Archiv des Autors: Daniel Hauser

Tendenziell verhalten

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Gerade hat er bereits das 85. Lebensjahr vollendet und darf ohne Wenn und Aber zu den großen Alten unter den lebenden Dirigenten gezählt werden, doch ans Aufhören scheint Marek Janowski nicht zu denken. Zugegeben, im Vergleich mit Herbert Blomstedt, dem Nestor der heutigen Dirigentenzunft, wirkt er beinahe jung. Janowski ist gerade im deutsch-österreichischen Repertoire der Romantik zu Hause. Umso merkwürdiger, dass erst jetzt ein Zyklus der vier Sinfonien von Robert Schumann unter seinem Dirigat herauskommt (Pentatone PTC 5186 989). Auf den ersten Blick zumindest. Es bedurfte einer gewissen Rechercheleistung um herauszufinden, dass Janowski tatsächlich schon einmal einen Schumann-Zyklus einspielte, nämlich Mitte der 1980er Jahre mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra für das Label ASV (lange vergriffen und wohl nur kurzzeitig auf CD erschienen). Und dann gibt es da noch die 1994 entstandene Frühlingssinfonie mit dem SWF-Orchester auf einer in Vergessenheit geratenen Disc von Arte Nova, wo neben ihm noch Arnold Östmann und Hans Vonk weitere Schumann-Werke beisteuern. Und wenn wir schon dabei sind: Schon 1978 leitete Janowski die Eterna/EMI-Koproduktion der in Dresden gemachten Einspielung des Schumann-Violinkonzerts mit Ulf Hoelscher als Solisten (auch bis heute nicht auf CD übernommen). Auf den zweiten Blick also doch eine beachtliche Erfahrungen des Dirigenten in Sachen Schumann. Schaut man sich Janowskis Konzertprogramme der letzten Jahre an, so tauchten Schumanns Sinfonien folgerichtig durchaus ab und an auf.

Wie aber klingt Schumann á la Janowski denn nun? Die oben genannte Aufnahme des orchestral durchaus gewichtigen Violinkonzerts, die mir durch glückliche Umstände vorliegt, empfand ich seinerzeit dirigentisch unauffällig. Tatsächlich ist Janowskis Ansatz auch bei den Sinfonien kein euphorisch-ekstatischer wie weiland derjenige des unvergessenen Leonard Bernstein. Dies muss per se nichts grundsätzlich Verkehrtes sein. Fraglos trägt die unstrittige langjährige Erfahrung Janowskis dazu bei, dass er bei der nunmehrigen Neueinspielung durchaus den Schumann’schen Tonfall trifft und nicht versucht, dem Erzromantiker die Romantik auszutreiben, wie dies manche Vertreter der HIP-Bewegung ohne nachhaltigen Erfolg taten. Die Tempi, die Janowski anschlägt, vermeiden die Extreme; weder wird gehetzt noch verschleppt. Die zum Zuge kommende Dresdner Philharmonie erweist sich als zugleich voll tönender wie auch beweglicher Klangkörper. Detailfreudiges Hervorheben gerade lyrischer Momente ist eine Stärke dieser Lesart. Andererseits fehlen die orchestralen Ausbrüche, etwa im Kopfsatz und bei der Überleitung zum Finale der Vierten, wie sie einst Wilhelm Furtwängler in seiner legendären DG-Einspielung maßstäblich und wie in Stein gemeißelt vorlegte.

Zur Frühlingssinfonie hat Janowski offenbar – wie oben schon erwähnt – ein besonders enges Verhältnis. Seine geradlinige Lesart der Mitte bestätigt den allgemein vorherrschenden Eindruck, dass ein Bis-an-die-Grenzen-Gehen gar nicht beabsichtigt ist. Die Tiefgründigkeit eines Otto Klemperer (EMI), der zumal im Kopfsatz ein überlebensgroßes Klanggemälde entstehen lässt, bleibt unerreicht. Von der überschwänglichen Lebensfreude, die an Botticellis Primavera denken lässt und die musikalisch in der zu Unrecht vergessenen Einspielung Hans Swarowskys (Audio Fidelity) mustergültig umgesetzt scheint, ist Janowski ein gutes Stück entfernt. Am stärksten gelingt ihm das verinnerlichte Larghetto.

Mehr und mehr beschleicht einen das Gefühl, dass das etwas pauschal geratene Klangbild seinen Anteil daran hat, dass Verhaltenheit vorherrscht und der Funke nur stellenweise überspringen will (aufgenommen wurde zwischen Mai 2021 und Juni 2023 im Kulturpalast Dresden). Nahezu erwartbar, kann auch in der als schwierig geltenden Sinfonie Nr. 2 – laut Günter Wand „ein krankes Werk“ – der langsame Satz, das großartige Adagio espressivo, am ehesten punkten. Die unbändige Überzeugungskraft des genannten Bernstein (CBS und DG), aber auch diejenige des eigentlich als nüchtern geltenden Ernest Ansermet (Decca) wird zumal in den Ecksätzen nicht entfesselt.

Schließlich die Rheinische, anders als die Nummerierung glauben macht, Schumanns finale genuine sinfonische Schöpfung und ob ihrer Fünfsätzigkeit aus der Reihe tanzend. Sie zu einer Schumann’sche Eroica erhöhen zu wollen – wie weiland auf seine Art vortrefflich Carlo Maria Giulini (EMI und DG) –, ist mitnichten Janowskis Absicht. Rein tempomäßig nimmt er das Lebhaft im Kopfsatz ernst, ohne exaltiert zu werden. Ein Eindruck von der im Rheinland vorherrschenden Lebensbejahung gelingt im nachfolgenden Scherzo. Gleichzeitig wird die berühmte Feierlichkeit des langsamen Satzes nicht überbetont und ersteht der Kölner Dom vor dem geistigen Auge insofern tendenziell säkularisiert. Im Schlusssatz kehrt die Ausgelassenheit zurück. In summa womöglich das Highlight dieses neuen Zyklus.

Das nicht allzu umfangreiche Beiheft mit Einleitungstext von Jörg Peter Urbach (auf Deutsch und Englisch) ist grundsolide, befasst sich allerdings allein mit den vier Sinfonien selbst. Kein Wort darüber, wieso sich Marek Janowski im hohen Alter nun abermals diesen Werken Schumanns widmet und welche Gedanken der Dirigent selbst dazu haben mag. Daniel Hauser

