der auf der Insel Naxos spielt und mit seinen vielfältigen Personenkonstellationen, Gefühlsumschwüngen, zentralen Handlungsmomenten und musikalischen Höhepunkten der komplexeste des Stücks ist, erhielt einhelliges Lob, und die Arie der Perséphone aus dem vierten Akt musste jeden Abend wiederholt werden. Diese nur in einer kurzen Episode auftauchende Rolle hatte Massenet eigens für die junge Mezzosopranistin Lucy Arbell (mit bürgerlichem Namen Georgette Wallace) konzipiert, inspiriert durch deren Anregungen während eines Sommeraufenthaltes in ihrem Haus in Saint-Aubin-sur-Mer in der Normandie im August 1905. Überhaupt hatte er den in die Unterwelt führenden IV. Akt nur dieser Sängerin zuliebe in die Oper eingefügt, und als Widmung schrieb er in den Klavierauszug: „In zärtlicher und dankbarer Erinnerung an das liebe Haus in St-Aubin schenke ich Fräulein Georgette Wallace dieses Manuskript, von dem ein ganzer Akt für Lucy Arbell von der Opéra komponiert wurde.“

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Massenets „Ariane“: Szene aus der Aufführung in Saint-Etienne/ OMSTE

Neben Perséphone, dieser Figur der Unterwelt, die sich in zarter Melancholie nach allem Lebenden sehnt, haben Massenet und Mendès mit den drei Hauptfiguren Ariane, ihrer Schwester Phèdre und Thésée zwar ein klassisches Liebesdreieck aus Ehefrau, Nebenbuhlerin und untreuem Mann geschaffen, durch die familiären Beziehungen der beiden Frauen eröffnet sich jedoch ein breites Gefühlspektrum zwischen den Figuren. Zärtliche Hingabe und lodernde Passion treffen auf schwesterliche Liebe und Eifersucht. Als vierte Hauptfigur repräsentiert Pirithoüs genau jene kämpferische Kraft, die Thésée zunehmend seinen sentimentalen Gefühlen und seiner Zerrissenheit zwischen den zwei Frauen und damit zwischen Liebe und Leidenschaft opfert.

Massenets „Ariane“: Jean-Francois Delmas war der Périthoués der Uraufführung/ BNF Gallica

Mendès, der in seinen ausführlichen Szenenanweisungen sehr konkret die Schauplätze, Situationen und das Bühnengeschehen beschreibt, entwirft auch sehr genaue Charaktere: „Ariane ist die instinktive, absolute Liebe, ohne intellektuelle Hindernisse, ohne subtilen Unterton: die Liebe, die mit sich selbst zufrieden ist und sich mit allem abfindet, solange es Liebe bleibt. Ariane ist die zarte Frau, die sogar Lügen und Beleidigungen akzeptiert, solange sie geliebt wird und vor allem, solange sie liebt. […] Phèdre ist die vom Schicksal aufgezwungene Liebe, die Fatalität der Leidenschaft. […] Thésée ist die junge, sehr starke und sehr charmante Männlichkeit.“

Massenet zeichnet all diese kontrastierenden Charaktereigenschaften in der Musik nach. So ist Ariane erfüllt von lyrischer Innigkeit, während Phèdre eine zum Teil durchaus dramatische Partie voller expressiver Ausbrüche zu bewältigen hat. Schon bei ihrem ersten Auftritt, wenn Ariane a cappella in höchster Lage von ihrem „zerbrechlichen Körper“ singt, der „zu schwach für so viel Liebe“ ist, in dem darauffolgenden Gebet an die Liebesgöttin und in ihrer Arie „La fine grâce de sa force“, deren Melodie im weiteren Verlauf der Oper noch mehrmals motivisch auftaucht, offenbart sich der zarte Charakter der Titelfigur. Ihre Schwester hingegen präsentiert sich mit exaltierten Rufen von hinter der Bühne und einer wilden Verfluchung eben dieser Göttin Aphrodite. Auch während des nachfolgenden Kampfes Thésées mit dem Minotaurus werden die beiden so unterschiedlichen Frauentypen deutlich: Die eine wagt kaum hinzuschauen, die andere beobachtet voller Faszination das blutige Geschehen – die Lichtgestalt Ariane einerseits und andererseits das Nachtwesen Phèdre, die Kriegerin, die sich der Jagdgöttin Artemis verschrieben hat. Unter Fanfaren erscheint schließlich Thésée als strahlender Held, der das Ungeheuer besiegt hat, und man feiert die Abreise der drei.

