Gebührende Wiederentdeckung

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„Was Strauß einst war für Wien – ist Lincke für Berlin!“ Anlässlich des 75. Geburtstages des Berliner Komponisten Paul Lincke im Jahre 1941 dichtete der Komiker Franz Heigl diese zutreffenden Zeilen. Endlich scheint sich diese alte Erkenntnis auch in der Schallplattenindustrie nach Jahrzehnte langem Dornröschenschlaf neuerlich durchzusetzen. Das umtriebige Label cpo bringt früher als erwartet Vol. 2 der Ouvertüren Linckes (cpo 555 448-2). Wie in Vol. 1 sind neun Stücke enthalten und selbst die Gesamtspielzeit ist mit 66 Minuten identisch.

Auch wenn Lincke als Schöpfer der Berliner Operette das Gegenstück zu Johann Strauss Sohn darstellt, so waren seine eigentlichen Vorbilder eigentlich Jacques Offenbach, Franz von Suppè und Carl Millöcker, was sich anhand der Instrumentation nachweisen lässt.

Chronologisch den Anfang macht mit Sinnbild (1898) einer von Linckes wenigen klassischen Konzertwalzern. Dieser entstand während seiner Pariser Zeit. Den eigentlichen Durchbruch feierte der Komponist nach seiner Rückkehr nach Berlin mit der Operette Frau Luna (1899), deren relativ kompakte Ouvertüre die Einleitung zu dieser Neuerscheinung darstellt. Die Operette, die am Apollo-Theater zum größten Erfolg geriet, soll übrigens demnächst komplett bei cpo erscheinen. Noch aus demselben Jahr 1899 stammt auch die eingängige Ouvertüre zu Im Reiche des Indra, exotisch in Indien verortet. Schon in dieser Orchesterintroduktion wird die berühmte Melodie von Wenn auch die Jahre enteilen zitiert, einst im Repertoire jedes bedeutenden Operettensängers. Mit Nakiris Hochzeit (1902) geht es sodann nach Thailand. Die schon in Vol. 1 enthaltene Siamesische Wachtparade entstammt derselben Operette und wurde zum Gassenhauer.

Die ganz große Zeit der Lincke-Einakter war bereits 1906 vorüber, als er mit Das blaue Bild eine sogenannte Fantasie in einem Akt präsentierte. Deren französisch angehauchte Ouvertüre erschien allerdings erst 1911 einzeln. Aus dieser Zeit stammt auch der eindrucksvolle Brandbrief-Galopp. Doch gelang es dem einfallsreichen Lincke, sich schon 1908 neu zu erfinden mittels seiner legendär gewordenen Jahresrevuen am Metropoltheater.

Nach ein paar insgesamt vergeblichen Versuchen, in den letzten Friedensjahren vor dem Ersten Weltkrieg mit großen dreiaktigen Operetten nach Wiener Vorbild zu punkten, gab Lincke 1917 die Komposition für die Bühne zunächst gänzlich auf. Es folgten Ouvertüren nach dem bewährten alten Muster, nun allerdings völlig losgelöst von einem Bühnenstück. Die Ouvertüre zu einer Revue (1928) stellt mustergültig diesen neuen Typus dar, der stilistisch indes aus der Zeit gefallen war und den Entwicklungen der jungen Weimarer Republik nicht Rechnung trug. Insofern war die Wiederentdeckung Linckes nach 1933 nicht zufällig, passte sein modernen Tendenzen fremder Ansatz doch zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. Mit der Ouvertüre zu einer Festlichkeit komponierte er 1933 gar seine herausragendste und ausgedehnteste Ouvertüre überhaupt, die er indes erst im Zuge seines groß begangenen 70. Geburtstages drei Jahre später in Druck geben ließ.

Frau Luna feierte in einem abendfüllenden Neuarrangement nicht mehr für möglich gehaltene Erfolge und wurde gar von Theo Lingen mit Lizzi Waldmüller verfilmt. Nach viel gutem Zureden schuf Lincke mit Ein Liebestraum dann 1940 nach jahrzehntelanger Pause seine letzte Operette, die er im Nürnberg der Meistersinger des 15. Jahrhunderts ansiedelte. Die ihr vorangestellte Ouvertüre stellte insofern auch den Schlusspunkt in Linckes sinfonischem Schaffen dar.

Die Einspielungen entstanden zwischen 10. und 16. Dezember 2020 in der Messehalle 1 in Frankfurt (Oder) und lassen klanglich keine Wünsche offen. Die Textbeilage (auf Deutsch und Englisch) ist rundum geglückt. Eine in jeder Hinsicht vorbildliche Neuerscheinung. Daniel Hauser