Beglückende „Pausensinfonie“

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Bruckner und kein Ende in Sicht. Das Jubiläumsjahr trägt diesem Umstand anhaltend Rechnung. Konkret nähert sich auch der Sinfonien-Zyklus von Gerd Schaller und der Philharmonie Festiva seiner Vollendung. Profil Hänssler bringt als neuesten Streich die 1877er Fassung der Sinfonie Nr. 2, also gleichsam die Letztfassung dieses Werkes (PH23085). Einmal mehr handelt es sich um eine Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk. Denjenigen, welche die seit 2011 erscheinende Serie verfolgen, ist das Kloster Ebrach in Oberfranken, mittlerweile zum vertrauten Aufnahmeort geworden (Einspielung am 1. Oktober 2023). Bruckners Zweiter widmete sich Schaller in ihrer Urfassung bereits ganz zu Beginn seines Aufnahmenmarathons (PH12022). Mit 70 Minuten Spielzeit ist diese Fassung von 1872 eine Viertelstunde länger als die nun vorgelegte 55-minütige Fassung von 1877 aus letzter Hand, wobei hierzu die Nowak-Edition von 1965 zurate gezogen wurde. Im Gespräch mit Rainer Aschemeier, das im Booklet abgedruckt ist, erläutert der Dirigent profund, dass der typische „weihevoll-erhabene Charakter, das Mystische“ der Bruckner-Sinfonien eigentlich erst mit der Dritten begänne und die Werke davor noch deutlich in der Beethoven-Nachfolge stünden. Vielleicht haben auch deswegen Dirigenten wie Sergiu Celibidache, Hans Knappertsbusch und Wilhelm Furtwängler die frühen Sinfonien nie berücksichtigt. Die Zweite, die zunächst als Sinfonie Nr. 3 konzipiert war (die eigentlich an zweiter Stelle stehende sogenannte „Nullte“ widerrief der Komponist erst später), erlebte in der Erstfassung von 1872 nach einigem Problemen ihre Uraufführung durch die Wiener Philharmoniker und selbst der berüchtigte Kritiker Eduard Hanslick fand anerkennende Worte. Gleichwohl kam es danach zur Umarbeitung, die in der 1877er Fassung mündete. Schaller sieht das Werk gerade in dieser als „sehr kompakt“ und „gut durchhörbar“ an. Gleichzeitig handle es sich um ein sehr kontrastreiches Stück, das neben Beethoven auch eine „Seelenverwandtschaft mit Schubert“ aufweise. Insgesamt kann man des Dirigenten Unverständnis, wieso die Zweite nicht öfter gespielt werde, durchaus nachvollziehen. Es nimmt nicht wunder, dass die berühmten Bruckner-Dirigenten der Vergangenheit fast durch die Bank der 1877er Fassung den Vorzug gaben, ob nun in der genannten Nowak-Edition (so etwa Carlo Maria Giulini – ein besonderer Verfechter dieser Sinfonie -, Eugen Jochum, Herbert von Karajan, Stanislaw Skrowaczewski und Sir Georg Solti) oder in der älteren, schon 1938 vorliegenden Haas-Edition (so unter anderem Volkmar Andreae, Günter Wand, Horst Stein, Bernard Haitink und Daniel Barenboim). Fast erwartbar, legt Gerd Schaller eine bemerkenswerte Lesart vor, die seinen Ruf als einer der führenden Bruckner-Interpreten unserer Tage abermals unterstreicht. Auf einseitigen Bombast verzichtend, kommt bei Schallers wohl akzentuiertem Ansatz gerade auch der lyrische Charakter der 2. Sinfonie zum Tragen. Auch die Pausen der sogenannten „Pausensinfonie“ weiß er mit Leben zu füllen. Unterstützt von der überlegenen Leistung der Tontechniker, braucht das Ergebnis keine Vergleiche scheuen und darf zu den beglückendsten Darbietungen der jüngeren Zeit gerechnet werden. Daniel Hauser

Referenzträchtige „Waldnymphe“

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Der Sibelius-Zyklus unter Santtu-Matias Rouvali aus Göteborg schreitet seiner Vollendung entgegen. Die soeben erschienene jüngste Folge des Projekts (Alpha 1008) wartet mit der – gemäß Andrew Mellor im Bookleteinführungstext – „anspruchsvollsten“ unter den Sinfonien des großen finnischen Komponisten auf: der Vierten. Ihre düstere Grundstimmung geht zweifelsohne auf den seinerzeitigen Gesundheitszustand ihres Schöpfers zurück, hatte dieser doch die riskante Entfernung eines Tumors im Hals hinter sich und musste – zumindest zeitweilig – dem von ihm so geliebten Trinken und Rauchen eine völlige Absage erteilen. Zeitgenössisch stieß das Werk auf starke Widerstände. So weigerten sich die Wiener Philharmoniker 1912, die Partitur einzustudieren (sie sollten sie erst unter Lorin Maazel ein halbes Jahrhundert später erstmals spielen). Aber bereits die Uraufführung im Vorjahr in Helsinki verstörte die Kritiker. Aus heutiger Sicht ist dieses expressionistische Werk ohne Frage mit die kühnste Kreation von Jean Sibelius, weist sie doch bereits weit ins 20. Jahrhundert hinein. Mit seinen vorangegangenen drei Sinfonien hatte die Sinfonie Nr. 4 allerdings wenig gemein und so dauerte es lange, bis man sich ihres Stellenwertes wirklich bewusst wurde. Nie waren sich Sibelius und Mahler, die beiden Antipoden ihrer Zeit (deren einziges Treffen wohl nicht zufällig kurze Zeit zuvor stattgefunden hatte), in ihrer Tonsprache näher. Die Göteborger Symphoniker sind voll in ihrem Element und liefern, angespornt durch das energische Dirigat Rouvalis, eine vollauf überzeugende Lesart, die sich mit den besten in der Diskographie – darunter vor allem der hier maßgebliche Karajan (besonders in seiner früheren Stereoeinspielung für DG) – messen kann.

Aus gänzlich anderem Holz geschnitzt ist die anderthalb Jahrzehnte zuvor komponierte Tondichtung Die Waldnymphe von 1894/95. Sie steht in Nachbarschaft zu den ungleich berühmteren Werken En saga und den Lemminkäinen-Legenden. Tatsächlich lieferte in diesem Falle allerdings nicht die finnische, sondern die schwedische Folklore den Ausgangspunkt, nämlich das gleichnamige Gedicht von Viktor Rydberg (1882). Die Thematik um den Helden Björn, der den Reizen einer im Wald lebenden Sirene erliegt, ihr seine Seele überlässt und schließlich daran zugrunde geht, beschäftigte Sibelius bereits Ende der 1880er Jahre, als er den Stoff erstmals in Liedform vertonte. Es sollten noch ein Melodram für Erzähler, Klavier, zwei Hörner und Streichorchester sowie eine Fassung für Soloklavier folgen. So wagnerisch klang der Finne selten. Eine geradezu soghafte Wirkung, der man sich kaum entziehen kann, entfaltet sich vom ersten Takt an. Der Spannungsbogen wird in den vier Abschnitten bis zum überlebensgroßen Schluss gehalten. Indes distanzierte sich der Komponist später von diesem Jugendwerk. Nach einer einmaligen Wiederaufführung anlässlich seines 70. Geburtstages im Jahre 1935 verschwand es für sechs Jahrzehnte von der Bildfläche. Diskographisch ist die Waldnymphe bis zum heutigen Tage auch deswegen nur mäßig vertreten und fehlen bedauerlicherweise die großen Sibelius-Dirigenten der Vergangenheit unter den Interpreten, weswegen diese weitere Einspielung zum eigentlichen Highlight der Neuerscheinung gerät. Rouvali profitiert nicht zuletzt vom überlegenen Klang der Alpha-Tontechnik und lässt die sehr beachtlichen bisherigen offiziellen Einspielungen hinter sich, welche da wären: John Storgards mit den Helsinkier Philharmonikern (Ondine), Shuntaro Sato mit dem Sinfonieorchester Kuopio (Finlandia), Douglas Bostock mit der Philharmonie Göteborg-Aarhus (Classico) und Osmo Vänskä – mit dessen Namen freilich untrennbar die Wiederentdeckung der Waldnymphe Mitte der 1990er Jahre verbunden bleiben wird – mit der Sinfonia Lahti (gar zweimal bei BIS). Es bleibt die vage Hoffnung, dass andere Dirigenten durch diese ausgezeichnete Neuaufnahme ebenfalls angespornt werden.

Gleichsam als Zugabe gibt es eine inspirierte Darbietung der weltberühmten Valse triste (1904), was diese mit knapp 65 Minuten Spielzeit nicht allzu üppig bestückte CD gediegen abrundet. Das Booklet erfüllt seinen Zweck (Englisch, Französisch, Deutsch). Nun stehen nur mehr die Sinfonien Nr. 6 und 7 aus, um den Göteborger Zyklus zu seinem gebührenden Abschluss zu bringen (29. 02. 24). Daniel Hauser

Aribert Reimann

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Als Sohn des Kirchenmusikers Wolfgang Reimann und der Altistin Irmgard Rühle wurden dem am 4. März 1936 in Berlin geborenen Aribert Reimann die musikalischen Gene gleichsam von Anfang an mitgegeben. Erste Kompositionen schrieb er bereits mit zehn und fungierte nach dem Abitur als Korrepetitor an der damaligen Städtischen Oper Berlin. Es folgte ein Klavier-, Kompositions- und Musikwissenschaftsstudium, zunächst in Berlin, später in Wien. Reimanns Repertoire als Komponist war breit gefächert und ging von der Kammermusik über Orchesterwerke bis hin zur Oper. Zu Beginn seiner Karriere erfolgte mehrfach eine Zusammenarbeit mit Günter Grass für das Ballett. Besonders mit der Oper Lear, durch Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle geadelt, schuf er 1978 zum Libretto von Claus H. Henneberg einen Klassiker der Avantgarde (die von Gerd Albrecht dirigierte Einspielung erschien bei der Deutschen Grammophon). Noch 2010 schuf er mit Medea nach der Vorlage von Franz Werfel ein bedeutendes zeitgenössisches Musikdrama. Anfang der 1970er Jahre zum Mitglied der Berliner Akademie der Künste ernannt, hatte Reimann zwischen 1974 und 1983 zunächst eine Professur für Zeitgenössisches Lied zunächst an der Hamburger Musikhochschule inne, anschließend von 1983 und 1998 an der Hochschule der Künste Berlin. Mannigfaltig ausgezeichnet, trug er u.a. das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern sowie den Pour le mérite für Wissenschaften und Künste und erhielt für sein Lebenswerk den Ernst-von-Siemens-Musikpreis. 1988 stiftete Reimann den Busoni-Kompositionspreis zur Förderung des kompositorischen Nachwuchses. Aribert Reimann, dessen Bedeutung gerade in der Vokalmusik immens war, ist am 13. März 2024 kurz nach seinem 88. Geburtstag in seiner Heimatstadt Berlin verstorben (Foto Wikipedia). Daniel Hauser

Bruckner in St. Florian

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Das Bruckner-Gedenkjahr 2024 fördert nicht nur eine Vielzahl an Neueinspielungen seines mannigfaltigen sinfonischen Schaffens, sondern jetzt auch eine weitere sehr löbliche, mit Erinnerung betitelte Ausgrabung zutage. Verantwortlich zeichnet das Label Solo Musica (SM 450) in Zusammenarbeit mit den St. Florianer Sängerknaben, einem seit bald einem Jahrtausend bestehenden Knabenchor aus Oberösterreich (belegt ab 1071). Anton Bruckner, der heuer 200 Jahre alt würde, war nicht nur zwischen 1838 und 1840 selbst Mitglied des besagten Knabenchors, sondern komponierte auch geistliche Werke, die in enger Verbindung mit diesem berühmten Augustiner-Chorherren-Stift stehen. Vier Motetten sind auf der CD inkludiert: Locus iste (1869), Os justi (1879), Ave Maria (1861) und Tota pulchra es (1878). Zurecht betont der kundige Booklettext, dass die genannten Stücke weltweit zum Standardrepertoire der großen Chöre gehören, allerdings nur wenige Einspielungen mit Knabenchören vorlägen. Diesem Manko wird mit der Neuveröffentlichung mustergültig entgegengesteuert, ist das künstlerische Niveau der Solisten und des Chors der St. Florianer Sängerknaben doch unstrittig, zu welchen sich noch der nicht minder hochrangige Männerchor derselben gesellt. Die beseelte Chorleitung hat der Tenor Markus Stumpner inne. Dazu gesellt sich Pange lingua C-Dur, welches Bruckner im Alter von gerade elf oder zwölf komponierte und 1891 im hohen Alter gar noch einmal überarbeitete. Mit dem Psalm 22 (1852) wird die einzige Bruckner’sche Psalmvertonung, die für Klavierbegleitung gesetzt ist, beigesteuert. Ein außerordentlich berührendes weiteres Ave Maria für Altsolo und Orgel (1882) komplettiert die geistlichen Werke und wird hier solistisch vom großartigen Countertenor Alois Mühlbacher vorgetragen, der tatsächlich in der Lage ist, die vom Komponisten gestellten hohen Anforderungen scheinbar mühelos umzusetzen. Die Begleitung an der St. Florianer Brucknerorgel steuert Klaus Sonnleitner bei, der auch mit Vorspiel und Fuge c-Moll (1847) eine selbständige Orgelkomposition Bruckners (eine von lediglich fünf zu Papier gebrachten) verantwortet. Ansonsten improvisierte Bruckner als Organist ganz überwiegend.

Dem nicht genug, wurden bei dieser Veröffentlichung erfreulicherweise auch säkulare Werke inkludiert. Lieder mit Klavierbegleitung nehmen in Bruckners Œuvre bekanntlich einen winzigen Raum ein, wozu sich der Tonsetzer folgendermaßen geäußert haben soll: „I könnt’s schon, wenn i woll’t, aber i will nicht“. Dabei führen Mein Herz und deine Stimme (nach August von Platen, 1868) und Im April (nach Emanuel Geibel, 1865) die Meisterschaft Bruckners auch in diesem Genre vor Augen. Wiederum agiert Mühlbacher als Solist, einfühlsam begleitet von Franz Farnberger am 2021 restaurierten Brucknerflügel, demjenigen Bösendorfer-Instrument, an welchem Bruckner zwischen 1848 und 1896 selbst spielte. Das ebenfalls von Farnberger intonierte fünfminütige Charakterstück Erinnerung (um 1868) stellt eines der raren Klavierwerke des Komponisten dar und ist mit einiger Wahrscheinlichkeit derer auch das anspruchsvollste.

Abgerundet wird das Ganze durch das Männerquartett Herbstlied (1864), welches für vier Männerstimmen, zwei Soprane und Klavier gesetzt ist, und die Männerchöre Um Mitternacht (1864) – mit Klavier und Altsolo –, Trösterin Musik (1877) – wiederum mit Orgelbegleitung – sowie Der Lehrerstand (1847).

Künstlerisch wie klanglich eine herausragende Repertoireerweiterung (Aufnahme: Spätsommer 2023 in den Räumlichkeiten des Stifts St. Florian bzw. in der Stiftsbasilika). Uneingeschränkte Empfehlung, nicht nur für eingeweihte Brucknerianer. Daniel Hauser

Seiji Ozawa

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Am 1. September 1935 in Shenyang im seinerzeitigen japanischen Marionettenstaat Mandschukuo im Nordosten Chinas geboren, visierte Seiji Ozawa zunächst eine Karriere als Pianist an, bevor er sich der Komposition und dem Dirigat zuwandte und sein Studium 1958 beschloss. Bereits früh wurde man auf sein Talent aufmerksam. Er erfreute sich der Förderung durch Charles Munch, damals Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, und Herbert von Karajan, künstlerischen Leiter der Berliner Philharmoniker. 1961 wechselte er als Assistenzdirigent von Leonard Bernstein zum New York Philharmonic und wurde bereits 1964 Musikdirektor des Ravinia Festival, der Sommerresidenz des Chicago Symphony Orchestra. Zwischen 1965 und 1969 übernahm er das kanadische Toronto Symphony Orchestra und 1970 das San Francisco Symphony (bis 1977). Wenig später wählte man ihn in Boston zum designierten Nachfolger des gesundheitlich angeschlagenen William Steinberg, die er 1972 zunächst als musikalischer Berater und 1973 schließlich als Musikdirektor antrat. Dieses Amt sollte Ozawa drei Jahrzehnte innehaben und die Geschichte des BSO nachhaltig prägen. Als erster Japaner übernahm er insofern die Leitung bedeutender US-Orchester, was auch ein Vierteljahrhundert nach Hiroshima und Nagasaki keineswegs selbstverständlich war. In seiner Heimat Japan gründete er 1984 das Saito Kinen Orchestra und 1992 das Saito Kinen Festival. Daneben war er als Gastdirigent u. a. bei den Berliner und Wiener Philharmonikern, beim London Symphony Orchestra und beim Orchestre National de France über Jahrzehnte hochgeschätzt. Das Jahr 2002 begann mit dem von Ozawa geleiteten Neujahrskonzert in Wien, sah seinen Rückzug in Boston (wo seine letzten Jahre mitunter schwierig verlaufen waren) und seinen Amtsantritt als Musikdirektor der Wiener Staatsoper. Ab dieser Zeit wandte er sich verstärkt der Oper zu (Debüt an der Met bereits 1992), ehe ihn eine Speiseröhrenkrebserkrankung 2010 zum Rückzug zwang. Nach seiner Genesung kehrte er 2013 aufs Podium zurück, doch konzentrierten sich die Auftritte in seinen späten Jahren primär auf Japan. Mit über 400 Einspielungen, hauptsächlich für RCA, Philips und Deutsche Grammophon, gehört er zu den am besten dokumentierten Dirigenten überhaupt. Zu seinen künstlerisch nachhaltigsten Interpretationen gehören Aufnahmen der Werke von Hector Berlioz, Gustav Mahler und Carl Orff. Daneben trat er bis ins hohe Alter pädagogisch in Erscheinung und erhielt zahllose Ehrungen und Auszeichnungen. Am 6. Februar 2024 ist Seiji Ozawa im Alter von 88 Jahren in seinem Haus in Tokio einem Herzversagen erlegen (Foto Wikipedia). Daniel Hauser

Orientalismus á la russe

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Die russische Musik des 19. und 20. Jahrhunderts erfreut sich anhaltender Beliebtheit, was als Hoffnungsschimmer in der aufgeheizten Stimmung der Jetztzeit gelten darf. SWR Classic legt nun als eine Neuerscheinung eine etwa zehn Jahre alte Eigenproduktion unter Dmitri Kitajenko vor, die dem Rechnung trägt (SWR19138CD). Das Herzstück bildet mit gut 51 Minuten Spieldauer die Sinfonische Suite Scheherazade von Nikolaj Rimski-Korsakow, gleichsam als Beigabe ergänzt um den Verzauberten See von Anatoli Ljadow, vom Komponisten selbst als Ein Märchenbild für Orchester bezeichnet. Zumindest gefühlt war die exotische Scheherazade vor einigen Jahrzehnten gleichwohl noch populärer, wovon zahlreiche berühmt gewordene Einspielungen zeugen, darunter so überzeugende Lesarten wie jene von Ernest Ansermet (Decca), Fritz Reiner (RCA Victor), Sir Thomas Beecham (EMI), Leopold Stokowski (Decca) und Kirill Kondraschin (Philips). Im Konzertsaal erklingt sie heutzutage nicht mehr ganz so häufig, was ihr von ihrem Rang indes nichts nimmt. Kitajenko genehmigt sich insgesamt mehr Zeit als andere Dirigenten, ein wenig an Sergiu Celibidache (EMI) gemahnend, aber doch im Zugriff zupackender. Mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR – mittlerweile im SWR Symphonieorchester aufgegangen – steht ein hervorragendes Ensemble zur Verfügung, dessen Stärken man ausgerechnet in diesem Repertoire nicht unbedingt vermuten würde. Das Orchester ist fabelhaft aufgestellt und bildet die volle Bandbreite der farbigen Partitur ab. Die Hintergrundgeschichte beruht auf der berühmten Erzählung Tausendundeine Nacht und verbindet die meisterhafte Orchestrationskunst, für welche Rimski-Korsakow zurecht berühmt war, mit der orientalischen Exotik, die im zeitlichen Rahmen des Ausgreifens des russländischen Zarenreiches in den muslimisch geprägten zentralasiatischen Raum um 1880 gleichsam ihren natürlichen Platz hat. Innerhalb der vierteiligen Tondichtung nimmt die Solovioline eine wichtige Rolle ein und das Ganze gerät stellenweise beinahe wie ein Konzert für Violine und Orchester. Mit der Australierin Natalie Chee hat die Einspielung eine vorzügliche Vertreterin ihrer Zunft vorzuweisen, die gerade die lyrischen Momente auskostet. Der verzauberte See, hier etwa achtminütig, gerät zur adäquaten Zugabe und zeigt besagten Ljadow als würdigen Nachfolger Rimskis, wiewohl der Jüngere viel weniger Orchesterwerke hinterließ. Christoph Schlüren hebt in seinem lesenswerten Einführungstext (Deutsch, Englisch) zurecht die verfeinerte Orchestrierung Ljadows hervor. Der 1940 im damaligen Leningrad geborene Kitajenko ist in beiden Werken hörbar „zu Hause“. Glücklicherweise darf auch der klangliche Aspekt der Produktion als überaus überzeugend bezeichnet werden (Aufnahme: Stuttgarter Liederhalle und Mannheimer Rosengarten, Juni 2013 und November 2014). Daniel Hauser

Mehr als „Notre Dame“

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Der österreichische Komponist Franz Schmidt, geboren 1874 in Preßburg und gestorben 1939 in Perchtoldsdorf bei Wien, ist bis heute vor allem aufgrund seines Oratoriums Das Buch mit den sieben Siegeln und der Oper Notre Dame in Erinnerung geblieben. Sein Œuvre ist vergleichsweise überschaubar, doch durchgängig von hoher Qualität. Während sich seine erste Oper Notre Dame einer gewissen Beliebtheit erfreut (s. nachstehend), scheint die zweite namens Fredigundis vergessen.

Schmidts Sympathien für den Austrofaschismus und sein Eintreten für den „Anschluss“ haben seine Reputation nach 1945 nicht eben befördert (dafür mag auch sein unvollendetes letztes Werk, die Kantate Deutsche Auferstehung von 1938/39, stehen). Gleichwohl gibt es mittlerweile eine recht beachtliche Diskographie seiner Orchesterwerke, die sich primär aus den zwischen 1896 und 1933 entstandenen vier Sinfonien zusammensetzen.

Das Label Accentus legt nun in Kooperation mit BBC Radio 3 eine weitere Gesamteinspielung derselben vor (ACC80544). Verantwortlich zeichnet das BBC National Orchestra of Wales unter dem Dirigenten Jonathan Berman. Die Weltersteinspielung des Sinfonienzyklus besorgte zwischen 1989 und 1996 Neeme Järvi mit dem Detroit bzw. dem Chicago Symphony Orchestra (Chandos). Es folgten Fabio Luisi mit dem MDR Sinfonieorchester (Querstand), Wassili Sinaiski mit dem Sinfonieorchester Malmö (Naxos) und zuletzt Paavo Järvi mit dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt (DG). Im direkten Vergleich nimmt sich Berman überwiegend mehr Zeit, was kein Schaden sein muss. Besonders die zweite und die vierte Sinfonie, die zurecht als Höhepunkte der Schmidt’schen Sinfonik gelten, wurden freilich etwas häufiger aufgenommen, so die Zweite bereits 1958 unter Dimitri Mitropoulos und 1983 unter Erich Leinsdorf – beide Male live mit den Wiener Philharmonikern. Die Vierte erlebte schon 1971 ihre erste Studioproduktion mit demselben Spitzenorchester unter Zubin Mehta (Decca). Insgesamt ist die diskographische Situation als weit davon entfernt, als desaströs gelten zu müssen.

Die Neueinspielung aus der walisischen BBC Hoddinott Hall in Cardiff (entstanden zwischen Jänner 2020 und Oktober 2022) zeichnet sich durch ein klares, alle Instrumentengruppen natürlich abbildendes Klangbild aus. Als über die Maßen ausführlich darf auch das mehr als hundertseitige Booklet gelten, das dreisprachig daherkommt (Englisch, Deutsch, Französisch) und neben grundsätzlichen Ausführungen zu den eingespielten Werken, den Biographien der Beteiligten und Anmerkungen zur künstlerischen Gestaltung auch ein von Martin Hoffmeister geführtes informatives Interview mit dem musikalischen Leiter Jonathan Berman enthält. Selbst in ihren lautesten Momenten verfalle Schmidts Musik niemals der Gefahr des Bombasts und behalte ihre humane Ader, so der Dirigent, der auch die einseitige Charakterisierung des Komponisten als „Organist-Komponisten“ zu relativieren sucht und von einer hörbaren „Wiener Eleganz“ spricht, welche Schmidts Musik auszeichne. Berman zufolge dachte Schmidt auch dann sinfonisch, wenn er keine Sinfonien schrieb. Dies ist gewiss nicht zuletzt der Grund, wieso man auch das Zwischenspiel und die Karnevalsmusik aus der besagten Oper Notre Dame mitberücksichtige. Diese hörenswerte Instrumentalmusik entstand, wie der kundige Begleittext vermittelt, schon vor der Fertigstellung, womöglich sogar vor der Konzeption der Oper, stellt insofern also keine Art orchestrale Suite von Auszügen derselben dar.

Franz Schmidt-Denkmal: Wien-Ober Sankt Veit, Ghelengasse.
Die Büste schuf Hilde Uray 1954, (siehe das Bild mit ihrer Signatur); der Bronzeguss stammt aus der Kunstgießerei Alfred Zöttl, Wien.
Die Enthüllung fand am 16. Juni 2005 statt./ Wikipedia/ Foto Thomas Ledl

Bereits in der zwischen 1896 und 1899 komponierten Sinfonie Nr. 1 zeigt sich eine bemerkenswerte Originalität. Anders als viele seiner anderen Jugendwerke, entkam sie der späteren eigenhändigen Vernichtung durch ihren Schöpfer, was nicht wundernimmt, erhielt Schmidt dafür doch den begehrten ersten Preis der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, wo 1902 dann auch die Uraufführung unter seiner Leitung stattfand. Das großangelegte viersätzige Werk von einer Dreiviertelstunde, welches der Erzherzogin Isabella gewidmet ist, tat Schmidt Jahre danach als „Schulstück“ ab, doch sind seine Qualitäten unbestreitbar vorhanden. Mit der noch ausladenderen dreisätzigen Sinfonie Nr. 2 (1911-13) legte er kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereits ein Opus magnum vor, das in seinen orchestralen Dimensionen an Mahlers Opulenz erinnert. Anfangs tatsächlich als Klaviersonate konzipiert, folgt auf den eher konventionellen Kopfsatz ein Allegretto mit nicht weniger als zehn Variationen, gewissermaßen ein Zwitter aus langsamem Satz und Scherzo. Im Finale gibt es neuerlich tönende Reminiszenzen an den ersten Satz. Beschlossen wird die zweite Sinfonie durch einen gewaltigen Choral, der in seinen Dimensionen entfernt an die Apotheose am Ende von Bruckners Fünfter erinnert, ohne diese auch nur ansatzweise kopieren zu wollen. Wesentlich später, nämlich erst 1927/28 komponierte Franz Schmidt seine Sinfonie Nr. 3. Sie konnte immerhin den zweiten Preis des Schubert-Wettbewerbs 1928 (100. Todestag) einheimsen (hinter Kurt Atterberg). Den Kriterien der Preisausschreibung folgend, ist sie „im Geiste Schuberts“ geschrieben, insofern also orchestertechnisch bewusst deutlich kleiner, geradezu pastoral angelegt und wiederum der klassischen Viersätzigkeit folgend. Aufgrund ihrer archaischen Konstruktion wirkt sie ein wenig anachronistisch, doch handelte es sich augenscheinlich um die vom Komponisten selbst favorisierte unter seinen Vierlingen. Mit der Sinfonie Nr. 4, 1932/33 kurz nach dem Tode seiner Tochter entstanden, kam Schmidts sinfonisches Schaffen an seinen Schlusspunkt. Fraglos hat er autobiographische Aspekte verarbeitet, wovon der darin enthaltene gewaltige Trauermarsch zeugt. Wiederum viersätzig entworfen, stellt das einstündige Werk den instrumentalen Gipfel seines Werkverzeichnisses dar. Ein Trompetensolo leitet den Kopfsatz ein und mit einem eben solchen klingt die Finalcoda aus. „Sterben in Schönheit, während das ganze Leben noch einmal vorbeizieht“, beschrieb der Komponist es selbst. Ihrem Widmungsträger Oswald Kabasta gegenüber – der 1934 auch die Erstaufführung verantwortete –, betonte Schmidt, dass es sich um sein wahrhaftigstes und innigstes Werk überhaupt handle.

Eine in allen Belangen überzeugende Neuerscheinung, die dem Sinfoniker Franz Schmidt hoffentlich noch mehr das Gehör verschafft, welches ihm gebührt, und zudem dazu anregen mag, eine seiner Sinfonien künftig öfter aufs Konzertprogramm zu setzen. Das anstehende Schmidt-Jubiläumsjahr 2024 (150. Geburtstag) böte dazu mannigfaltige Möglichkeiten. Daniel Hauser

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PS.: Es wäre eine arge Unterlassung, wiesen wir nicht etwas ausführlicher auf das Bekannteste in Sachen Franz Schmidt hin, nämlich seine hinreißende Oper Notre Dâme (in zwei Aufzügen, Text nach Victor Hugo von Franz Schmidt und Leopold Wilk; komponiert: 1902–1904, Uraufführung: Wien 1914, also auch noch Kriegsware!), die – heute kaum noch aufgeführt – seine eigentliche Berühmtheit ausmacht. Leider verstellt die ziemlich abscheuliche, einzige Studioeinspielung bei CAPRICCIO den Zugang, denn weder Gwyneth Jones oder James King noch der Rest machen Lust aufs Hören. Und die antike Einspielung vom Bayerischen Rundfunk 1949 unter Hans Altmann mit dem brüllenden Hans Hopf und der kullernden Hilde Scheppan hat ihre Dienste mehr als getan. Nein, man muss sich den Sammlern zuwenden, um den wirklich mitreißenden Mitschnitt aus der Wiener Volksoper 1975 unter Wolfgang Schneiderhahn mit der vor Sinnlichkeit fast berstenden Julia Migenes neben dem charismatischen, abgründigen Ernst Gutstein nebst Walter Berry und Joseph Opferwieser als Geliebter Phoebus zu ergattern. In gutem Stereo kam er kurzfristig auf grauen Labels heraus, aber Discogs hats mal wieder (gegen einen Preis!). Für mich die ideale Aufnahme – packend wie ein Hollywood-Reißer und extrem gut gesungen. Von 2001 gibt´s noch eine Radio-Aufnahme aus Montpellier mit einer lethargischen, aber stimmlich leuchtenden Brigitte Hahn neben einer soliden internationalen Besetzung. Aber die Migenes plus cast in Wien ist es.

Und in Sachen Fredigundis reisst eine alte Wiener Rundfunkaufnahme von 1979 unter dem verdienstvollen Ernst Märzendorfer mit der unterpowerten Dunja Vejzovic trotz des von vielen geliebten Werner Hollweg nicht viel heraus (auch diese nur noch bei Discogs und Sammlern). G. H.

Nicht nur Radetzky-Marsch

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Seit über acht Jahrzehnten wird das neue Jahr traditionell mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker eingeleitet. Längst hat es sich zum internationalen Großereignis entwickelt, im Fernsehen und Rundfunk (und mittlerweile natürlich auch im Streaming) live übertragen in aller Herren Länder. Am 1. Jänner 2024 stand nach fünfjähriger Pause zum zweiten Male der gebürtige Berliner Christian Thielemann auf dem Dirigentenpult im Goldenen Musikvereinssaal in Wien. Wie üblich, liegt wenige Tage hernach die Compact Disc vor (Sony 19658858932). Filmisch verewigt, schließen sich Ende des Monats DVD und Blu-ray an, neuerdings komplettiert um die pseudo-nostalgische Langspielplatte.

Was stand heuer auf dem Programm? Von den insgesamt 15 Nummern des offiziellen Programms sind nicht weniger als neun davon Premieren beim Neujahrskonzert, zwar nicht ganz so viele wie voriges Jahr (14), aber doch ein Fortbeschreiten des eingeschlagenen Weges, wo neuerdings bewusst nicht mehr bloß die „Sträusse“ berücksichtigt werden. Den Auftakt macht der bereits geläufige Karl Komzák mit dem Erzherzog-Albrecht-Marsch, einem eher streitbaren Mitglied des österreichischen Erzhauses gewidmet. Johann Strauss Sohn folgt freilich gleich darauf doppelt mit dem Walzer Wiener Bonbons und der eingängigen Figaro-Polka. Tatsächlich tut sich der Eindruck auf, als ließe der sich anschließende und herrliche k. u. k. Romantik ausstrahlende Walzer Für die ganze Welt von Joseph Hellmesberger junior, eine der Erstaufführungen in diesem Zusammenhang, gar den zuvor gehörten des Walzerkönigs alt aussehen. Die furiose Schnellpolka Ohne Bremse von Eduard „Edi“ Strauss bildet einen passenden Kontrast hierzu und beschließt den ersten Teil des Konzerts. Altbekanntes folgt nach der Pause mit der Ouvertüre zur spät entstandenen Johann-Strauss-Operette Waldmeister auf den Fuß. Selbst von diesem berühmtesten Mitglied der Strauss-Dynastie gibt es nach wie vor Neues zu entdecken, wie der landläufig gewiss unbekannte Ischler Walzer aus seinem Nachlass (und ohne Opus-Zahl) beweist, eine Hommage an sein geliebtes Ischl (das erst 1906, sieben Jahre nach Strauss‘ Tod, den Beinamen Bad erhielt). Eine Reihe vierer unterschiedlicher Polkas setzt den Konzertverlauf fort, davon drei Premieren: Über die Nachtigall-Polka (abermals Johann Strauss Sohn), die Polka mazur Die Hochquelle (Eduards zweiter Konzertbeitrag) und die geläufige Neue Pizzicato-Polka (neuerlich Johann junior) gelangt schließlich der jüngere Hellmesberger mit der Estudiantina-Polka aus seinem Ballett Die Perle von Iberien noch einmal zu Gehör. Mit dem prachtvollen Konzertwalzer Wiener Bürger von Carl Michael Ziehrer wird schließlich der letzte k. u. k. Hofball-Musikdirektor der Donaumonarchie gewürdigt. Wie eigentlich alle Ziehrer-Walzer, will auch dieser, sein wohl berühmtester, den leicht militärischen Einschlag gar nicht verleugnen (der Komponist war schließlich langjähriger Kapellmeister des legendären Hoch-und-Deutschmeister-Infanterie-Regiments Nr. 4). Das soeben eingeleitete Anton-Bruckner-Jahr 2024 (200. Geburtstag) geht nicht einmal am Neujahrskonzert vorüber. Ein frühes, völlig „unbrucknerisches“ Klavierwerk, die gut fünfminütige Quadrille WAB 121, wurde eigens zu diesem Anlass von Wolfgang Dörner für Orchester gesetzt. Das Ergebnis kann sich hören lassen und komplettiert auf eine gewisse Weise Thielemanns Bruckner-Zyklus, den er mit den Wiener Philharmonikern kürzlich vollendet hat (ebenfalls bei Sony erschienen). Heuer ebenfalls abermals vertreten ist der Däne Hans Christian Lumbye, der „Strauss des Nordens“. Sein spritziger Galopp Glædeligt Nytaar! (Frohes neues Jahr!) fügt sich nahtlos in die Programmgestaltung ein. Jetzt erst, beim letzten Stück des offiziellen Konzertprogramms, tritt Josef Strauss hinzu, dessen Delirien-Walzer fraglos einen der einprägsamsten Vertreter dieser beliebten Gattung darstellt. Die Thielemann’sche Darbietung desselben ist gar ein Höhepunkt des heurigen Neujahrskonzerts. Josef Strauss ist es auch, der gleich danach die erste Zugabe, die einzige wirkliche Überraschung des Konzerts, beisteuert. Seine feurig dargebotene Jockey-Polka versöhnt diejenigen, die den womöglich genialsten der Strauss-Brüder heuer etwas vernachlässigt sahen. Nach einem wohltuend nüchternen Neujahrsgruß des Dirigenten geht man zu den weiteren Zugaben über. Den weltbekannten Donauwalzer alias An der schönen blauen Donau meint man schon lange nicht mehr so locker und doch voller Pläsier gehört zu haben. Freimütig heraus gesagt: Diese Interpretation darf sich ganz vorne einreihen, trotz solch illustrer und zurecht gerühmter Vorgänger wie Willi Boskovsky, Herbert von Karajan und Georges Prêtre. Ganz zum Schluss dann erwartbar Johann Strauss Vater mit seinem Radetzky-Marsch. Das (diesmal leider besonders unkoordinierte) Klatschen wird man dem Publikum in diesem Leben nicht mehr austreiben können, aber was wäre ein Neujahrskonzert auch ohne nicht zumindest einen kleinen Wermutstropfen.

In der Summe ein beglückendes Neujahrskonzert, durchaus eines der erinnerungswürdigsten der letzten Zeit. Der Berliner Christian Thielemann hat in diesem urwienerischen Repertoire weiter an Statur gewonnen und, nicht zuletzt dank der erkennbar auf Gegenseitigkeit beruhenden innigen Verbindung mit dem Orchester, womöglich seine letzten Kritiker überzeugen können. Chapeau also und Prosit Neujahr! Daniel Hauser

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Alle Jahre wieder wird das neue Jahr mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker eingeleitet. Standen die letzten beiden Konzerte noch unter dem Eindruck der Pandemie, so war dies diesmal, am 1. Jänner 2023, erfreulicherweise kaum mehr nennenswert der Fall. Zum bereits dritten Male (nach 2011 und 2013) wurde der österreichische Dirigent Franz Welser-Möst mit der musikalischen Leitung geehrt, wobei sein letzter Auftritt zu diesem Anlass vor haargenau einem Jahrzehnt stattfand. Traditionell liegt die CD bereits wenige Tage später vor, so auch heuer (Sony 19658717382).

Von den insgesamt 18 Stücken der Doppel-CD stellen nicht weniger als 14 Neujahrskonzert-Premieren da, wie ein roter Aufkleber auf der CD-Hülle verheißt. Das ist neuer Rekord und durchaus begrüßenswert. Sieht man sich die Namen der berücksichtigten Komponisten an, so ist Johann Strauss Sohn, fraglos der Spitzenreiter der Wiener Neujahrskonzerte insgesamt, diesmal gerade zweimal auf dem offiziellen Programm vertreten (Zigeunerbaron-Quadrille und die eingängige Schnellpolka Frisch heran!). Freilich, als Zugabe kommt noch der Banditen-Galopp sowie der unvermeidliche Donauwalzer hinzu. Die Tendenz ist gleichwohl eindeutig. Unstrittiger Gewinner ist diesmal sein Bruder Josef Strauss, mit sage und schreibe sieben Werken vertreten. Bereits der Auftakt mit dem großartigen, kaum geläufigen Walzer Heldengedichte spricht Bände über dessen Qualitäten. Von den drei weiteren Walzern aus Josefs Feder ist einzig Aquarellen zurecht berühmt, doch auch Perlen der Liebe und Zeisserln wissen für sich einzunehmen. Hinzu treten zwei Polkas françaises – eine Gattung, in der er besonders brilliert –, nämlich die Angelica-Polka sowie Heiterer Muth – letztere mit Chorbegleitung, heuer erstmals nicht nur durch die Wiener Sängerknaben, sondern auch die Wiener Chormädchen. Mit For ever, einer schnellen Polka, und dem Allegro fantastique wird der „josefinische“ Beitrag beschlossen. Der dritte, lange Zeit übersehene Strauss-Bruder Eduard erfährt auch langsam die Anerkennung, die ihm gebührt. Seine spritzige Schnellpolka Wer tanzt mit? eröffnet das Konzert. Zur selben Gattung gehört auch Auf und davon. Gerne würde man auch einmal einen Walzer Eduards auf dem Konzertprogramm sehen.

Eine andere schöne Entwicklung ist, dass Carl Michael Ziehrer, als Nachfolger der „Sträusse“ der letzte k. u. k. Hofball-Musikdirektor der Donaumonarchie und in Wien deren namhafteste Kontrahent, sich mittlerweile beim Jahrzehnte lang hinsichtlich der Programmgestaltung sehr konservativen Neujahrskonzert etabliert hat. Abermals wird ein großer Walzer aus seiner Feder beigesteuert: In lauschiger Nacht steht gegenüber seinen bekannteren Genrebeiträgen wie Wiener Bürger und Hereinspaziert! kaum nach und gibt wie diese gewisse Rückschlüsse auf Ziehrers langjährige Tätigkeit als Militärkapellmeister. Eine Freude auch, den Namen Joseph Hellmesbergers des Jüngeren abermals auf dem Programm in Form von Glocken-Polka und Galopp zu finden. Schließlich darf seit geraumer Zeit auch Franz von Suppè nicht mehr bei der Programmauswahl fehlen. Wie schon des Öfteren, ist es auch im heurigen Jahr eine Ouvertüre, nämlich diejenige zu seiner komischen Operette Isabella, welche die typischen Stärken dieses Komponisten unter Beweis stellt.

Bleiben die Zugaben als letztes Reservoir von Johann Strauss Vater und Sohn. An der schönen blauen Donau vom Junior hat ganz ohne Frage die längste Aufführungsgeschichte und ermöglicht insofern die breiteste Vergleichbarkeit. Tatsächlich reiht sich Welser-Möst trotz übermächtiger Konkurrenz (Karajan, Prêtre, Muti) durchaus in den vorderen Reihen ein. Überhaupt: Das Neujahrskonzert 2023 ist ohne Frage sein bisher bestes. Ein feuriger Abschluss der bisweilen zur Karikatur zu verkommen drohende Radetzky-Marsch des Seniors. Heuer durchaus mitnichten. Insgesamt eines der besseren unter den vielen Neujahrskonzerten. Daniel Hauser

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Seit nunmehr 80 Jahren beginnt das musikalische neue Jahr mit dem bekanntesten aller Neujahrskonzerte, demjenigen der Wiener Philharmoniker aus dem Goldenen Saal des Musikvereins in Wien (von Sony sind in Folge zwei Viel-CD-Boxen dazu erschienen, dazu nachstehend mehr). 1941 fand dieses Konzert zum ersten Male regulär in der bis heute üblichen Form statt, wenngleich seine Geschichte genaugenommen noch ein wenig weiter zurückgeht, fiel der eigentliche Startschuss doch bereits am 31. Dezember 1939 als Silvesterkonzert. Angesichts dieser Jahreszahlen stellt sich unweigerlich die Frage, in welchem Zusammenhang es überhaupt zu diesen musikalischen Veranstaltungen zur Begehung des Jahreswechsels kam. Ein zumindest mittelbarer Zusammenhang mit der ausgefeilten Propagandamaschinerie der nationalsozialistischen Machthaber lässt sich nach der heutigen Quellenlage nicht abstreiten. Der „Anschluss“ lag nicht lange zurück. Hitler und Goebbels verstanden es, den Nimbus der Musikstadt Wien für die eigenen Zwecke einzuspannen. Die ersten wirklichen Neujahrskonzerte von 1941 bis 1945 fanden dann auch als Benefizkonzerte zugunsten der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ statt.

31. Dezember 1939 – Erstes Neujahrskonzert (eigentlich Silvesterkonzert) der Wiener Philharmoniker. Seit Jahrzehnten präsentieren die Wiener Philharmoniker zum Jahreswechsel ein Programm aus dem Repertoire der Strauß-Dynastie und deren Zeitgenossen. Die Nachfrage für die Hauptdarbietung am Neujahrsvormittag und zwei Begleitkonzerte ist enorm: Karten werden ausschließlich über die Website der Wiener Philharmoniker verlost. Sie kosten für das Neujahrskonzert teilweise über 1.000 Euro. Die Veranstaltungen erreichen durch die weltweite Fernsehübertragung zudem Zuschauer in mittlerweile über 90 Ländern. Seinen Ursprung hat das Spektakel im Nationalsozialismus: Am 31. Dezember 1939, vier Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, geben die Wiener Philharmoniker unter der Leitung des Dirigenten Clemens Krauss ein Johann-Strauß-Konzert. Es wird im Radio übertragen. Die Walzerklänge passen bestens in die Strategie der Nazi-Propaganda. Die leichten Melodien sollen die Sorge um Angehörige an der Front zerstreuen. Die Einnahmen des Silvesterkonzerts stellen die Wiener Philharmoniker zur Gänze dem von Adolf Hitler kurz zuvor eröffneten ersten „Winterhilfswerk“ zur Verfügung. Im Jahr darauf wird das Konzert vom Silvester- auf den Neujahrsvormittag verlegt: Am 1. Januar 1941 spielen die Wiener Philharmoniker – wieder unter der Leitung von Krauss – „zum ersten Mal für die NS-Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude'“, wie es in der Konzertankündigung des „Neuigkeits-Welt-Blatts“ vom 22. Dezember 1940 heißt (… weiterlesen hier). (Quelle WDR)

Interessanterweise gab es beim Neujahrskonzert nach Kriegsende nur temporär einen dezenten Bruch: Leitete die Konzerte in Kriegstagen der ehemalige Wiener Staatsoperndirektor Clemens Krauss, wurde für die Neujahrskonzerte 1946 und 1947 der jüdischstämmige Dirigent Josef Krips dazu berufen. Es ist freilich bezeichnend, dass Krauss trotz seiner Verwicklungen in der NS-Zeit ab 1948 wieder die musikalische Leitung der Konzerte übernahm und diese bis 1954, seinem Todesjahr, ununterbrochen behielt. Für die Musik der Strauss-Dynastie hat Krauss ganz ohne Frage einen immensen Beitrag geleistet und ihr auch zum endgültigen Durchbruch bei den Wiener Philharmonikern verholfen. In der Krauss-Epoche kam es auch zur erstmals am 31. Dezember 1952 erfolgten Voraufführung als Silvesterkonzert.

Nach Krauss‘ unerwartetem Ableben erfolgte eine Art Behelfslösung, indem ab 1955 Willi Boskovsky, Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, einsprang. Diese womöglich zunächst als Provisorium angelegte Lösung führte zu einem Vierteljahrhundert Wiener Neujahrskonzert unter Boskovsky, welcher diesem folglich seinen Stempel fest aufdrückte. Seit dem 30. Dezember 1962 gab es eine zweite Voraufführung, welche bis 1997 als geschlossene Veranstaltung für Angehörige des Bundesheeres firmierte. In diese Ära fällt auch das allmählich immer stärker erwachende internationale Interesse an diesem Konzert, das seit 1959 vom ORF nicht mehr bloß im Rundfunk, sondern auch im Fernsehen ausgestrahlt wurde, ab 1969 schließlich auch in Farbe. Unter Boskovsky kam es auch zu den ersten kommerziellen Einspielungen des Neujahrskonzertes, wobei eine Decca-Platte anlässlich des 25. Jubiläums seines Dirigats 1979 den Anfang machte (das Konzert von 1975 erschien erst nachträglich, zumindest in Japan, ebenfalls).

Die nächsten Jahre ab 1980 dominierte mit dem US-Amerikaner Lorin Maazel wieder ein Dirigent von Weltformat. Dieses Verhältnis erreichte in der Berufung Maazels zum Direktor der Wiener Staatsoper im Jahre 1982 seinen Höhepunkt, doch endete seine Direktion nach nur zwei Jahren aufgrund unüberbrückbarer Konflikte mit der Bürokratie. Interessanterweise blieb sein Engagement beim Wiener Neujahrskonzert davon zunächst unberührt, welchem er noch bis 1986 ohne Unterbrechung vorstand. Die Deutsche Grammophon Gesellschaft brachte indes nur eine Kompilation der Jahre 1980 bis 1983 auf den Markt. Maazel sollte später noch viermal das Neujahrskonzert leiten (1994, 1996, 1999 und 2005).

Der nächste Paukenschlag, der zum absoluten Weltereignis führen sollte, war ohne Frage die Verpflichtung des beinahe 80-jährigen Herbert von Karajan für das Neujahrskonzert 1987. Dieses gilt zurecht bis auf den heutigen Tag als eines der legendärsten und unvergesslichsten aller Neujahrskonzerte. Es war dann auch das erste seit 1979, das einzeln auf Schallplatte und CD erschien (freilich um den herrlichen Kaiser-Walzer gekürzt, der erst in einer späteren Neuauflage ebenfalls inkludiert wurde).