Der II. Akt nimmt uns mit auf das Schiff, auf dem Ariane, Phèdre und Thésée durch die Ägäis segeln, und in der sanft wiegenden ersten Szene werden all die Inseln aufgezählt und bestaunt, an denen man vorbeifährt: Delos, Paros, Melos, Andros, Lemnos. Damit ist die passende Atmosphäre geschaffen für das sinnliche Zwiegespräch von Ariane und Thésée. In diese Meeresidylle bricht Phèdre quasi als Vorbotin des Sturms ein, der sogleich ausbricht, begleitet von Phèdres rasender Anrufung des Hades. Dieser Akt, in dem sich das Gefühlsleben der Figuren in den unberechenbaren Naturgewalten widerspiegelt, endet in der Idylle des Anfangs. Dadurch kündigt sich die Insel Naxos, an der das Schiff anlegen wird, als paradiesischer Sehnsuchtsort an.

Der auf dieser Insel spielende III. Akt, das Herzstück der Oper, galt schon bei der Uraufführung als „großartiges Meisterwerk, das von allen Seiten bejubelt wurde“. Man sieht Thésée, der zunehmend Arianes überdrüssig wird, man sieht die Zuneigung zwischen den beiden Schwestern in einem intimen Duett – und die Gewissensbisse Phèdres, die sich schließlich doch zu einem leidenschaftlichen Liebesduett mit Thésée hinreißen lässt. Arianes Monolog bildet den emotionalen Höhepunkt des Akts, wenn sie erkennt, dass sie sowohl von der Schwester als auch vom Ehemann betrogen wurde. Schließlich siegt jedoch die schwesterliche Liebe, als ein Trauerzug den Tod Phèdres ankündigt. Ariane beschließt, die Schwester aus der Unterwelt zurück ins Leben zu holen.

Der IV. Akt, in dem Ariane in den Hades hinabsteigt, wirkt wie ein musikalisch und theatralisch wirkungsvolles Intermezzo, das durch das morbide, irreale Ambiente und die episodisch vorkommende Figur der Perséphone die eigentliche Handlung für einen Moment unterbricht. Perséphone, die Göttin der Unterwelt, taucht hier als melancholische Weltschmerzfigur auf und damit als ein weiterer Kontrast zur strahlenden Ariane. Hier kommen auch die Dekadenz des Fin de siècle und der Symbolismus des Librettos am deutlichsten zum Ausdruck, etwa indem Perséphone durch eine schwarze Lilie charakterisiert ist, während Arianes frische Rosen ein Stück Leben in das Reich der Toten bringen. Auch die Ballettszene, der Widerstreit der drei Furien und der drei Grazien, lässt diesen Akt als dunkle, allegorische Episode innerhalb der mythologischen Liebesgeschichte erscheinen.

Florian Heurich ist Autor, Musikjournalist und Videoredakteur und lebt in München. Er schreibt und produziert Reportagen und Features für BR-Klassik, den SWR, den MDR und andere ARD-Anstalten über Themen in den Bereichen Oper, Literatur, Neue Musik und Weltmusik. Er schreibt für die Publikationen der Staatstheater Stuttgart und produziert Videoformate für die Bayerische Staatsoper und die Salzburger Osterfestspiele.

Als ein regelrechter Coup de théâtre taucht Ariane mit der wieder zum Leben erweckten Phèdre im letzten Akt aus der sich öffnenden Erde auf und vereint die Schwester mit Thésée, während sie selbst verzichtet. Wenn sie am Ende dem Gesang der Sirenen folgend ins Meer geht, dann weist diese letzte Szene durchaus beabsichtigte Parallelen zu Wagners Rheintöchtern auf. Nach einem letzten ekstatischen Monolog verschmilzt Arianes Stimme mit denen der Wasserwesen, und sie wird eins mit dem Meer, das bereits zuvor ein zentrales Motiv der Oper war – als Spiegel der Emotionen, zerstörerisch und erlösend zugleich. Florian Heurich 

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Verbreitung: Ariane, Oper in 5 Akten von Jules Massenet, Libretto von Catulle Mendès, Uraufführung: 31. Oktober 1906 an der Pariser Oper/Palais Garnier, Erstaufführungen in Brüssel 1907, Turin 1907, Buenos Aires 1908; Wiederaufnahme an der Pariser Oper nach dem Brand 1937; 1977 London mit Stella Wright und Paul Agnew unter Fraser Goulding; 2007 in Saint-Etienne mit Cécile Perrin, Barbara Ducretet und Luca Lombardo unter Laurent Campellone. Die beiden modernen Dokumente leiden unter ihren Hauptdarstellerinnen. Die Londoner ist klanglich zu muffig, die aus Saint-Etienne bei youtube hat einen unnötigen Recitant und trotz kompetenter Kollegen die ausgesungene Cécile Perrin am Ende einer unverständlichen Karriere… G. H.

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Sehr herzlichen Dank an den Musikwissenschaftler und Autor Florian Heurich sowie an Doris Sennefeld vom Münchner Rundfunkorchester für die Erlaubnis zur Übernahme der Texte aus den Programmheften des Münchner Rundfunkorchesters 29. Januar 2023. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier