Archiv des Autors: Daniel Hauser

Isländische Orchesterwerke für die Bühne

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Island nimmt innerhalb der Musikgeschichte der nordischen Länder eine Sonderrolle ein. Spärlich ist die isländische Tradition der klassischen Musik zu nennen, was schon daran liegt, dass es bis 1921 kein landeseigenes Orchester gab und bis 1930 auch kein isländisches Konservatorium. Insofern kann auf gerade ein Jahrhundert zurückgeblickt werden. Der landläufig vermutlich bekannteste Komponist Islands war Jón Leifs (1899-1968), der gleichwohl wiederum einen skurrilen Außenseiter darstellt, nicht typisch ist für die klassische Musik Islands, und dessen schroffes und exzentrisches Werk mitunter als die lauteste Musik überhaupt beworben wurde. Diskographisch ist Leifs allerdings vergleichsweise sehr gut abgedeckt, was so für Páll Ísólfsson (1893-1974), den Begründer der Musikschule Reykjavík, mitnichten gilt. Bis dahin musste eine Ausbildung zum klassischen Musiker zwingend im Ausland erfolgen, in diesem Falle in Leipzig. Anders als Leifs kehrte Ísólfsson nach Beendigung seines Studiums in seine Heimat zurück und wirkte dort nicht nur als Direktor der besagten Reykjavíker Musikschule (1930-1957), sondern war daneben auch Leiter der Musikabteilung des Isländischen Rundfunks (1930-1959) und Organist der Domkirche zu Reykjavík (1939-1968). Die Komponistin Jórunn Vidar (1918-2017) konnte aufgrund der Pionierarbeit Ísólfssons dann als Vertreterin der nächsten Generation isländischer Musikschöpfer bereits am Konservatorium der Landeshauptstadt ihre Studien beginnen.

Das Label Chandos bringt nun eine hochinteressante Scheibe auf den Markt (CHSA 5319), die sich der Musik von Ísólfsson und Vidar annimmt. Es zeichnet, idiomatisch astrein, verantwortlich das Isländische Sinfonieorchester unter der Leitung des britischen Dirigenten Rumon Gamba.

Jeweils zwei Werke der beiden Komponisten wurden berücksichtigt, im Falle von Ísólfsson zwei Bühnenmusiken aus den 1940er Jahren. Die Schauspielmusik zum Drama Das Fest auf Solhaug von Henrik Ibsen (1943) entstand mitten im Zweiten Weltkrieg unter denkbar schwierigen Bedingungen. Obwohl Reykjavík seinerzeit bloß um die 40.000 Einwohner hatte, gelang es, eine eigene Theatergruppe, ein Orchester und das notwendige Publikum dafür zu mobilisieren. Es war als Akt der Solidarität für das deutsch besetzte Norwegen zu verstehen. Die fünfsätzige Bühnenmusik, die einer Suite ähnelt, besteht aus einer Ouvertüre, einem Hochzeitsmarsch, einem norwegischen Volkstanz, dem Portrait eines Bergkönigs und einem abschließenden Trauermarsch und kommt auf eine Länge von einer knappen Viertelstunde. Die Schauspielmusik für Aus Jónas Hallgrímssons Bilderbuch (1945) war gar noch ehrgeiziger und trug patriotischere Züge, war doch die Loslösung Islands von der Krone Dänemark im Vorjahr erfolgt. Der isländische Poet Jónas Hallgrímsson (1807-1845) gilt in seinem Heimatland als Nationalheld. Die Bühnenmusik ist in diesem Falle für bloßes Streichorchester gesetzt, daher leichtgewichtiger, dauert ebenfalls knapp 14 Minuten und umfasst sechs Sätze: ein Vorspiel, einen Marsch, ein Menuett, ein Volkslied sowie abschließend ein Paar isländischer Volkstänze. Wer den gewöhnungsbedürftigen und zuweilen enervierenden Tonfall Leifs‘ im Ohr hat, wird mit Freude feststellen, dass Ísólfsson sich einer deutlich gemäßigteren und letztlich gefälligeren, mehr in der Nachfolge Griegs stehenden musikalischen Sprache bedient, die authentisches Lokalkolorit aufweist.

Jórunn Vidar ist mit Ballettmusik vertreten, zum einen Eldur (Feuer) von 1950, eine knapp zehnminütige Komposition, bei der nach den Worten des Komponisten folgende Bilder in den Sinn kommen: „lodernde Freudenfeuer, Stichflammen, Fanale, Fackeln, Glut, Asche“. Das Feuer, zu Beginn durch einen Feuerstein entfacht, durchläuft verschiedene Phasen, erlischt zwischenzeitlich auch, nur um letztlich wieder aufzuflammen und alles zu verschlingen. Das Ballett wurde zusammen mit der Tänzerin Sigrídur Ármann konzipiert und gelangte als erstes Ballett des neuen Nationaltheaters von Reykjavík auf die Bühne. Dasselbe Team Vidar/Ármann schuf zwei Jahre später auch Ólafur Liljurós, ein Handlungsballett nach einer im Norden sehr geläufigen Volksballade. Diese handelt von Ólafur, der vier Elfinnen begegnet und von diesen betört wird, ihnen aber widersteht und an seinem Gott (in einer Version Christus) festhalten will. Schließlich ringt eine Elfe dem Helden einen Kuss ab, währenddessen sie ihm indes ein zuvor verstecktes Schwert ins Herz stößt. Die kunstvolle Ballettmusik ist etwa halbstündig und untergliedert sich in acht Nummern. Auch die Tonsprache Vidars ist tonal, allenfalls dezent modern und insofern hörbar der Tradition verpflichtet, wobei man durchaus eine Vorbildwirkung gerade Ísólfssons heraushören kann.

Der künstlerische Wert dieser Produktion darf geflissentlich als auf höchstem Niveau bezeichnet werden. Klanglich lässt die Einspielung zudem keine Wünsche offen und liegt neben der gewöhnlichen CD-Spur auch im hochauflösenden SACD-Format, sowohl stereophon als auch als Mehrkanalton, vor (Aufnahme: Eldborg, Harpa, Reykjavík, 13.-15. Juni 2022). Die Textbeilage fällt labeltypisch vorbildlich aus (Einführungstext von Paul Griffiths auf Englisch, Deutsch und Französisch). Insgesamt eine echte Bereicherung für Freunde nordeuropäischer Musik, die Neuentdeckungen aus der Peripherie gegenüber aufgeschlossen sind (13. 03. 23). Daniel Hauser

Gebührende Wiederentdeckung

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„Was Strauß einst war für Wien – ist Lincke für Berlin!“ Anlässlich des 75. Geburtstages des Berliner Komponisten Paul Lincke im Jahre 1941 dichtete der Komiker Franz Heigl diese zutreffenden Zeilen. Endlich scheint sich diese alte Erkenntnis auch in der Schallplattenindustrie nach Jahrzehnte langem Dornröschenschlaf neuerlich durchzusetzen. Das umtriebige Label cpo bringt früher als erwartet Vol. 2 der Ouvertüren Linckes (cpo 555 448-2). Wie in Vol. 1 sind neun Stücke enthalten und selbst die Gesamtspielzeit ist mit 66 Minuten identisch.

Auch wenn Lincke als Schöpfer der Berliner Operette das Gegenstück zu Johann Strauss Sohn darstellt, so waren seine eigentlichen Vorbilder eigentlich Jacques Offenbach, Franz von Suppè und Carl Millöcker, was sich anhand der Instrumentation nachweisen lässt.

Chronologisch den Anfang macht mit Sinnbild (1898) einer von Linckes wenigen klassischen Konzertwalzern. Dieser entstand während seiner Pariser Zeit. Den eigentlichen Durchbruch feierte der Komponist nach seiner Rückkehr nach Berlin mit der Operette Frau Luna (1899), deren relativ kompakte Ouvertüre die Einleitung zu dieser Neuerscheinung darstellt. Die Operette, die am Apollo-Theater zum größten Erfolg geriet, soll übrigens demnächst komplett bei cpo erscheinen. Noch aus demselben Jahr 1899 stammt auch die eingängige Ouvertüre zu Im Reiche des Indra, exotisch in Indien verortet. Schon in dieser Orchesterintroduktion wird die berühmte Melodie von Wenn auch die Jahre enteilen zitiert, einst im Repertoire jedes bedeutenden Operettensängers. Mit Nakiris Hochzeit (1902) geht es sodann nach Thailand. Die schon in Vol. 1 enthaltene Siamesische Wachtparade entstammt derselben Operette und wurde zum Gassenhauer.

Die ganz große Zeit der Lincke-Einakter war bereits 1906 vorüber, als er mit Das blaue Bild eine sogenannte Fantasie in einem Akt präsentierte. Deren französisch angehauchte Ouvertüre erschien allerdings erst 1911 einzeln. Aus dieser Zeit stammt auch der eindrucksvolle Brandbrief-Galopp. Doch gelang es dem einfallsreichen Lincke, sich schon 1908 neu zu erfinden mittels seiner legendär gewordenen Jahresrevuen am Metropoltheater.

Nach ein paar insgesamt vergeblichen Versuchen, in den letzten Friedensjahren vor dem Ersten Weltkrieg mit großen dreiaktigen Operetten nach Wiener Vorbild zu punkten, gab Lincke 1917 die Komposition für die Bühne zunächst gänzlich auf. Es folgten Ouvertüren nach dem bewährten alten Muster, nun allerdings völlig losgelöst von einem Bühnenstück. Die Ouvertüre zu einer Revue (1928) stellt mustergültig diesen neuen Typus dar, der stilistisch indes aus der Zeit gefallen war und den Entwicklungen der jungen Weimarer Republik nicht Rechnung trug. Insofern war die Wiederentdeckung Linckes nach 1933 nicht zufällig, passte sein modernen Tendenzen fremder Ansatz doch zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. Mit der Ouvertüre zu einer Festlichkeit komponierte er 1933 gar seine herausragendste und ausgedehnteste Ouvertüre überhaupt, die er indes erst im Zuge seines groß begangenen 70. Geburtstages drei Jahre später in Druck geben ließ.

Frau Luna feierte in einem abendfüllenden Neuarrangement nicht mehr für möglich gehaltene Erfolge und wurde gar von Theo Lingen mit Lizzi Waldmüller verfilmt. Nach viel gutem Zureden schuf Lincke mit Ein Liebestraum dann 1940 nach jahrzehntelanger Pause seine letzte Operette, die er im Nürnberg der Meistersinger des 15. Jahrhunderts ansiedelte. Die ihr vorangestellte Ouvertüre stellte insofern auch den Schlusspunkt in Linckes sinfonischem Schaffen dar.

Die Einspielungen entstanden zwischen 10. und 16. Dezember 2020 in der Messehalle 1 in Frankfurt (Oder) und lassen klanglich keine Wünsche offen. Die Textbeilage (auf Deutsch und Englisch) ist rundum geglückt. Eine in jeder Hinsicht vorbildliche Neuerscheinung. Daniel Hauser

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Wenn sich das traditionelle Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker in der Waldbühne seinem Ende zuneigt, erklingt ebenso geläufig mit Berliner Luft die altüberlieferte Zugabe, die weit über Berlin hinaus, wo sie gar als inoffizielle Hymne der Hauptstadt gilt, Berühmtheit besitzt, deren Komponist aber mittlerweile selbst vielen Berlinern kein Begriff mehr sein dürfte: Paul Lincke, am 7. November 1866 selbstredend ebendort in Berlin geboren. Der Vater der spezifischen Berliner Operette stand in seiner Bedeutung zeitweilig Johann Strauss Sohn sowie Jacques Offenbach nicht nach. Anders als in Wien und Paris, ist die Lincke-Pflege nach dem Zweiten Weltkrieg indes mehr und mehr im Sande verlaufen. Dies dürfte nicht zuletzt an der durch die Nazis beförderten Wiederentdeckung liegen, die er und seine Musik während des Dritten Reiches erlebten. Da lagen seine besten Jahre eigentlich bereits lange hinter ihm. Seine größte Popularität erlebte Lincke in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreiches, dem er persönlich bis zuletzt verbunden blieb. Nach dem Ersten Weltkrieg waren seine Operetten, die zwischen 1897 und 1913 in rascher Abfolge erschienen waren, bereits nicht mehr gefragt. Bezeichnend, dass es 1940, also zur Zeit seiner unverhofften Renaissance, mit Ein Liebestraum noch eine letzte solche Komposition geben sollte. Nach Kriegsende 1945 ins Visier der Siegermächte gerückt, wurde Lincke in der amerikanischen und britischen Besatzungszone gar mit einem Auftrittsverbot belegt, auch wenn dieses nicht konsequent eingehalten wurde. Eine Anklage wegen möglicher NS-Kollaboration kam freilich auch nicht zustande. Gesundheitlich bereits angeschlagen, verstarb Paul Lincke am 3. September 1946, kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag, im Kurort Hahnenklee bei Goslar.

Paul Lincke im Jahre 1905/ Wikipedia

Unverhofft nimmt sich nun nach Jahrzehnte langer unverdienter Nichtbeachtung – die letzten nennenswerten Lincke-Platten erschienen in den 1960ern – das Label cpo der Musik Paul Linckes an. Eine Reihe der sämtlichen Ouvertüren wurde soeben mit Vol. 1 eingeläutet (555 428-2). Die mit 66 Minuten recht gut bestückte Disc umfasst neun Nummern, davon vier Operettenouvertüren im eigentlichen Wortsinn: Mit den orchestralen Einleitungen zu Venus auf Erden (1897), Lysistrata (1902), Grigri (1911) und Casanova (1913) wurde chronologisch eine geschickte Auswahl getroffen. Hinzu tritt die Ouvertüre zur Burleske Berliner Luft (1904), die selbstredend die berühmte Melodie enthält. Diesen Ouvertüren gemein ist eine Länge zwischen sechs und zehn Minuten, also vergleichsweise ausgedehnte Vorspiele, die sich mehr an den Vorbildern Offenbachs und Franz von Suppès orientieren als an den Wiener Operetten um 1900, die meist mit nur kurzen Orchestereinleitungen auskamen. Für den Freund sinfonischer Musik ist dies freilich durchaus vorteilhaft, zeichnen sich Linckes schwungvolle Ouvertüren doch durch große Sorgfalt und die Anlehnung an bedeutende Vorbilder bis zurück zu Haydn aus. Hinsichtlich seiner Instrumentationskünste steht Lincke dem als genial anerkannten Franz Lehár nicht nach. Als Nachzügler gesellt sich die sog. Ouvertüre zu einer Operette (1926) hinzu, ein Vorspiel ohne Werk, die tatsächlich problemlos auch zwei Jahrzehnte davor hätte entstanden sein können. Überhaupt passte der Komponist seinen Stil nicht vermeintlichen Erfordernissen der neuen Zeit an, sondern blieb sich im Prinzip bis zuletzt treu. Bereits mit der ebenfalls für sich allein stehenden Ouvertüre zu einem Ballett (1919) komponierte er zu Beginn der Weimarer Republik unbeirrbar genauso weiter, als gäbe es den von ihm verehrten Kaiser noch und ließ mit einer Reminiszenz an Rossini die alten Zeiten wiederaufleben. Als meisterhaft und eine seiner besten Kompositionen darf die knapp zehnminütige Walzerfolge Verschmähte Liebe (1897) gelten. Eines seiner populärsten Stücke stellt die gerade gut dreiminütige sog. Siamesische Wachtparade aus der Operette Nakiris Hochzeit, oder: Der Stern von Siam (1902) dar. Überhaupt ist eine Tendenz zum Exotischen bei Lincke zuweilen unverkennbar. Die Libretti zu seinen Operetten steuerte fast ausschließlich sein Freund Heinrich Bolten-Baeckers (1871-1938) bei, der auch für den Text der Berliner Luft verantwortlich zeichnete. Dabei bediente man sich teils auch aus heutiger Sicht grenzwertiger Sujets wie im Falle der Titelfigur in Grigri der Lieblingstochter eines „Negerkönigs“ in Afrika.

Mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt unter der Leitung des in diesem Repertoire bewanderten Dirigenten Ernst Theis konnte man idiomatische Kräfte verpflichten, deren Darbietung insgesamt wenig zu wünschen übriglässt. Einzig die Berliner Luft hätte man sich vielleicht noch ein wenig stürmischer erhofft; hier bleibt die Konkurrenzaufnahme bei Marco Polo unter John Georgiadis vorzuziehen (8.225366). Die Klangqualität der im November 2020 in der Messehalle 1 in Frankfurt (Oder) eingespielten cpo-Produktion ist anstandslos auf dem gewohnten hohen Niveau. Sehr pointiert fällt der Einführungstext von Stefan Frey aus.

Es bleibt zu hoffen, dass das Label aus Osnabrück diese sehr begrüßenswerte Reihe baldigst fortsetzt. Es harrt noch u. a. die Ouvertüre zur Operette Im Reiche des Indra (1899), deren Wenn auch die Jahre enteilen zum geradezu massentauglichen Schlager avancierte. Daniel Hauser

Ein Engländer namens German

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Edward wer? Kommt die Rede auf Edward German (1862-1936), 1928 vom britischen König Georg V. zum Sir geadelt, so dürfte die Resonanz hierzulande eher verhalten ausfallen. Geboren in Whitchurch, Shropshire, als Sohn eines englischen Spirituosenhändlers, der sich kurioserweise auch als Laienprediger betätigte, kam er – Geburtsname German Edward Jones – bereits früh mit Musik in Berührung. 1880 schließlich an der ehrwürdigen Royal Academy of Music, änderte er seinen Namen zunächst in J. E. German und später in die heute geläufige Form. Der Grund war eigentlich ganz trivial: Er wollte nicht mit einem Kommilitonen namens Edward Jones verwechselt werden. Mit Deutschland hat sein Name übrigens nichts zu tun, handelt es sich doch um eine anglisierte Form des walisischen „Garmon“. Neben Komposition umfassten seine Studien Orgel und Violine. Früh wurde man auf sein Talent aufmerksam. Schon 1885 wurde an der Royal Academy sein Te Deum aufgeführt, 1886 bereits seine erste komische Oper The Two Poets. Auslandsaufenthalte führten ihn unter anderem zu den Bayreuther Festspielen. Sein Œuvre war breit aufgestellt und umfasste fast alle musikalischen Gattungen. 1901 vervollständigte er Sullivans letzte Oper The Emerald Isle und galt in der Folge als dessen legitimer Nachfolger, was ihn fortan aber auch auf die sogenannte „leichte Klassik“ festlegte. Besonders Merrie England (1902) und Tom Jones (1907) erfreuten sich langanhaltender Beliebtheit. Daneben waren es gerade Bühnenmusiken – primär für Werke von Shakespeare –, für die German berühmt wurde, angefangen bei Richard III (1889) über Henry VIII (1892), Romeo and Juliet (1895), As You Like It (1896), Much Ado about Nothing (1898) bis hin zu The Conqueror (1905). Trotz seiner großen Popularität zu Lebzeiten, inklusive der Bewunderung durch niemanden Geringeren als Sir Edward Elgar, und einiger großer Fürsprecher auch danach – darunter Sir John Barbirolli –, ist German, vielleicht abgesehen von Merrie England, weitestgehend in der Versenkung verschwunden.

Naxos legt nun dankenswerterweise eine bereits fast 30 Jahre alte Produktion neu auf, die einst auf dem Entdecker-Label Marco Polo erschienen ist (8.555228). Enthalten sind die 1893 komponierte Sinfonie Nr. 2 a-Moll Norwich, die Germans letzten Beitrag zu dieser Gattung darstellt (Nr. 1 entstand 1887), sowie die Welsh Rhapsody von 1904 und die Valse gracieuse von 1895 in der revidierten Fassung von 1915. Verantwortlich zeichnet der in diesem Repertoire bewährte Dirigent Andrew Penny mit dem National Symphony Orchestra of Ireland. Die Einspielung wurde am 29. und 30. März 1994 in der National Concert Hall in Dublin produziert. Tatsächlich stellen die Marco Polo/Naxos-Produktionen, die noch einige CDs mehr umfassen, bis heute das Gros in der schmalen German-Diskographie dar. Soweit ersichtlich, wurden lediglich die zweite Sinfonie und die Valse gracieuse seither ein weiteres Mal aufgenommen (2007 mit dem BBC Concert Orchestra unter John Wilson für Dutton). Die Textbeilage (Einführung von David Russell Hulme) ist erfreulich ausführlich, wenn auch labeltypisch bloß auf Englisch.

Edward Germans nach der ostenglischen Stadt Norwich benannte viersätzige Sinfonie Nr. 2 stellt ein im Vergleich zur Vorgängerin gewichtigeres Werk dar (die Spieldauer beträgt eine gute halbe Stunde). Beide haben sie ihren Ursprung in des Komponisten akademischen Lehrjahren. Obschon von der zeitgenössischen Kritik durchaus gewürdigt, führten Selbstzweifel Germans dazu, dass er niemals eine dritte Sinfonie vollenden sollte. Über Jahrzehnte lag die Partitur der Zweiten auch bloß als Arrangement für zwei Klaviere im Druck vor. Erst 1931 entschloss sich der bereits hochbetagte German zu einer Drucklegung der Orchesterfassung, welche tatsächlich neuerlich Interesse an dem Werk entfachte. Obgleich der Komponist betonte, dass sich nicht viel „Altenglisches“ in der Sinfonie befinde, stellt sie eine der bedeutendsten britischen Sinfonien des späten 19. Jahrhunderts und vor Elgar dar. Majestätisch der zehnminütige Kopfsatz, schlicht und anmutig zugleich der sich anschließende langsame Satz (acht Minuten). Im spritzigen fünfminütigen Scherzo zeigen sich am ehesten operettenartige Züge. Beschlossen wird das Werk mit einem an den Beginn gemahnenden Finalsatz (achteinhalbminütig), der breit und choralartig eröffnet wird. Theatralisch klingt die Sinfonie schließlich aus und lässt den Bühnenkomponisten durchscheinen.

Die Welsh Rhapsody, knapp 20-minütig, ist heutzutage vermutlich das am häufigsten aufgeführte Orchesterwerk Germans. Den Eindruck, den es beim Cardiff Musical Festival 1904 schindete, war ganz beträchtlich. Obwohl dem Titel nach eine Rhapsodie, zeigen sich doch sinfonische Züge. So hat German selbst in der Partitur die vier Abschnitte wie folgt betitelt: I. Loudly Proclaim, II. Hunting the Hare – Bells of Aberdovey, III. David of the White Rock und IV. Men of Harlech. Anklänge an Musik aus Wales sind freilich auszumachen, was dem Stück besonders die Anerkennung der Waliser bescherte. Es war im Übrigen auch das letzte eigene Orchesterwerk, welches Edward German öffentlich dirigierte (1927 passenderweise in Aberystwyth, Wales).

Die sechseinhalbminütige Valse gracieuse schließlich ist eigentlich der zweite von insgesamt vier Sätzen der sinfonischen Suite Leeds (1895). Obwohl German auch in diesem Falle die Bezeichnung als Sinfonie vermied, sind derartige Anklänge nicht ganz abzustreiten. Mit einem Wiener Walzer hat diese Valse wenig zu tun, eher findet sich noch ein dezenter französischer Touch, wenngleich sie im Grunde ein Musterbeispiel für den Typus des schnellen englischen Walzers darstellt. Das Stück gibt bereits eine Vorahnung auf die Melodien in Merrie England und letztlich sogar schon auf Eric Coates.

Die künstlerische Darbietung ist, wie angedeutet, tadellos und von den Tontechnikern dankenswerterweise sehr adäquat eingefangen worden. Wer nun Lust auf mehr Edward German bekommen hat, dem seien die ebenso exzellenten Produktionen von Dutton ans Herz gelegt, wo u. a. die erste Sinfonie und die komplette Leeds-Suite vorgelegt wurden. Daniel Hauser

Hallo London: Besuch aus Byzanz

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Das goldene Byzanz mit seiner Hauptstadt Konstantinopel (heute Istanbul) lag bereits in seinen letzten Zügen, als es zu einer historisch bedeutsamen Zusammenkunft kam, die Ost und West zusammenführte. Die Reise von Manuel II. Palaiologos (1350-1425), dem drittletzten byzantinischen Kaiser (reg. 1391-1425), nach Westeuropa in den Jahren 1399 bis 1403 war zuvörderst ein Hilfeschrei gen Westen, das über tausendjährige Römische Reich, dessen östlicher Teil anachronistisch später als „byzantinisch“ bezeichnet wurde, vor der osmanischen Bedrohung zu retten. Bereits damals bestand das Imperium, das einst das Mittelmeer umspannt hatte, fast bloß noch aus Konstantinopel, welches an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert nur mehr etwas über 50.000 Einwohner vorzuweisen hatte und sich seit 1394 einer Belagerung durch die Osmanen ausgesetzt sah. Manuel II. besuchte im Zuge seiner Reise Italien, Frankreich und zum Jahreswechsel 1400/01 eben auch England. Diesem einzigen Besuch eines oströmischen Kaisers auf der Insel widmet das Label Capella Records nun eine mit A Byzantine Emperor at King Henry’s Court – Christmas 1400, London betitelte Neuerscheinung (CR427). Mit King Henry ist der englische König Heinrich IV. (1367-1413) gemeint, der erst kurz davor als Usurpator auf den Thron gekommen war und die Dynastie des Hauses Lancaster, einer Nebenlinie der Plantagenets, etablierte. Opernfreunden dürfte dieser König von England durch Verdis Falstaff und Nicolais Lustige Weiber von Windsor zumindest peripher ein Begriff sein, sind beide Shakespeare-Vorlagen doch in dessen Regierungszeit (reg. 1399-1413) angesiedelt.

Bei Capella Records handelt es sich im Übrigen um das Eigenlabel der 1991 von Alexander Lingas in Portland, Oregon, gegründeten Cappella Romana. Das Ensemble hat sich auf slawische und byzantinische Musik in deren Originalsprache spezialisiert und sich in der Vergangenheit in diesem Bereich große Meriten erworben. Die Neuerscheinung – übrigens eine hybride SACD, die auch das Mehrkanalton-Format aufweist – ist bereits die 30. Veröffentlichung der Portlander. Frühere Erscheinungen widmeten sich beispielsweise den Hymnen der legendären byzantinischen Komponistin Kassia aus dem 9. Jahrhundert und dem Fall von Konstantinopel im Jahre 1453. Bereits mit der Namenswahl bewies Lingas, Musikwissenschaftler und langjähriger Professor an der City University in London und nun in Cambridge, das richtige Händchen für historische Zusammenhänge, bezieht sich die Bezeichnung als „Römische Kapelle“ doch auf das byzantinische Konzept der römischen Oikumene, also der gesamten bewohnten damals bekannten Welt. Die sogenannten Byzantiner betrachteten sich selbst bis zuletzt als Rhomaioi, also als Römer (Rhomäer), auch wenn sie im lateinischen Westen „Griechen“ genannt wurden. Das A-Cappella-Ensemble besteht jedenfalls aus zwei Sopranistinnen, zwei Altistinnen, drei Tenören, einem Bariton und drei Bassisten, sämtlich ausgewiesenen Spezialisten für dieses exotische Gebiet der Alten Musik.

Vom musikalischen Leiter Alexander Lingas stammt auch der vorzügliche, sehr umfassende und mit Quellenverweisen angereicherte Einführungstext (allerdings nur auf Englisch), der wichtige und unerlässliche Hintergrundinformationen bietet. Die Zusammenkunft von byzantinischem Kaiser und englischem König war nicht zuletzt eben auch ein direktes Aufeinandertreffen von östlicher und westlicher Musik. Nach seinem Aufbruch im Dezember 1399 war Kaiser Manuel II. zunächst über Italien nach Paris gereist, wo ihn der französische König Karl VI. im Juni 1400 mit allen Ehren empfing. Die Hauptstadt Frankreichs wurde in den kommenden zwei Jahren dann auch die Ausgangsbasis für den Autokrator der Rhomäer in seinen Beziehungen zu den Herrschern des lateinischen Abendlandes. Im Oktober 1400 war Manuels Besuch in England diplomatisch auf den Weg gebracht worden, so dass der Kaiser samt seines Gefolges zunächst ins seinerzeit noch englische Calais übersiedelte. Am 11. Dezember 1400 kam es schließlich zur Kanalüberquerung nach Dover, wo ihn zunächst der Klerus von Canterbury willkommen hieß. Am 21. Dezember 1400 kam es dann endlich zum Herrschertreffen in Blackheath bei London. Das Weihnachtsfest verlebte der Kaiser als Ehrengast des Königs im Eltham Palace. Nach den Festtagen wurde die Konstantinopeler Delegation in London als Gast des Johanniterordens beherbergt. Die tiefe Frömmigkeit des Kaisers und seines Hofstaates im Verbund mit Manuels asketischer und doch kaiserlicher Ausstrahlung beeindruckte die Engländer nachhaltig. Wirklich bedeutsame finanzielle oder militärische Unterstützung konnte ihm Heinrich indes nicht liefern, so dass Manuel im Februar 1401 nach Paris zurückkehrte, wobei ein Teil seiner Abordnung in England verblieb, um die Verhandlungen weiterzuführen. Eine kostbare Reliquie aus Konstantinopel, ein Stück des nahtlosen Gewandes der Gottesgebärerin und Jungfrau Maria, wurde Englands König in diesem Zusammenhang zum Geschenk gemacht. Da die Versuche, Waffenhilfe zu erlangen, auch dort fruchtlos blieben, reiste der Kaiser von Byzanz im November 1402 nach Konstantinopel zurück, wo er bei seiner Rückkehr im Juni 1403 immerhin feststellen konnte, dass die osmanische Belagerung infolge der Niederlage Sultan Bayezids gegen Tamerlan in der Schlacht bei Ankara (28. Juli 1402) nach achtjähriger Dauer mittlerweile aufgehoben worden war.

Charles, Duke of Orléans, in the Tower of London from a 15th-century manuscript/ Quelle: Gedichte von Herzog Karl von Orléans, Brügge 1483 u. 1492-1500 (British Library, Royal MS 16 F II, f. 73r)/ Wikipedia

An Weihnachten 1400 kamen im Eltham Palace die Kleriker und Sänger sowohl der kaiserlich byzantinischen als auch der königlich englischen Hofkapelle zusammen. Genaue Quellenbeschreibungen der dort gespielten Musik haben sich erhalten, einzig der Hinweis auf prächtige und aufwendige Festlichkeiten. Die englischen Chronisten berichten jedenfalls von täglichen Gottesdiensten der kaiserlichen Geistlichen. Aufgrund des seinerzeitigen Schismas zwischen der römisch-katholischen und griechisch-orthodoxen Kirche ist anzunehmen, dass beide Monarchen an Festgottesdiensten teilnahmen, die gemäß ihren jeweiligen Riten gefeiert wurden. Dies ermögliche eine Rekonstruktion der Inhalte mittels anderweitiger Text- und musikalischer Quellen.

Hinsichtlich des heute sogenannten byzantinischen Ritus ist bedauerlicherweise nichts über die Musik bekannt, die im Zuge dessen von Blechbläser, Holzbläsern und Schlagwerk gespielt wurde – eine musikalische Notation ist hier praktisch nicht existent. Geläufig ist dafür die Vokalmusik der sogenannten Prokypsis durch liturgische Sammlungen aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Stilistisch mannigfaltig, reicht diese von einfachen Formen der Psalmodie und traditionellen Melodien für vorwiegend syllabische Hymnodien bis hin zu anspruchsvollen und teils langatmigen Werken in kalophonischem („schön klingendem“) Idiom. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts standen in der kaiserlichen Kapelle die Gesänge zweier Schüler des Protopsaltis (Erster Kantor) Johannes Glykes (Mitte 13. Jahrhundert-um 1320) im Mittelpunkt: Der hl. Johannes Papadopoulos Koukouzeles (vor 1270-vor 1341) und Xenos Korones (spätes 13. Jahrhundert-Mitte 14. Jahrhundert).

Was die englische Hofkapelle betrifft, befand sich diese um 1400 in einer bereits unter Richard II. (reg. 1377-1399) begonnenen und unter Heinrich V. (reg. 1413-1422) gipfelnden personellen Vergrößerung. Für das Weihnachtsfest 1400 sind 33 Mitglieder belegt, wovon in den frühen Regierungsjahren Heinrichs IV. üblicherweise 18 reife Sänger waren, etwa fünf jüngere Sänger und neun bis zehn Chorknaben. Liturgisch bediente man sich des sogenannten Sarum Use, des Salisburger Ritus.

Trotz aller offenkundigen Unterschiedlichkeit, die sich schon in den beiden Sprachen Griechisch und Latein zum Ausdruck kamen, gab es auch Parallelen. So gab es weder in Byzanz noch in England seinerzeit einen wirklich einheitlichen, überall identischen Ritus, sondern lokale Unterschiede. Man stützte sich da wie dort auf traditionelle Gesänge, die ein Gros der im Gottesdienst gesungenen Musik ausmachten. Während spätbyzantinische Komponisten vor allem um die Virtuosität bedacht waren, war man im englischen Falle um eine Verschönerung der Musik durch Mehrstimmigkeit bemüht. Improvisierte Polyphonie scheint im frühen 15. Jahrhundert die Regel gewesen zu sein. Infolge des Bruchs im religiösen Leben in England nach der protestantischen Reformation ist bedauerlicherweise kein einziges Manuskript englischer Polyphonie aus dem 14. Jahrhundert erhalten geblieben. Aus den erhaltenen Fragmenten lässt sich erahnen, dass die komplexesten Werke der seinerzeitigen englischen Polyphonie Massensätze und Motetten für vier Stimmen waren, wobei eine Ähnlichkeit zu kontinentalen Komponisten wie Guillaume de Machaut (um 1300-1377) festzustellen ist.

Die Capella Romana versucht aus den genannten Gründen keine strenge Rekonstruktion, die aufgrund der Quellenlage unmöglich erscheint, sondern bedient sich einer Auswahl von Gesang und Polyphonie zur Geburt Christi, welche stilistisch das Repertoire der byzantinischen und englischen Kapelle um 1400 repräsentiert. Hierbei war eine gewisse Flexibilität unabdingbar. So stellt man die Musik in eine ungefähre liturgische Reihenfolge, beginnend mit dem Heiligen Abend und endend mit dem Magnificat für den Gottesdienst der zweiten Vesper, die am Abend des 25. Dezember gefeiert wird. Die griechische und lateinische Auswahl legt Wert auf gemeinsame Themen und parallele musikalische Technik. Tatsächlich ist die Quellenlage hinsichtlich der byzantinischen Musik um 1400 aufgrund der Klosterbibliotheken des Sinai und des Bergs Athos in diesem Falle sogar die bessere.

Mit dem lateinischen Iudea et Hierusalem, einem Responsoriumsgesang, beginnt die Vesper für die Vigil der Geburt des Herrn am Heiligen Abend. Byzantinischerseits wird auf dem Höhepunkt der neunten Stunde an Heiligabend zunächst die Anwesenheit des Kaisers besungen und anschließend Akklamationen für ihn und seine Familie dargebracht. Danach kam der Kaiser in vollem Ornat hinter einem Vorhang hervor, betrat die Bühne (Prokypsis) und empfing den Beifall des versammelten Hofes. Auf Reisen war dieses Zeremoniell reduziert und wurde auf die Fanfaren der Blechblasinstrumente verzichtet, die in Konstantinopel ebenfalls beteiligt gewesen wären. Gleichsam als Coda beendet ein sogenanntes Polychronion die Abfolge der Huldigungen.

Eine Abbildung von Konstantinopel um 1420/Quelle: Cristoforo Buondelmonti, Liber insularum Archipelagi, 1465-1475 (Bibliothèque nationale de France, GE FF-9351 RES, f. 37r)/ Gallica/ BNF

Den eigentlichen Weihnachtstag eröffnet Ovet mundus letabundus, eine anonyme Vertonung eines nicht-liturgischen Weihnachtstexte für vier Stimmen aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die ersten traditionellen byzantinischen Morgengesänge an Weihnachten stellen die Pentekostaria-Hymnen dar, mittels derer die jungfräuliche Geburt Jesu betont wird. Das lateinischsprachige O magnum mysterium hat ebendieses Wunder zum Thema, was neuerlich die gemeinsame Tradition verdeutlicht, trotz jahrhundertelanger unterschiedlicher Entwicklung in Ost und West. Mit dem ersten Kanon der Weihnachtsmatutin, des nächtlichen Offiziums zwischen Mitternacht und frühem Morgen, folgt wiederum eine griechische Hymne, die auf Kosmas von Jerusalem im 8. Jahrhundert zurückgeht. Gleich anschließend folgt ein majestätisches kalophonisches Megalynarion von bald neun Minuten Länge. Als westliches Gegenstück erklingt sodann die Sequenz Te laudant alme Rex, gefolgt von Hodie Christus natus est, also die Hervorhebung der heutigen Geburt  Christi. Das griechische Gegenstück stellt der Prolog zum Kontakion des hl. Romanos Melodos dar. Ein Überbleibsel des liturgischen Erbes der Antike, welches sich die griechischen und lateinischen Christen des Mittelalters teilten, war das Singen des Kyrie eleison in der Messe. Hier hat sich der griechische Wortlaut auch im lateinischen Westen erhalten. Das nachfolgende polyphone Gloria in excelsis ist ein anonymes Werk, welches anhand zweier Quellen (Fountains Abbey in Yorkshire und das sogenannte Old Hall Manuscript) rekonstruiert werden konnte. Der Kommunionsvers für den Weihnachtstag schließlich geht zurück auf den Mönch Agathon Korones (erste Hälfte des 14. Jahrhunderts) und beschließt den zweiten Teil.

Den letzten großen lateinischen Gottesdienst, der am 25. Dezember 1400 im Eltham Palace gefeiert wurde, stellt das Abendgebet der zweiten Vesper dar. Als Höhepunkt desselben erklingt das Magnificat mit dem sich anschließenden Antiphon Hodie Christus natus est. Bruchstückhaft ist die polyphone Vertonung dieses Mariengesangs aus dem 15. Jahrhundert an der Universität Cambridge überliefert.

Die künstlerische Qualität dieser Einspielung ist über jeden Zweifel erhaben und bietet einen spannenden Einblick in eine musikalisch nahezu unbekannte Welt fernab des üblichen Repertoires. Hierzu ist es lediglich notwendig, sich auf den für heutige Ohren ungewohnten, teils sehr reduzierten A-Capella-Gesang einzulassen, was aufgrund des ausgezeichneten Klangs idealtypisch erfolgen kann (Aufnahme: The Madeleine Parish, Portland, Oregon, 18.-22. September 2022). Dass die Gesangstexte vollständig auf Griechisch und Lateinisch jeweils nebst englischer Übersetzung abgedruckt sind, versteht sich von selbst. Daniel Hauser

Melitta Muszely

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Mit der Wiener Sopranistin Melitta Muszely, geboren am 13. September 1927, verliert die Musikwelt eine der letzten Repräsentantinnen der Goldenen Ära des Gesangs. Wie der Nachname vermuten lässt, war ihre Familie eigentlich aus Ungarn stämmig und insofern eine typische Erscheinung der ehemaligen Donaumonarchie. Die Muszely studierte neben Gesang auch Klavier am Konservatorium ihrer Heimatstadt und debütierte 1950 im ostbayerischen Regensburg, wo sie zwei Jahre lang Ensemblemitglied blieb und dann zunächst nach Kiel wechselte. Zwischen 1954 und 1970 war sie fest an der Hamburgischen Staatsoper verpflichtet und wirkte an einigen Opernuraufführungen wie Ernst Kreneks Pallas Athene weint (1955) und Giselher Klebes Figaro lässt sich scheiden (1963) mit. Gastverträge verbanden sie mit der Deutschen Staatsoper Berlin (1955-1960), der Komischen Oper Berlin (1955-1961), der Wiener Staatsoper (1963-1967) und der Volksoper Wien (1963-1968); ferner gastierte sie am Opernhaus Zürich. International war sie zudem in Paris, Venedig und Lissabon gern gesehener Gast und wirkte bei den Festspielen von Salzburg und Edinburgh mit. Ihr Repertoire war vielfältig und ging u. a. von diversen Mozartpartien wie Susanna, Donna Elvira und Pamina sowie Beethovens Marzelline über Weber (Agathe), Bizet (Micaëla), Wagner (Elsa, Wellgunde), Verdi (Violetta, Desdemona, Leonore, Mrs. Ford) und Tschaikowski (Tatjana, Lisa) bis hin zu Richard Strauss (Sophie, Arabella, Daphne) und gar Menotti (Magda in The Consul). Auch im Operettenfach war sie vielbeschäftigt unterwegs (darunter Werke von Suppè, Johann Strauss Sohn, Millöcker, Lehár und Robert Stolz). Bereits 1957 wurde sie zur Kammersängerin der Berliner Staatsoper ernannt. Ihre aktive Bühnenkarriere endete 1972, ein Jahr nach ihrer endgültigen Rückübersiedlung nach Wien, infolge der Erkrankung ihres Ehemannes und Managers Alfred Filippi, doch blieb sie auch danach als Lied- und Konzertsängerin tätig (ein Liederabend zuletzt noch 2008). Daneben wirkte sie als Gesangspädagogin bis ins hohe Alter. Vielfach ausgezeichnet, erhielt sie das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse (1998) und die Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Gold (1999). Noch im vergangenen Herbst konnte sie bei guter Gesundheit ihr 95. Lebensjahr vollenden. Melitta Muszely starb, wie erst jetzt bekannt wurde, bereits am 18. Jänner 2023 in ihrer Geburtsstadt Wien (Foto Melitta Muszely in Hoffmanns Erzählungen in der Filmversion von Walter Felsenstein 1970/ Arthaus Musik, Henschel Verlag, © Clemens Kohl). Daniel Hauser

Siegfried Kurz

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Mit Siegfried Kurz, der sich nicht nur als Dirigent, sondern auch Komponist einen Namen machte, verliert die musikalische Welt eine der prägenden Persönlichkeiten des Musiklebens der ehemaligen DDR. Am 18. Juli 1930 in Dresden geboren, absolvierte Kurz in seiner Heimatstadt ein Studium der Komposition, Orchesterleitung und Trompete. Bereits 1949 wurde er zum Leiter der Schauspielmusik an den Staatstheatern in Dresden berufen, was er bis 1960 verblieb. Im selben Jahr wechselte er an die Dresdner Staatsoper, wo er in rascher Abfolge vom Staatskapellmeister (1964) und Generalmusikdirektor (1971) bis zum geschäftsführenden musikalischen Oberleiter (1976) aufstieg. Ab 1984 war Kurz als ständiger Kapellmeister und zeitweiliger GMD an der Deutschen Staatsoper Berlin tätig. Als Dozent (1976) und später als Professor (1979) wirkte er parallel an der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ Dresden. Siegfried Kurz wurde vielfach ausgezeichnet, so als zweifacher Nationalpreisträger der DDR (1976 und 1988). Als Komponist bediente er sich zunächst eines neoklassizistischen Stils, später zuweilen auch mit Einflüssen der Zwölftonmusik angereichert, und schrieb u. a. zwei Sinfonien, jeweils ein Konzert für Klavier, Violine und Horn sowie zwei Streichquartette. Für das DDR-Staatslabel Eterna spielte Kurz u. a. die fünfte Sinfonie von Tschaikowski, deutschsprachige Querschnitte des Don Pasquale von Donizetti sowie des Rigoletto von Verdi und ein Opernrecital mit Ute Trekel-Burckhardt ein. Siegfried Kurz ist am 8. Jänner 2023 in seiner Geburtsstadt Dresden im 93. Lebensjahr stehend verstorben. Daniel Hauser

Idiomatischer „Sturm“ aus Dänemark

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Shakespeares The Tempest (Der Sturm) wurde häufig vertont. Eine der gelungensten musikalischen Adaptionen stammt vom finnischen Komponisten Jean Sibelius. Die komplette Bühnenmusik, opus 109, datiert auf die Jahre 1925/26 und stellt somit eines seiner Spätwerke dar, kurz vor seiner letzten Tondichtung Tapiola vollendet. Wiewohl diese Bühnenmusik, auf Finnisch Stormen, zuweilen zu seinen stärksten Kompositionen gerechnet wird, wurde sie zumindest komplett selten eingespielt. In ihrer vollen Form für Solisten, Chor und Orchester gesetzt, handelt es sich um ein einstündiges Werk. Erst zweimal wurden Gesamteinspielungen vorgelegt, so von Osmo Vänskä für BIS und von Jukka-Pekka Saraste für Ondine, beide auf 1992 datierend. Diskographisch sind die beiden abgespeckten, rein orchestralen Suiten Nr. 1 op. 109/2 und Nr. 2 op. 109/3 besser repräsentiert.

Naxos legt nun nach drei Jahrzehnten eine Neuaufnahme der vollständigen Bühnenmusik vor (8.574419). Verantwortlich zeichnet mit dem mittlerweile 76-jährigen Okko Kamu ein Veteran der finnischen Dirigentenschule. Ihm zur Seite stehen das Königlich Dänische Orchester (das sich bis 1448 zurückverfolgen lässt) und der Chor der Königlich Dänischen Oper. Kein Wunder, dass die Einspielung in Kopenhagen entstand (Live-Mitschnitt vom 10. Oktober 2021 aus dem Königlichen Opernhaus). Als Solisten agieren die Mezzosopranistinnen Hanne Fischer (Ariel) und Kari Dahl Nielsen (Juno), der Tenor Fredrik Bjellsäter (Stephano), der Bariton Palle Knudson (Caliban) sowie der Bassist Nicolai Elsberg (Tinculo), allesamt Solisten der genannten Königlich Dänischen Oper. Dies ist wiederum kein Zufall, fand doch bereits die Uraufführung des Auftragswerkes am 15. März 1926 in der dänischen Hauptstadt statt. Dies erklärt dann auch, wieso auf Dänisch gesungen wird (Übersetzung des Shakespeare-Textes durch Edvard Lembcke).

Kamu schlägt mit knapp 65 Minuten Gesamtspielzeit moderate Tempi an, langsamer als Saraste (57 Minuten), aber etwas flotter als Vänskä (67 Minuten), der sich insbesondere in der dramatischen Ouvertüre mehr Zeit lässt. Der ausgereifte Spätstil von Sibelius lässt zu keinem Augenblick Zweifel an der Güte des Werkes aufkommen. Kamu und sein dänisches Ensemble wissen dies kongenial umzusetzen. Trotz Live-Bedingungen sind Publikumsgeräusche nahezu nicht vorhanden. Die Gesangsleistungen sind sämtlich (Chor und Solisten) auf hohem Niveau und mit der notwendigen Idiomatik dargeboten. Klanglich übertrifft die Neueinspielung diejenige von Ondine und ist gar noch einen Hauch unmittelbarer als die bereits für sich genommen sehr gute von BIS.

Das Booklet fällt für Naxos-Verhältnisse erstaunlich ausführlich aus und liegt mitsamt des Gesangstextes auf Englisch und auf Dänisch abgedruckt vor. Insgesamt eine wichtige Ergänzung der überschaubaren Diskographie und womöglich die neue Referenz. Daniel Hauser

Weit mehr als nur „Der Vampyr“

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Obwohl er einer der führenden romantische Opernkomponisten Deutschlands zwischen Weber und Wagner war, fristet Heinrich Marschner (1795-1861) seit langem ein Schattendasein und wird auf den Bühnen kaum aufgeführt. Dies drückt sich nicht zuletzt auch in der mageren Diskographie aus, wo selbst seine beiden populärsten Opern, Der Vampyr (1828) und Hans Heiling (1833), unzureichend vertreten sind. Wieder einmal ist es Naxos zu verdanken, sich eines zu Unrecht Vergessenen anzunehmen. Die kompletten Ouvertüren und die Bühnenmusik Marschners sollen sukzessive erscheinen. Vol. 1 ist bereits auf dem Markt (Naxos 8.574449).

Von den fünf inkludierten Werken sind sage und schreibe vier Weltersteinspielungen. Die einzige Nichtpremiere stellt die kaum fünfminütige Ouvertüre zur Oper Der Holzdieb nach Johann Friedrich Kinds Lustspiel (1823) dar. Mit der Ouvertüre zur Oper Der Kyffhäuser Berg (1816) – adaptiert nach der Volkslegende von August von Kotzebue – legt man erstmals die Einleitung zu Marschners frühestem Bühnenwerk überhaupt vor. Der damals gerade 21-Jährige zeigt indes schon hier eine unbestreitbare Befähigung zur Tonschöpfung. Bei den drei übrigen Werken handelt es sich um Schauspielmusik, wie sie im 19. Jahrhundert eine Hochblüte erlebte. Von Schön Ella – für Kinds Volkstrauerspiel nach der unheimlichen Ballade Lenore von Gottfried August Bürger – und Ali Baba, oder Die vierzig Räuber – für Karl Gottlob Theodor Winklers Schauspiel – (beide 1823) inkludiert das Label nicht bloß die hörenswerten Ouvertüren, sondern auch weitere Instrumentalstücke, darunter diverse Entr’actes und die recht umfängliche Ballettmusik. Die Ouvertüre zum Liederspiel Die Wiener in Berlin von Karl Eduard von Holtei (1825), humoristisch auf die kulturellen Unterschiede zwischen Österreichern und Preußen referierend, stellt den Abschluss der mit gut 71 Minuten ordentlich bestückten CD dar.

Eine wirkliche Individualität mag diesen frühen Werken aus des Komponisten Dresdner und Leipziger Phase zwar letztlich noch etwas abgehen, doch sind bereits hier das melodiöse Talent Marschners und sein Einfallsreichtum unverkennbar. Für die Einspielungen zeichnet abermals das sehr bewährte Tschechische Philharmonische Kammerorchester Pardubice unter dem Dirigenten Dario Salvi verantwortlich. Glücklicherweise tut sich bei den Pardubitzern zu keinem Moment das Gefühl eines zu dünnen Streicherklanges auf, wie es bei Kammerensembles teilweise der Fall ist. Dafür sorgt auch die von der Tontechnik sehr adäquat eingefangene Akustik im Hause der Musik zu Pardubice in der Tschechischen Republik (Aufnahme: 24.-26. und 31. Jänner 2022). Die Textbeilage (nur auf Englisch) ist ausreichend informativ. Daniel Hauser

Authentizität in historischem Klang

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Von einem Komponisten selbst dirigierte Einspielungen seiner Werke genießen ein besonderes Maß an Authentizität. In relativ wenigen Fällen liegen der Nachwelt derartige Beispiele von im späten 19. Jahrhundert sozialisierten Tonschöpfern vor, denkt man beispielsweise an Richard Strauss, Jean Sibelius oder Edward Elgar. Ralph Vaughan Williams, geboren 1872 und gestorben 1958, fällt fraglos in diese Kategorie. In England einer der beliebtesten Komponisten und häufig auf den Konzertprogrammen, fristet er auf dem Kontinent bis heute eher ein Schattendasein. An Aufnahmen besteht freilich kein Mangel, was maßgeblich an der hohen Wertschätzung in der angelsächsischen Welt seit der Frühzeit der elektrischen Tonaufnahme liegt. Das britische Label Somm bringt nun, pünktlich zum 150. Geburtstag von RVW, eine weitere Disc in ihrer Reihe Vaughan Williams Live (SOMM Ariadne 5019-2).

Die Doppel-CD umfasst insgesamt vier Werke, darunter zwei der beliebtesten seiner Sinfonien, die London Symphony (Sinfonie Nr. 2) und die Sinfonie Nr. 5, letztere sogar doppelt. Hinzugesellt sich die Kantate Dona nobis pacem. Die dirigentischen Fähigkeiten des Komponisten Vaughan Williams sind heutzutage in Vergessenheit geraten. Die nun erhältlichen Aufnahmen legen von der Qualität Zeugnis ab. A London Symphony hat Vaughan Williams nie im Studio eingespielt, so dass dieser Mitschnitt von den BBC Proms vom 31. Juli 1946 – idiomatisch mit dem London Symphony Orchestra – eine absolute Rarität darstellt. Er beruht auf seiner Letztfassung von 1936, die um etwa 15 bis 20 Minuten kürzer ausfällt als jene der Uraufführung von 1914. Die fünfte Sinfonie liegt in der Weltpremiere vom 31. Juli 1943 sowie in einem neun Jahre später, vom 3. September 1952 erhaltenen Mitschnitt vor, beide Male ebenfalls von den Proms in der Londoner Royal Albert Hall und da wie dort mit dem London Philharmonic Orchestra. Die Unterschiede sind teils ziemlich erstaunlich, wählt der Komponist-Dirigent 1952 in jedem der vier Sätze doch ein langsameres Tempo, so dass sich die Gesamtspielzeit mit gut 37 Minuten insgesamt fast vier Minuten länger ausnimmt. Das Chorwerk Dona nobis pacem schließlich ist in der ersten Rundfunkübertragung aus den BBC Studios in London von November 1936 überliefert, die einen Monat nach der Uraufführung vom 2. Oktober des Jahres mit denselben Solisten Renée Flynn (Sopran) und Roy Henderson (Bariton) erfolgte, zu denen sich BBC Symphony Orchestra & Chorus gesellten.

Ist man des erheblichen Alters des Ausgangsmaterials und der technischen Schwierigkeiten gerade der Live-Aufzeichnung eingedenk, so erscheint die Klangqualität insgesamt brauchbar, wenngleich weit entfernt von audiophilen Ansprüchen und für RVW-Anfänger gewiss nicht geeignet. Die alle vier bis fünf Minuten notwendig gewordenen Plattenwechsel mit dadurch entstehenden kurzen Unterbrechungen bei den Live-Mitschnitten aus den 1940er Jahren sind in den Tracks der ersten CD minutiös abgebildet. Für das Remastering zeichnet der auf Klangrestauration spezialisierte Toningenieur Lani Spahr verantwortlich, der auch die 1952er Aufnahme der Sinfonie Nr. 5 mit neuem Material vervollständigen konnte. Die informativen Einführungstexte von Simon Heffer, Alan Sanders und Andrew Neill werden durch den abgedruckten Text der Kantate vervollständigt. Ein kleiner Wermutstropfen ist die Tatsache, dass keine deutschsprachige Übersetzung beigegeben wurde. In Summe eine Neuerscheinung für fortgeschrittene Bewunderer des Komponisten (und Dirigenten) Ralph Vaughan Williams. Daniel Hauser

I Vow to Thee, My Country

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In unseren Breiten ist Gustav Holst (1874-1934), geboren als Gustavus Theodore von Holst, hauptsächlich aufgrund seines genialen Orchesterwerkes The Planets bekannt. Die Bandbreite des britischen Komponisten ist freilich ungleich größer, umfasst nicht weniger als 240 Werke, darunter die Opern At the Boar’s Head und Savitri. Das Label Somm bringt nun erstmals sämtliche geistliche Musik Holsts auf einer Disc heraus (SOMMCD 279). Es handelt sich um Chormusik, die überwiegend von Orgel begleitet wird, in einigen wenigen Fällen auch a capella erklingt. Insgesamt sind es 19 Nummern, die sich auf der mit 76 Minuten prall gefüllten CD befinden. Es zeichnen verantwortlich der Chapel Choir of the Royal Hospital Chelsea unter William Vann sowie Joshua Ryan (Orgel) und Richard Horne (Glocken).

Mit dem lateinischen Nunc Dimittis für Doppelchor a capella (1915) komponierte Holst sein einziges Werk für das anglikanische Abendgebet. Die auch unter der Bezeichnung Chilswell bekannte Melodie von Gird on Thy Sword (1927) ist die letzte Passage des Gedichts Man Born to Toil von Robert Bridges.

Für seine Two Psalms (1920) bediente sich der Komponist des Psalms 86 To My Humble Supplication sowie des Psalms 148 Lord, Who Hast Made Us For Thine Own. Ersterer basiert auf einer Melodie aus dem Genfer Psalter (1543) von Louis Bourgeois, letzterer auf Lasst uns erfreuen aus den Kölner Geistlichen Kirchengesängen (1623).

Die Grundlage für In This World, the Isle of Dreams bzw. Brookend (1925) liefert Robert Herrick, ein Dichter aus dem 17. Jahrhundert. Not Unto Us, O Lord (1890er) wiederum bedient sich des Psalms 115. Zu Holsts Lebzeiten vermutlich nicht aufgeführt, erfolgte die Premiere erst im Jahre 2020; Somm bringt somit die Weltersteinspielung.

Our Blest Redeemer – wiederum a capella – komponierte Holst im Jahre 1919 und nannte die Melodie Essex. Die Worte stammen von Henriette (Harriet) Auber, tatsächlich einer entfernten Verwandten des berühmten französischen Komponisten Daniel-François-Esprit Auber. Das sogenannte Short Festival Te Deum (1920) kommt hingegen trotz seiner Kürze (keine fünf Minuten) festlich daher. Ursprünglich für Orchester geschrieben, entschied sich die Holst Society im Zuge dieser Produktion gleichwohl für ein Arrangement für Orgel, welches Iain Farrington tadellos besorgte.

Mit gerade anderthalb Minuten fällt From Glory to Glory Advancing (1925) am kürzesten von allen auf der Platte versammelten Chorstücken aus. Auf der Liturgy of St James basierend, taufte Holst das Werk Sheen.

Sowohl in Man Born to Toil als auch Eternal Father (beide 1927) – in letzterem inklusive Sopransolo – kommen neben der Orgel auch Glocken zum Einsatz und sorgen für eine feierliche und dabei gleichwohl nicht überbordende Prachtentfaltung. Der abschließende Alleluia-Fernchor in Eternal Father gemahnt an Holsts Neptune the Mystic aus den Planets.

By Weary Stages the Old World Ages alias Hill Crest (1927) erinnert an ein mittelalterliches Mysterienspiel. Der Text stammt aus The Coming of Christ von John Masefield. Eine Mischung aus gregorianischem Gesang und Anklängen an Volksmusik mit mixolydischem Choral machen das Stück besonders reizvoll. Christ Hath a Garden (1927/28) zu Worten von Isaac Watts kommt ähnlich daher.

Die puristische Hymne Ave Maria (1900) ist das letzte der A-capella-Stücke und das einzige für reinen Frauenchor. Das Werk ist dem Andenken der Mutter des Komponisten zugeeignet.

I Vow to Thee, My Country (1921) stellt ohne Frage das bekannteste Chorwerk von Gustav Holst dar und ist fester Bestandteil bei vielen Begräbnissen in Großbritannien, so auch bei Diana, der ehemaligen Princess of Wales, und zuletzt bei Queen Elizabeth II. Der Text stammt von Sir Cecil Spring-Rice, dem britischen Botschafter in Washington während des Ersten Weltkrieges, und datiert aus dessen Todesjahr 1918. Holst verwendete die großartige Hauptmelodie seines Jupiter und nannte sie Thaxted nach seinem damaligen Wohnort. Die säkularen Aspekte des Stückes mitsamt seiner patriotischen Implikationen – gewiss mit ein Grund für die Popularität – verdecken ein wenig die ursprüngliche Intention als Glaubensbekenntnis.

Die Four Festival Choruses (1916/17) beschließen die CD sehr adäquat. Die eingängige Melodie von A Festival Chime (wiederum arrangiert von Farrington) nach einem Text von Clifford Bax (dem Bruder des Komponisten Sir Arnold Bax) wird unterstrichen durch den abermaligen majestätischen Glockeneinsatz. In All People that on Earth do Dwell – dem längsten der vier Chöre – bedient sich neuerlich des Genfer Psalters und transkribiert gar Bachs Kantate BWV 130 Herr Gott, dich loeben wir. Mit Let All Mortal Flesh Keep Silence (arr. Farrington) kehrt die Liturgy of St James wieder. Turn Back, O Man schließlich, komponiert für das Pfingstfest 1916 und abermals von Farrington bearbeitet, greift einmal mehr auf Clifford Bax zurück. Es handelt sich dabei um den beliebtesten der Four Festival Choruses und wurde als Klavierarrangement auch während des BBC-Gedenkkonzerts anlässlich des Todes des Komponisten 1934 gespielt.

Die künstlerische Darbietung lässt keine Wünsche offen. Die Einspielungen entstanden am 21. und 22. Juli 2021 in der Holy Trinity Church, Sloane Square, in London und genügen klanglich ebenfalls höchsten Ansprüchen. Die Bookletgestaltung ist labeltypisch vorbildlich, wenngleich der informative Begleittext von Andrew Neill nur auf Englisch vorliegt. Die Gesangstexte sind sämtlich inkludiert. Daniel Hauser

Legendäres aus den BBC-Archiven

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Sukzessive setzt das verdienstvolle Label ICA Classics die Reihe BBC Legends – Great Recordings from the Archive fort und ist jetzt bei Volume 3 angelangt (ICAB 5167). Wie bereits in den (leider schon vergriffenen) Vorgängerboxen, sind auch diesmal 20 Silberscheiben enthalten. Tatsächlich handelt es sich durchgängig um eigentlich Altbekanntes, sind diese Mitschnitte der BBC doch bereits seit 1998 einzeln auf dem Eigenlabel erschienen. Freilich waren diese CDs teils seit Jahren selbst gebraucht nicht mehr zu beschaffen, so dass die Neuerscheinung ohne Einschränkungen begrüßt werden darf. Wie gewohnt, wird auch diesmal eine breite Palette an klassischem Repertoire abgedeckt, wobei nicht nur Dirigenten, sondern auch Instrumentalsolisten und Sänger im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die Aufnahmen – wie im Titel bereits angedeutet ausnahmslos live im Konzert entstanden – sind überwiegend, aber keineswegs sämtlich in Stereo festgehalten, so dass klanglich teilweise Einschränkungen in Kauf genommen werden müssen. Die BBC übertrug im Rundfunk zwar vereinzelt bereits ab 1959 stereophon (der in Vol. 1 enthaltene legendäre Aufführungsmitschnitt der achten Sinfonie von Mahler unter Jascha Horenstein), doch setzte sich die überlegene Zweikanal-Tontechnik erst ab 1966 überwiegend durch, auch wenn es noch bis zu Beginn der 1970er Jahre mitunter monaurale Aufnahmen gab (etwa das letzte Konzert Otto Klemperers von 1971).

Den Anfang macht ein 1977er Mitschnitt des London Symphony Orchestra unter dem greisen Karl Böhm mit der jeweils zweiten Sinfonie von Schubert und Brahms. Beide Werke waren Spezialitäten des gestrengen Grazers und gelingen dementsprechend überzeugend. Gerade für das Jugendwerk Schuberts hatte Böhm eine besondere Liebe, wie etliche Aufnahmen davon belegen. Erst spät in seinem Leben verband ihn die Zusammenarbeit mit dem Londoner Klangkörper, die dafür umso fruchtbarer war und in einer Einspielung der drei letzten Tschaikowski-Sinfonien für die Deutsche Grammophon Gesellschaft gipfelte.

Es folgt ein künstlerisch nicht minder wertvolles Tondokument, nämlich das letzte auf Tonträger festgehaltene Konzert des bereits angeschlagenen Sir John Barbirolli aus seinem Todesjahr 1970, gerade fünf Tage vor seinem Ableben mitgeschnitten in der St Nicholas‘ Chapel, Kings Lynn, Norfolk. Verantwortlich zeichnet das Hallé Orchestra aus Manchester, dem er von 1943 an bis zuletzt treu blieb. Mit der ersten Sinfonie von Elgar stand zudem eine Stück auf dem Programm, das Barbirolli zwischen 1927 und 1962 nicht weniger als sechsmal einspielte. Diese ganz späte Lesart ist gewissermaßen eine Art musikalisches Vermächtnis, in Sachen Ausdruck und Gesamteindruck kaum zu überbieten, selbst wenn die orchestrale Ausführung nicht immer den höchsten Ansprüchen genügen mag. Als Beigabe wurde Elgars Introduction and Allegro gespielt.

Der große französische Dirigent Pierre Monteux wird ebenfalls bedacht. Die CD beinhaltet vier Werke, alle in den Jahren 1960 und 1961 in jeweils anderen Konzerten mitgeschnitten, leider sämtlich in Mono. Cherubinis selten gespielte Anacréon-Ouvertüre eröffnet die Disc, gefolgt von einer gallisch angehauchten Eroica von Beethoven, beides mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Es schließt sich Don Juan von Richard Strauss an, dargeboten vom damals so bezeichneten BBC Northern Symphony Orchestra aus Manchester. Den Abschluss bildet der Ungarische Marsch von Berlioz, diesmal mit dem London Symphony Orchestra.

Die dem Klangmagier Leopold Stokowski gewidmete Platte widmet sich zuvörderst der zweiten Sinfonie von Sibelius, eine beseelte Aufführung mit dem BBC Symphony Orchestra von den Proms 1964, bei der man wehmütig den mittelmäßigen Mono-Klang in Kauf nimmt (aus demselben Jahr existiert übrigens ein interpretatorisch sehr ähnlicher, klanglich allerdings ungleich besserer Stereo-Mitschnitt aus Philadelphia). Die üppig dargebotene Dornröschen-Suite von Tschaikowski, festgehalten 1965 und ebenfalls monaural, wird vom New Philharmonia Orchestra intoniert, wie auch die abschließende, sehr exzentrische aber gleichwohl überzeugende Egmont-Ouvertüre von Beethoven, die als einziges Stück 1973 stereophon aufgezeichnet wurde.

Für diesen Dirigenten typisch intensiv gelingt die Aufführung der Faust-Sinfonie von Liszt unter Jascha Horenstein, stereophon mitgeschnitten 1972 in Salford. Ihm stand mit dem bereits genannten BBC Northern Symphony Orchestra zwar kein erstklassiger Klangkörper zur Verfügung, doch macht seine nachdrückliche und tiefgehende Interpretation dies wett. Mit John Mitchinson ist zudem einen vorzüglichen Tenor mit von der Partie.

Als schlechterdings sensationell darf der hochemotionale 1985er Proms-Mitschnitt der neunten Sinfonie von Beethoven unter Stabführung von Klaus Tennstedt gelten. Unter den zahlreichen erhaltenen Tennstedt-Aufnahmen dieses Werkes kann man diese mit guten Gründen für die herausragendste erachten. Das Solistenquartett ist mit MariAnne Häggander, Alfreda Hodgson, Robert Tear und Gwynne Howell erfreulicherweise kongenial besetzt. Und sowohl der London Philharmonic Choir als auch das nämliche London Philharmonic Orchestra, dem Tennstedt seinerzeit als Chefdirigent vorstand, geben ebenfalls ihr Bestes. Als einzigem Dirigenten in dieser Box ist Tennstedt eine weitere CD gewidmet, die mit Webers Ouvertüre zu Oberon, Schuberts Großer Sinfonie in C-Dur sowie Brahms Tragischer Ouvertüre gut bestückt ist. Wiederum handelt es sich um Mitschnitte mit „seinem“ London Philharmonic, entstanden in den Jahren 1983 und 1984. Besonders der vorwärtsdrängende Schubert präsentiert diesen Dirigenten auf seinem Zenit.

Eine besonders spannende Aufnahme stellt die Achte von Schostakowitsch dar, welche der sowjetische Dirigent Jewgeni Swetlanow im Jahre 1979 mit dem London Symphony Orchestra vorlegte. Es handelt sich tatsächlich um den einzigen erhaltenen Mitschnitt des Werkes unter diesem Dirigenten, was ihn umso bedeutsamer macht. Erwartungsgemäß darf Swetlanows Interpretation unter die hochkarätigsten gerechnet werden, hatte er doch naturgemäß ein Händchen für diesen Komponisten, wovon vor allem seine Referenzeinspielung der Leningrader Sinfonie von 1968 für Melodia zeugt. Er schafft es zudem, auch diesem urenglischen Orchester einen sowjetischen Anstrich zu verpassen, was der Idiomatik gewiss nicht abträglich ist.

Mit Gennadi Roshdestwenski wurde erfreulicherweise ein weiterer bedeutender Dirigent aus der Sowjetunion aufgenommen, der zudem zwischen 1978 und 1981 als Chefdirigent des hier auch eingesetzten BBC Symphony Orchestra amtierte. Drei russische Komponisten werden repräsentiert: Tschaikowski mit dem zweiten Akt des Nussknackers, Schostakowitsch mit der Suite aus Der Bolzen und Strawinski mit den Scènes de ballet. Die Aufnahmen datieren auf 1981 (Strawinski) und 1987 und stellen eine gelungene Symbiose aus Ost und West dar.

Dass Benjamin Britten nicht nur einer der wichtigsten britischen Komponisten des 20. Jahrhunderts war, sondern auch ein ernstzunehmender Dirigent, ist heutzutage nicht mehr jedermann bewusst. Die lange vergriffene Reihe Britten the Performer, ebenfalls von der BBC aufgelegt, legt davon nachdrücklich Zeugnis ab. Die hier inkludierte, ausgezeichnet besetzte Aufführung des Requiems von Mozart (Heather Harper, Alfreda Hodgson, Peter Pears, John Shirley-Quirk), mitgeschnitten beim Aldeburgh Festival 1971, zeigt Britten als einen der damals aufkommenden historischen Aufführungspraxis nicht abgeneigten Interpreten. Einen Wermutstropfen stellt indes das mäßige und für das Entstehungsjahr eigentlich vorgestrige monaurale Klangbild dar.

Der gerade für seinen Haydn gefeierte Eugen Jochum – neben Bruckner eine seiner Spezialitäten – verantwortet auf einer weiteren Disc zwei der sogenannten Londoner Sinfonien, nämlich die Militär-Sinfonie (Nr. 100) sowie Die Uhr (Nr. 101), zwei der gewisslich populärsten. Besagter Konzertmitschnitt fand interessanterweise im gleichen Jahre 1973 statt, also Jochum mit demselben London Philharmonic Orchestra die zwölf späten Haydn-Sinfonien für die Deutsche Grammophon vorlegte. Die Spielzeiten sind beinahe auf die Sekunde identisch, auch wenn die Live-Aufnahmen noch mehr Lebendigkeit vermitteln. Als Bonus ist Hindemiths Sinfonische Metamorphose über Themen von Carl Maria von Weber beigefügt, die auf einem Mitschnitt mit dem London Symphony Orchestra von 1977 beruht.

Einen besonderen Glücksfall stellen die beiden von Sir Macolm Sargent verantworteten Werke dar, jeweils die vierte Sinfonie von Vaughan Williams und Sibelius, Stereo-Mitschnitte von 1963 beziehungsweise 1965. Sargent, der heutzutage zu Unrecht im Rufe steht, vor allem leichtgewichtige Proms-Programme dirigiert zu haben, war freilich ein begnadeter Orchesterleiter mit einem ungemein breiten Repertoire. Die Vierte von Vaughan Williams, eines seiner expressivsten Werke, kommt heißblütig daher. Die Vierte von Sibelius, die schroffste unter seinen Sinfonien, besonders im Kopfsatz mit unheimlicher Schwärze. Trotz der hörbaren Publikumsgeräusche ein fesselndes Erlebnis.

Die Sopranistin Sena Jurinac und die Mezzosopranistin Christa Ludwig stehen im Mittelpunkt einer weiteren Scheibe, die Werke von Richard Strauss, Mahler und Brahms enthält, wobei das Groß die Vier letzten Lieder mit der Jurinac unter Sargent (1961) sowie die Lieder eines fahrenden Gesellen mit der Ludwig unter Cluytens (1957) ausmachen. Die Jurinac ist zwar nicht mehr ganz auf derselben Höhe wie zehn Jahre zuvor unter Fritz Busch, liefert indes gleichwohl eine charaktervolle Darbietung. Eine schöne Ergänzung zur berühmten Studioeinspielung der Ludwig unter Sir Adrian Boult stellt diese einige Jahre zuvor entstandene Konzertaufnahme dar.

An großen Instrumentalsolisten besteht in der Box ebenfalls kein Mangel, wobei die Pianisten dominieren. Einen Höhepunkt stellt ein Recital von 1969 mit Wilhelm Kempff dar, wo unter anderem die Klaviersonate Nr. 22 von Beethoven und mehrere Klavierstücke von Schubert (Klaviersonate f-Moll, Drei Klavierstücke, zwei der Vier Impromptus) auf dem Programm standen. Nicht weniger gelungen Swjatoslaw Richter mit den Beethoven’schen Klaviersonaten Nr. 9 und 10 sowie der Wanderer-Fantasie von Schubert (1963). Emil Gilels ist mit der 27. Klaviersonate repräsentiert, dazu weitere Klavierstücke von Scarlatti, Debussy, Scriabin und Prokofjew (1957 sowie 1984). Rudolf Serkin steuert schließlich 1973 die Klaviersonaten Nr. 21 und 24 von Beethoven sowie Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Bach bei. Hervorzuheben ist zudem Shura Cherkassky als Solist in Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1 unter Sir Georg Solti mit dem London Symphony Orchestra (1968).

Bekrönt wird das Ganze durch die Streichersolisten. Der Violinist Henryk Szeryng gibt in Personalunion als Solist und Dirigent mit dem English Chamber Orchestra Vivaldis Vier Jahreszeiten zum Besten (wobei die berühmte Studioeinspielung klanglich noch vorzuziehen ist), daneben des Komponisten Konzert für zwei Violinen an der Seite von José-Luís Garcia. Ergänzt wird dieser stereophone Konzertmitschnitt von 1972 durch Mozarts Violinkonzert G-Dur KV 216. Beschlossen wird die Box mit dem Cellisten Mstislaw Rostropowitsch in feurigen Live-Aufnahmen aus dem Jahre 1965, bedauerlicherweise sämtlich in Mono. Drei Konzerte für Cello und Orchester standen in drei Auftritten auf dem Programm, wobei Rostropowitsch in Haydns Cellokonzert Nr. 1 selbst auch das Dirigat übernahm, während ihm im ersten Cellokonzert von Saint-Saëns sowie im Cellokonzert von Elgar mit dem bereits erwähnten Gennadi Roshdestwenski ein begnadeter Begleiter auf dem Dirigentenpult zur Verfügung stand.

In der Summe lässt sich diese Kollektion als künstlerisch ausgezeichnet bewerten. Die angesprochenen teilweise vorhandenen klanglichen Defizite sind angesichts dessen hinnehmbar. Die Textbeilage ist vollauf zweckdienlich (05. 11. 22). Daniel Hauser

Vaughan Williams zum 150. Geburtstag

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So richtig hat sich Ralph Vaughan Williams alias RVW (1872-1958), in England neben Edward Elgar eine Ikone, in den Konzertsälen des deutschsprachigen Raums bis heute nicht durchsetzen können. Zwar erklingt ab und zu eine seiner insgesamt neun Sinfonien, doch wird sein sonstiges, sehr breit aufgestelltes Schaffen weitgehend ignoriert, sieht man von der Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis und der unvermeidlichen Orchestrierung von Greensleeves ab. Warner Classics bringt nun die nicht weniger als 30 CDs umfassende Box Ralph Vaughan Williams – The New Collector’s Edition (Warner 0190296245374) und versucht damit eine gesamtheitliche Würdigung des englischen Komponisten, der einen eigenen Nationalstil prägte, ohne dabei Gefahr zu laufen, ein Epigone Elgars zu werden.

Dem Kenner fällt sofort auf, dass es sich im Prinzip um eine Neuauflage der älteren, ebenfalls 30 CDs beinhaltenden Collector’s Edition von 2008 handelt, die seinerzeit noch auf dem EMI-Label erschien. Der Anlass für die Wiederauflage ist gewiss im 150. Geburtstag des Komponisten zu suchen, der am 12. Oktober 2022 begangen wird. Der reichhaltige Bestand in den Archiven von Warner bietet die günstigsten Voraussetzungen für eine solche Box. Tatsächlich ist diese optisch ansprechend gestaltet. Die Cover der CD-Hüllen sind bedruckt mit Gemälden aus der Lebenszeit des Komponisten. Weniger vorbildlich ist dafür die sehr magere Textbeilage, die im Prinzip einzig aus einem gerade zweiseitigen kurzen Einführungstext von Stephen Johnson besteht. Inakzeptabel ist die Weglassung der genauen Aufnahmedetails. So sucht man sowohl die Aufnahmejahre als auch die -orte vergebens. Hierzu ist insofern eigene Recherche vonnöten, was bei der Fülle an Musik (etwa 34 Stunden Hörmaterial) an eine Zumutung grenzt.

Dieses ärgerliche Manko wird freilich dadurch abgemildert, dass es letztlich auf den Inhalt ankommt. Dieser ist in der Summe überaus gediegen. Was sofort auffällt, ist, dass nicht der durchaus bei EMI erschienene klassische Sinfonien-Zyklus unter Sir Adrian Boult Berücksichtigung fand, sondern der etwa zwanzig Jahre jüngere unter Vernon Handley mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, was freilich keinen Qualitätsabfall bedeutet, darf sich Handley doch als Spezialist in diesem Repertoire bezeichnen lassen. In der Sea Symphony agieren als Solisten Joan Rodgers und William Shimell. Handley steuert neben kleineren Orchesterwerken auf hohem Niveau auch das Oboenkonzert (Solist: Jonathan Small) sowie das Klavierkonzert (Solist: Piers Lane) bei. Ganz übergangen werden kann Boult, einer der RVW-Interpreten schlechthin, freilich nicht. Seine Referenzeinspielung der Balletmusik Job: A Masue for Dancing ist glücklicherweise inkludiert. Ferner verantwortet Boult u. a. die Serenade to Music, die Suite English Folk Songs, die Norfolk Rhapsody No. 1, die Fantasia on Greensleeves sowie die Tondichtungen In the Fen Country und The Lark Ascending. Mit The Pilgrim’s Progress, Vaughan Williams‘ letzter Oper, steuert Sir Adrian außerdem einen weiteren blendend besetzten Klassiker der Diskographie bei. Unter den Mitwirkenden finden sich u. a. John Noble, Raimund Herincx, Sheila Armstrong, Ian Partridge, John Shirley-Quirk, Robert Lloyd, Norma Burrowes und Alfreda Hodgson.

Auch im Falle der drei anderen Opern des Komponisten darf von Volltreffern gesprochen werden. Riders to the Sea (mit Norma Burrowes, Margaret Price, Helen Watts, Benjamin Luxon) und Sir John in Love (mit Raimund Herincx, Robert Tear, Helen Watts) jeweils unter Meredith Davies sowie Hugh the Drover (mit Robert Tear, Sheila Armstrong, Robert Lloyd, Hellen Watts) unter Sir Charles Groves lassen keine Wünsche offen.

Mit Constantin Silvestris Tallis-Fantasie aus Bournemouth liegt ein weiteres Highlight bei. Unter der begnadeten Stabführung von Sir David Willcocks finden sich idiomatisch besetzt An Oxford Elegy, das Oratorium Sancta Civitas, die Weihnachtskantate Hodie, die Whitsunday Hymn sowie die Flos campi Suite. Für weniger geläufige Orchesterwerke wie die Ouvertüre The Poisoned Kiss, das Ballett Old King Cole, die Prelude on an Old Carol Tune, den Marsch Sea Songs, die von Gordon Jacob orchestrierten Variations for Orchestra sowie die Orchesterfassung der Serenade to Music zeichnet mit Richard Hickox ein weiterer Hochkaräter verantwortlich.

Auch die Kammermusik kommt nicht zu kurz. Das erste Streichquartett kommt mit dem Britten Quartet, das zweite Streichquartett sowie weitere Kammermusikstücke (darunter die Violinsonate, das Fantasiequintett und die Suite für Viola und kleines Orchester) mit der Music Group of London.

Hinsichtlich Liederzyklen finden sich die Songs of Travel sowohl in der Orchesterfassung mit Thomas Allen unter Sir Simon Rattle als auch in der Klavierfassung mit Anthony Rolfe Johnson, begleitet von David Willison. Auch On Wenlock Edge ist sowohl orchestriert mit Robert Tear unter Rattle als auch in kammermusikalischer Fassung mit Ian Partridge und der Music Group of London enthalten. Letztere steuern zudem die Ten Blake Songs und die Four Hymns bei. Zahlreiche Volkslied-Arrangements runden die Kollektion ab.

Trotz der mangelhaften Dokumentation der einzelnen Einspielungen vermittelt die großvolumige Kassette also die mannigfaltige Bandbreite des kompositorischen Schaffens von Ralph Vaughan Williams und darf allen, außer den Besitzern der beinahe identischen Vorgängerbox, ans Herz gelegt werden. Es handelt sich, abgesehen von zwei Ausnahmen (die Romanze Dis-Dur unter Sir Malcolm Sargent sowie das Tubakonzert unter Sir John Barbirolli von Anfang der 1950er Jahre), durchgängig um gut klingende Stereoaufnahmen, so dass hier keine Einschränkungen hinzunehmen sind. Daniel Hauser

The unknown Sullivan

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Dutton Epoch setzt in Zusammenarbeit mit der BBC seine spannende Arthur-Sullivan-Reihe fort, welcher auch abgesehen von seinen herrlichen Operetten einer der hörenswertesten britischen Komponisten des 19. Jahrhunderts für mich ist. Die Neuerscheinung (Dutton CDLX 7404), eine mit beinahe 82 Minuten prall gefüllte Disc, enthält neben der einaktigen Ballettmusik zu L’île Enchantée (1864) den Procession March (1863), die Ouvertüre zur Oper The Sapphire Necklace (1863/64) sowie Orchestrierungen von drei der insgesamt sechs Day Dreams (1867), ursprünglich Klavierstücke. Es sind also sämtliche Werke aus der Frühphase Sullivans, damals Anfang seiner Zwanziger, lange vor seinem späteren Weltruhm. Es zeichnet verantwortlich das in diesem Repertoire grandiose BBC Concert Orchestra unter der begnadeten Leitung von John Andrews.

Schon vor etwa 30 Jahren spielte Marco Polo die Musik zum Ballett L’île Enchantée erstmals ein (später bei Naxos neu aufgelegt), doch bedient sich der Bearbeiter Robin Gordon-Powell einer kritischen Edition, die den seitherigen neuen Erkenntnissen Rechnung zollt. Kleinere Unterschiede sind insofern die Folge, auch wenn für den Nichtfachmann vor allen Dingen die insgesamt noch überzeugendere Gesamtinterpretation von Belang sein dürfte. Tatsächlich profitiert das Ballett vom labeltypischen State-of-the-Art-Klangerlebnis, das keine Wünsche offenlässt. Bereits die gewöhnliche CD-Variante genügt hohen Ansprüchen; sie wird freilich durch die hybride SACD-Spur ergänzt, welche neben Stereo auch Mehrkanal anbietet. Zur Ballettmusik selbst ist zu sagen, dass sie überwiegend lyrisch daherkommt und theatralische Dramatik bis auf wenige Ausnahmen (Sturm und Scène de jalousie) ausbleibt. Der seinerzeit in England noch vorherrschende Einfluss Mendelssohns ist nicht zu überhören. Was die Orchestration anbelangt, muss Sullivan indes keine Vergleiche scheuen. Kurioserweise diente diese Ballettmusik als angehängtes Tanzdivertissement am Ende von Bellinis Oper La sonnambula, wie es seinerzeit in Covent Garden üblich war, wenn die Oper selbst kein Ballett aufwies. Erwähnenswert ist zudem, dass Teile der Sullivan’schen Musik in einigen seiner nachfolgenden Werken Wiederverwendung fanden (so in Thespis, The Merchant of Venice, The Merry Wives of Windsor, Macbeth und Victoria and Merrie England).

Der feierliche Marsch – hier in Weltersteinspielung – entstand anlässlich der Hochzeit des damaligen Prince of Wales „Bertie“, des Sohnes Königin Victorias und späteren Königs Eduard VII., mit Alexandra von Dänemark. Die Orchesterfassung wurde hierzu vom selben Robin Gordon-Powell gekonnt rekonstruiert und editiert, indem er in Drury Lane gefundene Orchesterparts mit einem existenten Blasorchester-Arrangement kombinierte. Der so bezeichnete Procession March, achteinhalb Minuten lang, erfüllt glänzend seinen zeremoniellen Zweck und reiht sich ein unter die Festmärsche des späteren 19. Jahrhunderts.

Die zehnminütige Opernouvertüre zu The Sapphire Necklace wurde zwar bereits ebenfalls durch Andrew Penny für Marco Polo eingespielt, allerdings bedient sich die Dutton-Aufnahme einer wiederum von Gordon-Powell verantworteten Neuorchestrierung, anders als die seinerzeit von Roderick Spencer besorgte. Beide griffen auf eine Bearbeitung für Militärkapelle von Charles Godfrey, Jr., zurück. Dieses glänzend komponierte Vorspiel weist bereits in die Richtung der späteren spritzigen Operettenouvertüren Sullivans.

Heiterkeit herrscht in den Day Dreams vor, welche bereits 1934 von Herman Finck für Orchester gesetzt wurden. Die hier vorliegende Bearbeitung geht ein weiteres Mal auf Arrangeur Gordon-Powell zurück. In seinen drei, jeweils etwa dreiminütigen Sätzen entspricht dieses Werk am ehesten einer Suite, wobei sich vom Höreindruck her neuerlich der Name Mendelssohn auftut.

Die 2021 im Watford Colosseum in London entstandenen Einspielungen stellen also eine sehr begrüßenswerte Diskographie-Erweiterung in Sachen Arthur Sullivan dar. Die Textbeilage ist – wie bei Dutton nicht anders zu erwarten – vorzüglich. Daniel Hauser

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Bekanntlich beruht Arthur Sullivans Weltgeltung auf seinen Operetten, die im kongenialen Zusammenwirken mit W. S. Gilbert entstanden sind. Weniger bekannt ist zumindest hierzulande Sullivans große Bewunderung für William Shakespeare, die sich in der Bühnenmusik für nicht weniger als fünf Theaterstücken ausdrückte. Den Anfang machte bereits 1860/62 – Sullivan war kaum zwanzig – die Bühnenmusik zu The Tempest (Der Sturm). Die Mendelssohn-Nähe ist nicht abzustreiten und als Hommage zu begreifen. Tatsächlich entstand das einstündige Werk während eines Aufenthalts Sullivans in Leipzig und weiß durch jugendliches Feuer für sich einzunehmen. Orchestral als besonderes Highlight ist das Vorspiel zum vierten Akt hervorzuheben.

Über ein Vierteljahrhundert später, 1888, beschloss die Bühnenmusik zu Macbeth als fünfte und letzte die Shakespeare-Beschäftigung des Komponisten. Der Umfang ist mit etwa 55 Minuten ähnlich, die Umstände waren indes gänzlich andere, stand der nunmehr 46-Jährige, mittlerweile Geadelte, auf der Höhe des Lebens und Ruhmes. Einen solchen Sinn für Dramatik hätte manch einer Sullivan kaum zugetraut, doch darf gerade die Macbeth-Ouvertüre als ein Glanzpunkt in seinem Werkschaffen gelten. Die rein instrumentalen Nummern sind insgesamt am überzeugendsten, darunter die Vorspiele zu den Akten 2, 3, 4, 5 und 6.

Den Gesangspart übernehmen die bestens disponierten BBC Singers und (in The Tempest) die beiden Sopranistinnen Mary Bevan und Fflur Wyn idiomatisch. Als Sprecher fungiert Simon Callow, der sich in Macbeth – wo er alle Rollen spricht – eines zuweilen stark hervortretenden schottischen Akzents bedient und etwas übers Ziel hinausschießt. Begleitet werden sie vom BBC Concert Orchestra unter John Andrews.

Wiederum ist es Dutton Epoch und der BBC zu verdanken, dass nunmehr endlich vollständige Einspielungen der beiden Bühnenmusiken vorliegen (Dutton 2CDLX 7331). Gleichsam als Beigabe erklingt die knapp 13-minütige Marmion-Ouvertüre, ein hörenswertes Stück von 1867 zu einer Vorlage von Walter Scott, hier erstmals ungekürzt. Scotts gleichnamiges Gedicht nimmt Bezug auf die Schlacht von Flodden Field (1513) zwischen England und Schottland, die der schottische König Jakob IV. mit dem Leben bezahlte. Klanglich genügt die hybride SACD audiophilenAnsprüchen (Aufnahme: Watford Colosseum, Februar/März 2015). Die Textbeilage von Will Parry ist mustergültig. Daniel Hauser

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Gilbert und Sullivan sind in England das, was Johann Strauss Sohn in Österreich und Jacques Offenbach in Frankreich darstellen. Im deutschsprachigen Raum tun sich die Bühnenwerke des berühmten Duos, die irgendwo zwischen komischen Opern und Operetten stehen, eher schwer, was mit den Eigenheiten des britischen Humors zusammenhängen mag.Arthur Sullivan (1842-1900), der 1883 von Queen Victoria zum Ritter geschlagene Komponist, hat allerdings weit mehr komponiert, was selbst in seiner Heimat zuweilen in Vergessenheit gerät. Naxos legt nun eine eigene, schon bejahrte Marco-Polo-Produktion aus dem Jahre 1992 neu auf (Naxos 8.555181).

Wie könnte es anders sein, als dass sich der Tondichter nicht auch der Werke des englischen Nationalbarden William Shakespeare hätte annehmen sollen. Mit der Bühnenmusik zu The Merchant of Venice (1871) und Henry VIII (1877) schuf Sullivan zwei seiner attraktivsten Kompositionen abseits der Opern. Erstere wurde für eine Produktion des Prince’s Theatre in Manchester geschrieben und konzentriert sich auf eine einzige Szene, ein aufwendiges Maskenspiel. Letztere entstand für das Theatre Royal in Manchester, bezieht sich auf den fünften Akt des Historiendramas und wurde in Bearbeitungen gerade bei Blas- und Militärkapellen populär.

Bei der hier ebenfalls inkludierten Ouvertüre zu The Sapphire Necklace (1864) handelt es sich um das Vorspiel zu einer gleichnamigen Oper, deren Libretto der Musikkritiker Henry Chorley beisteuerte. Sie gelangte gleichwohl nie zur Aufführung (was nicht zuletzt an der Qualität des Textes gelegen haben soll). Einzig zwei Vokalnummern sowie ein Arrangement der Ouvertüre für Militärkapelle von Charles Godfrey, Jr., wurden später publiziert. Zum Zwecke dieser Einspielung reorchestrierte Roderick Spencer das Blaskapellenarrangement neuerlich im Stile von Sullivans Originalkomposition. Das Ergebnis darf tatsächlich als durchaus authentisch klingend bezeichnet werden.

Die Disc wird beschlossen durch die Ouvertüre C-Dur „In Memoriam“ (1866), die kurz nach Sullivans Irish Symphony entstand und insofern als Hauptwerk seiner sinfonischen Frühphase zu bezeichnen ist. Sie ist seinem kurz davor verstorbenen Vater gewidmet, aber indes kein bloß tieftrauriges Stück, sondern auch ein treffliches musikalisches Abbild des viktorianischen Britannien.

 Andrew Penny und das irische RTÉ Concert Orchestra haben einen erwartbar idiomatischen Zugriff. Als Solist in den beiden Liedern der Shakespeare-Stücke agiert überzeugend der Tenor Emmanuel Lawler. Die sehr gute Klangqualität und das solide Booklet runden diese Neuauflage der vergriffenen Einspielung adäquat ab. Daniel Hauser

Frühe Jahre beim Südfunk

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Vom rumänischen Dirigenten Sergiu Celibidache ist heutzutage vor allem seine späte Münchner Phase, als er zwischen 1979 und seinem Todesjahr 1996 den dortigen Philharmonikern vorstand, in Erinnerung geblieben. Sie prägte im Wesentlichen die Urteile der Nachwelt über ihn, den Christoph Schlüren im lesenswerten Einführungstext (auf Deutsch und Englisch) der jetzigen Neuerscheinung als „[u]nter den großen Dirigenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts […] ohne jeden Zweifel die ungewöhnlichste Erscheinung“ nennt. Tatsächlich lehnte Celibidache das Aufnahmestudio weitestgehend ab. Eine Ausnahme stellten die Rundfunkanstalten dar, standen ihm deren Orchester vielerorts doch zum Preis einer Rundfunkübertragung zur Verfügung. Eine Aufnahme, die sich gleichsam als „Abfallprodukt“ einer solchen Live-Übertragung im Rundfunk erhalten hat, ist ein Studiokonzert aus dem Sendesaal Villa Berg in Stuttgart vom 17. September 1959, das nun auf dem SWR-Label erstmals zur offiziellen Veröffentlichung gelangt (SWR19118CD). Es steht am Anfang der wenig bekannten ersten Zusammenarbeit Celibidaches mit dem damaligen Südfunk-Sinfonieorchester Stuttgart, die von 1958 bis Mitte der 1960er Jahre währte. Seine zweite Stuttgarter Phase von den 1970ern bis 1982 ist wesentlich bekannter geworden und teilweise auch schon seit langem auf CD verfügbar gemacht worden (diverse Bruckner-Sinfonien bei der Deutschen Grammophon).

Vom berüchtigten Spätstil Celibidaches, der von seiner Beschäftigung mit dem Buddhismus beeinflusst war, ist das nun vorgelegte Rundfunkkonzert noch weit entfernt. Den Anfang macht die Sinfonie Nr. 102 von Joseph Haydn, also die drittletzte der sogenannten Londoner Sinfonien und insofern eines der ausgefeiltesten Werke des „Urvaters der Sinfonik“ überhaupt. Besonders diesem Werk von 1794/95, in B-Dur stehend, wird eine Beethoven-Nähe attestiert. Manche erkennen in ihr gar die beste Haydn-Sinfonie, auch wenn sie landläufig aufgrund eines fehlenden prägnanten Beinamens weniger bekannt wurde als die zwei vorhergehenden, Nr. 100 Militärsinfonie und Nr. 101 Die Uhr, und die beiden nachfolgenden, Nr. 103 mit dem Paukenwirbel und Nr. 104 London. Selbstredend untergliedert sich auch die 102te in die klassischen vier Sätze. Das einleitende Largo, sehr getragen genommen, lässt bereits den späten Celibidache erahnen. Die Exposition des Kopfsatzes wird hier auch wiederholt, was der Dirigent im Alter ablehnte. Gleichwohl sind sowohl nachfolgendes Vivace als auch der Schlusssatz von einer Frische, wie man sie Celibidache so kaum zutraut. Der langsame zweite Satz erhält ein bereits in die Romantik weisendes Gewicht, das Menuett einen etwas derben Anstrich. Insgesamt erzielt Celibidache eine gute Durchhörbarkeit, die leider vom mediokren Mono-Klangbild natürlichen Grenzen unterworfen ist. Gleichwohl eine wichtige Ergänzung der Celibidache-Diskographie, legte er die Haydn’sche Sinfonie Nr. 102 doch in späterer Zeit nicht mehr vor.

Den zweiten Teil und gewiss auch den Höhepunkt dieses Studiokonzerts bildete die Sinfonie Nr. 6 von Peter Tschaikowski, die sogenannten Pathétique, die bis zuletzt zum Kernrepertoire Celibidaches zählte. Unter den westlichen Dirigenten waren seine Tschaikowski-Darbietungen mit die prägnantesten, was vielleicht doch auch an seiner südosteuropäischen Verwurzelung liegen mag. Das Hin und Her zwischen Lyrik und Dramatik, insbesondere im Kopfsatz, ist meisterhaft umgesetzt und gemahnt an „ein[en] Mongolensturm, der ein russisches Dorf überfällt“ (Schlüren). Der zweite, weit weniger monumentale Satz gelingt wahrlich con grazia. Den berühmten Marsch im dritten Satz zeichnet Celibidache brutal und hohl militaristisch, wie eine Entlarvung des bereits seinem Ende zugehenden Zarentums. Der desillusionierte Finalsatz schließlich bringt nochmal einen allerletzten Versuch des Aufbäumens, der freilich bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt ist. Die Zeitmaße sind mit insgesamt 49 Minuten Spielzeit bereits 1959 auf der langsameren Seite, gleichwohl aber noch weit entfernt von der bei EMI erschienenen, fast einstündigen Spätaufnahme von 1992, in welcher der Kopfsatz ganze vier und der Schlusssatz immerhin drei Minuten mehr veranschlagt. Die klanglichen Einschränkungen der alten Südfunk-Produktion mindern zwar den uneingeschränkten Hörgenuss, doch macht die für sich einnehmende Interpretation dies mit etwas gutem Willen gleichsam vergessen.

In der Summe eine erfreuliche Neuerscheinung, die jedem Bewunderer des großen Rumänen ans Herz gelegt sei – sofern Stereophonie kein absolutes Muss darstellt. Daniel Hauser

Schwanenruf und Feuervogel


Weder Jean Sibelius noch Igor Strawinski sind Namen, mit denen der legendäre rumänische Dirigent Sergiu Celibidache heutzutage üblicherweise sofort in Verbindung gebracht wird. Nichtsdestoweniger nahm er zumindest einige Werke dieser trotz ihrer Gegensätzlichkeit für die Musik des 20. Jahrhunderts so wichtigen Komponisten in sein Repertoire auf. Im Falle von Sibelius waren es die zweite und die fünfte Sinfonie; was Strawinski anbelangt, vor allem die Feuervogel-Suite. Es ist nicht so, dass diskographisch von besagten Stücken unter Celibidache bislang nichts greifbar gewesen wäre. Die Deutsche Grammophon brachte bereits vor über zwanzig Jahren eine SWR-Produktion der Suite von 1978 heraus. Selbiges gilt für einen bei der DG aufgelegten Rundfunkmitschnitt der Fünften von Sibelius mit dem Schwedischen Radio-Sinfonieorchester aus Stockholm 1971. Wenn die Münchner Philharmoniker auf ihrem Eigenlabel nun beide Werke in bislang unveröffentlichten Konzertmitschnitten auf den Markt bringen (MPHIL0025), dann ist dies gleichwohl von Bedeutung, da es sich um eben um Aufnahmen aus der für nicht wenige maßgeblichen Münchner Zeit des Dirigenten handelt. Beim Strawinski ist der zeitliche Abstand zur bisher bekannten Rundfunkproduktion nicht allzu groß (1982), während beim Sibelius über anderthalb Jahrzehnte zwischen den Aufnahmen liegen (1988). Ende der 1980er Jahre hatte sich der Spätstil Celibidaches vollentwickelt, wovon in Sonderheit seine berühmten (aber auch umstrittenen) Bruckner-Exegesen zeugen.

Interessanterweise veränderten sich die reinen Spielzeiten im vorliegenden Falle gar nicht so stark im Vergleich mit den Vorgängeraufnahmen. Schon die Stockholmer Interpretation der fünften Sinfonie von Sibelius ist ungewöhnlich breitangelegt, hinsichtlich der reinen Spielzeiten nicht unähnlich jener des alten Bernstein (der indes völlig andere Akzente setzt). In München dauert der Kopfsatz annähernd 16 Minuten, das Andante neun Minuten und der Schlusssatz fast elf Minuten. Man könnte es in gewisser Weise den Versuch einer „Brucknerisierung“ des finnischen Nationalkomponisten nennen. Vielleicht ist dies auch der Grund, wieso Celibidache daneben nur noch die genannte Zweite ab und an aufs Programm setzte, käme dieses Konzept bei den übrigen Sinfonien doch vermutlich an seine Grenzen. Ist man allerdings bereit sich darauf einzulassen, so lässt sich dieser in sich ruhenden Lesart doch einiges abgewinnen, auch wenn die dramatischen Ausbrüche ästhetisiert daherkommen. So sind insbesondere im Finale – trotz mitreißendem „Schwanenruf“ – die so essentiellen Pauken leider zu stark in den Gesamtklang integriert. Sieht man davon ab, fallen die berüchtigten akustischen Unzulänglichkeiten der Münchner Philharmonie im Gasteig in diesem Mitschnitt vom 26. März 1988 nicht stark ins Gewicht, Störgeräusche aus dem Publikum gibt es kaum.

Wie bereits erwähnt, ist Celibidaches Interpretationsansatz bei der Feuervogel-Suite (in der Fassung von 1919) nicht grundlegend anders als in der altbekannten SWR-Aufnahme. Es geht mit 25 Minuten Gesamtspielzeit eher getragen, aber – außer vielleicht zu Beginn der Berceuse – nicht verschleppt zu. Celibidache verfolgt legitimerweise einen französischen Ansatz, russischen Furor sucht man vergebens. Das Klangbild aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz vom 28. Oktober 1982 ist gutes, wenn auch nicht audiophiles Stereo.

Das zweisprachige Booklet (Englisch, Deutsch) wartet mit sehr guten Einführungstexten (von Michael Kube und Volker Scherliess – letzterer leider kürzlich verstorben) auf. Fazit: Ein Finne und ein Russe – zumindest musikalisch also nach wie vor auf einer Disc vereint. Daniel Hauser