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Wenn sich das traditionelle Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker in der Waldbühne seinem Ende zuneigt, erklingt ebenso geläufig mit Berliner Luft die altüberlieferte Zugabe, die weit über Berlin hinaus, wo sie gar als inoffizielle Hymne der Hauptstadt gilt, Berühmtheit besitzt, deren Komponist aber mittlerweile selbst vielen Berlinern kein Begriff mehr sein dürfte: Paul Lincke, am 7. November 1866 selbstredend ebendort in Berlin geboren. Der Vater der spezifischen Berliner Operette stand in seiner Bedeutung zeitweilig Johann Strauss Sohn sowie Jacques Offenbach nicht nach. Anders als in Wien und Paris, ist die Lincke-Pflege nach dem Zweiten Weltkrieg indes mehr und mehr im Sande verlaufen. Dies dürfte nicht zuletzt an der durch die Nazis beförderten Wiederentdeckung liegen, die er und seine Musik während des Dritten Reiches erlebten. Da lagen seine besten Jahre eigentlich bereits lange hinter ihm. Seine größte Popularität erlebte Lincke in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreiches, dem er persönlich bis zuletzt verbunden blieb. Nach dem Ersten Weltkrieg waren seine Operetten, die zwischen 1897 und 1913 in rascher Abfolge erschienen waren, bereits nicht mehr gefragt. Bezeichnend, dass es 1940, also zur Zeit seiner unverhofften Renaissance, mit Ein Liebestraum noch eine letzte solche Komposition geben sollte. Nach Kriegsende 1945 ins Visier der Siegermächte gerückt, wurde Lincke in der amerikanischen und britischen Besatzungszone gar mit einem Auftrittsverbot belegt, auch wenn dieses nicht konsequent eingehalten wurde. Eine Anklage wegen möglicher NS-Kollaboration kam freilich auch nicht zustande. Gesundheitlich bereits angeschlagen, verstarb Paul Lincke am 3. September 1946, kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag, im Kurort Hahnenklee bei Goslar.

Paul Lincke im Jahre 1905/ Wikipedia

Unverhofft nimmt sich nun nach Jahrzehnte langer unverdienter Nichtbeachtung – die letzten nennenswerten Lincke-Platten erschienen in den 1960ern – das Label cpo der Musik Paul Linckes an. Eine Reihe der sämtlichen Ouvertüren wurde soeben mit Vol. 1 eingeläutet (555 428-2). Die mit 66 Minuten recht gut bestückte Disc umfasst neun Nummern, davon vier Operettenouvertüren im eigentlichen Wortsinn: Mit den orchestralen Einleitungen zu Venus auf Erden (1897), Lysistrata (1902), Grigri (1911) und Casanova (1913) wurde chronologisch eine geschickte Auswahl getroffen. Hinzu tritt die Ouvertüre zur Burleske Berliner Luft (1904), die selbstredend die berühmte Melodie enthält. Diesen Ouvertüren gemein ist eine Länge zwischen sechs und zehn Minuten, also vergleichsweise ausgedehnte Vorspiele, die sich mehr an den Vorbildern Offenbachs und Franz von Suppès orientieren als an den Wiener Operetten um 1900, die meist mit nur kurzen Orchestereinleitungen auskamen. Für den Freund sinfonischer Musik ist dies freilich durchaus vorteilhaft, zeichnen sich Linckes schwungvolle Ouvertüren doch durch große Sorgfalt und die Anlehnung an bedeutende Vorbilder bis zurück zu Haydn aus. Hinsichtlich seiner Instrumentationskünste steht Lincke dem als genial anerkannten Franz Lehár nicht nach. Als Nachzügler gesellt sich die sog. Ouvertüre zu einer Operette (1926) hinzu, ein Vorspiel ohne Werk, die tatsächlich problemlos auch zwei Jahrzehnte davor hätte entstanden sein können. Überhaupt passte der Komponist seinen Stil nicht vermeintlichen Erfordernissen der neuen Zeit an, sondern blieb sich im Prinzip bis zuletzt treu. Bereits mit der ebenfalls für sich allein stehenden Ouvertüre zu einem Ballett (1919) komponierte er zu Beginn der Weimarer Republik unbeirrbar genauso weiter, als gäbe es den von ihm verehrten Kaiser noch und ließ mit einer Reminiszenz an Rossini die alten Zeiten wiederaufleben. Als meisterhaft und eine seiner besten Kompositionen darf die knapp zehnminütige Walzerfolge Verschmähte Liebe (1897) gelten. Eines seiner populärsten Stücke stellt die gerade gut dreiminütige sog. Siamesische Wachtparade aus der Operette Nakiris Hochzeit, oder: Der Stern von Siam (1902) dar. Überhaupt ist eine Tendenz zum Exotischen bei Lincke zuweilen unverkennbar. Die Libretti zu seinen Operetten steuerte fast ausschließlich sein Freund Heinrich Bolten-Baeckers (1871-1938) bei, der auch für den Text der Berliner Luft verantwortlich zeichnete. Dabei bediente man sich teils auch aus heutiger Sicht grenzwertiger Sujets wie im Falle der Titelfigur in Grigri der Lieblingstochter eines „Negerkönigs“ in Afrika.

Mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt unter der Leitung des in diesem Repertoire bewanderten Dirigenten Ernst Theis konnte man idiomatische Kräfte verpflichten, deren Darbietung insgesamt wenig zu wünschen übriglässt. Einzig die Berliner Luft hätte man sich vielleicht noch ein wenig stürmischer erhofft; hier bleibt die Konkurrenzaufnahme bei Marco Polo unter John Georgiadis vorzuziehen (8.225366). Die Klangqualität der im November 2020 in der Messehalle 1 in Frankfurt (Oder) eingespielten cpo-Produktion ist anstandslos auf dem gewohnten hohen Niveau. Sehr pointiert fällt der Einführungstext von Stefan Frey aus.

Es bleibt zu hoffen, dass das Label aus Osnabrück diese sehr begrüßenswerte Reihe baldigst fortsetzt. Es harrt noch u. a. die Ouvertüre zur Operette Im Reiche des Indra (1899), deren Wenn auch die Jahre enteilen zum geradezu massentauglichen Schlager avancierte. Daniel Hauser