Von 1987 an bürgerte sich eine alljährlich wechselnde musikalische Leitung der Konzerte ein, wobei die meisten Dirigenten mehrmals die Ehre hatten, zu diesem Anlass auf dem Podium zu stehen. Mit Claudio Abbado (1988 und 1991), Carlos Kleiber (1989 und 1992), Zubin Mehta (1990, 1995, 1998, 2007 und 2015), Riccardo Muti (1993, 1997, 2000, 2004, 2018 und 2021), Nikolaus Harnoncourt (2001 und 2003), Seiji Ozawa (2002), Mariss Jansons (2006, 2012 und 2016), Daniel Barenboim (2009 und 2014), Georges Prêtre (2008 und 2010), Franz Welser-Möst (2011 und 2013), Christian Thielemann (2019) und Andris Nelsons (2020) waren es weitere Dirigenten von Weltrang, die von den Wiener Philharmonikern eingeladen wurden. Für 2022 ist wiederum Barenboim, dann 79, designiert.

 

Bereits anlässlich des 75. Jubiläums erschien bei Sony Classical eine Gesamtausgabe sämtlicher bei den Neujahrskonzerten gespielten Werke auf 23 CDs, die nun in einer um drei Discs erweiterten Neuausgabe noch einmal zusätzlich um das gesamte Repertoire der letzten fünf Jahre bereichert wurde (Sony 19439764562). Berücksichtigt sind also Aufnahmen von 1941 bis 2019. Die ganze Bandbreite der Wiener Neujahrskonzerte erzeigt sich anhand des glücklicherweise inkludierten Index der Werke, denn neben der Strauss-Dynastie sind die Komponisten Beethoven, Berlioz, Brahms, Czibulka, Delibes, Haydn, Hellmesberger Vater und Sohn, Lanner, Lehár, Liszt, Lumbye, Mozart, Nicolai, Offenbach, Reznicek, Rossini, Schubert, Stolz, Richard Strauss, Suppé, Tschaikowski, Verdi, Wagner, Waldteufel, Weber und Ziehrer – freilich in unterschiedlicher Quantität – mit dabei. Der Anspruch, der hier erhoben wird, ist gewissermaßen der einer Anthologie der Wiener Musik von den Anfängen am Anfang des 19. Jahrhunderts bis hin zum Ende der Donaumonarchie, angereichert um kleine Ausflüge, die teils mit Komponistenjubiläen in Verbindung standen (so 2013 das große Verdi- und Wagner-Jahr). So tut sich ein Rückblick auf die zwischen 1966 und 1971 für Eurodisc entstandene Reihe Wiener Musik unter Robert Stolz auf, die mittlerweile in einer 12-CD-Box bei RCA neu aufgelegt wurde. Obwohl dort neben den Wiener Symphonikern hauptsächlich die Berliner Symphoniker zum Zuge kamen, erklangen die Werke von Lanner bis Ziehrer doch ungemein idiomatisch und stellen somit eine ernsthafte Alternative dar.

 

Hier wurde streng chronologisch vergangenen. Anders in der Sony-Neuerscheinung, welche die einzelnen CDs unter thematische Oberbegriffe wie An der schönen blauen Donau, Auf der Jagd oder Liebesgrüße stellt. Das ist eine mögliche Vorgangsweise, doch nötigt sie einem fast zwangsläufig den Blick in den erwähnten Index ab, sucht man ein ganz bestimmtes Werk. Wer ein solches unter diesem und jenem Neujahrskonzert-Dirigenten sucht, wird also mit relativ großer Wahrscheinlichkeit mit einem anderen vorlieb nehmen müssen. Und so herausgerissen aus dem abendlichen Kontext bliebt auch die Atmosphäre auf der Strecke – es ist eben nur noch eine (etwas lässliche und beliebige)  Anthologie, kein Miterleben. Hier bleibt dann letztlich bloß der Erwerb der (teilweise nur mehr gebraucht zu findenden) jeweiligen CD des entsprechenden konkreten Neujahrskonzerts.

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Bereits zum zweiten Mal fand das weltbekannte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker am 1. Jänner 2022 während der Corona-Pandemie statt, diesmal zumindest nicht völlig ohne Publikum – wie es Riccardo Muti im Vorjahr widerfahren war –, aber doch mit einer reduzierten Zahl an Zuschauern, sämtlich im Parkett versammelt. Gleichsam schon traditionell zeichnet Sony für die CD-Ausgabe verantwortlich (194399625026). Am Dirigentenpult der Wiener Philharmoniker durfte Daniel Barenboim nach 2009 und 2014 sein drittes Neujahrskonzert leiten.

Barenboim, der im achtzigsten Lebensjahr steht, debütierte schon 1965 bei den Philharmonikern, allerdings in seiner Eigenschaft als Pianist. Als Dirigenten luden ihn die Wiener 1989 erstmals ein. Man darf also mit Fug und Recht von einer sehr langjährigen und engen Partnerschaft sprechen, die den gebürtigen Argentinier mit diesem Klangkörper verbindet. Routine ist dieses Konzertereignis, mit dem stets das musikalische Jahr eröffnet wird, auch für einen Profi wie Barenboim mitnichten. Die gebotene Seriosität war stellenweise gar etwas zu deutlich spürbar. Freilich hat sich Barenboim eingehend mit den Eigenheiten der Wiener Musik auseinandergesetzt und ist besser als manch anderer im Stande, den adäquaten Walzertakt zu schlagen.

Überhaupt standen zwei Werke dieser Gattung im Mittelpunkt, nämlich die vom Dirigenten sehr geschätzten Sphärenklänge, die gemeinhin als Höhepunkt im Schaffen von Josef Strauss gelten und die diesmal den offiziellen Teil des Neujahrskonzerts beendeten, und zum anderen Nachtschwärmer, ein Paradestück des noch immer zu Unrecht im Schatten der „Sträusse“ stehenden Carl Michael Ziehrer, des letzten k. u. k. Hofballmusikdirektors, dessen Todestag sich heuer übrigens zum hundertsten Mal jährt. Bei diesem Walzer durften die Philharmoniker sogar selbst mitsingen und mitsummen. Hier kam dann doch etwas von der Heiterkeit herüber, welche frühere Neujahrskonzerte auszeichnete.

Der Ziehrer-Walzer war eine von nicht weniger als sechs Premieren, wobei allein drei davon auf den genannten Josef Strauss entfielen (der Phönix-Marsch, die Polka mazur Die Sirene und die Nymphen-Polka). Eduard Strauss war zwar auch diesmal der am wenigsten bedachte Strauss-Bruder, doch immerhin erklang seine Schnellpolka Kleine Chronik zum ersten Mal im Rahmen eines Neujahrskonzerts. Das andere Stück des „schönen Edi“ war die Polka française Gruß an Prag. Seit langem hat man den Eindruck, dass man seinen Walzern die Neujahrskonzert-Tauglichkeit nicht so wirklich zutraut. Ein Aufsteiger der letzten Jahre war Joseph Hellmesberger junior, der das letzte Premierenstück Heinzelmännchen beisteuerte – neben dem Galopp Kleiner Anzeiger.

Obwohl Johann Strauss Sohn mit acht von achtzehn Werken noch immer dominiert (darunter der Walzer Tausend und eine Nacht, die Fledermaus-Ouvertüre und der Persische Marsch), ist doch eine gewisse Entwicklung dahin spürbar, seine absolute Dominanz zu brechen, was zu begrüßen ist, hat doch gerade das in alle Welt übertragene Neujahrskonzert aus Wien das Potential, weniger präsente Stücke populärer zu machen. Mit dem Phönix-Schwingen-Walzer gleich zu Beginn nach dem genannten Phönix-Marsch wollte man gewiss ein Zeichen setzen: Wie Phönix aus der Asche. Als Zugabe erklang dann nochmal eine Schnellpolka des jüngeren Johann Strauss (Auf der Jagd), bevor Barenboim in seiner Neujahrsansprache (auf Englisch) seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass das gesellschaftliche Auseinanderbrechen gestoppt werden könne und eine Rückbesinnung auf die Einheit einsetze, wie es die Musiker im Orchester vorlebten.

Den Donauwalzer nahm Barenboim anschließend im eher breiten Zeitmaß – wie er das gesamte Konzert symphonisch auslegte –, bevor der abschließende Radetzky-Marsch (heuer das einzige Werk von Johann Strauss Vater) leider wie üblich vom Publikum zerklatscht wurde. Fast wünschte man sich zumindest an dieser Stelle die Ruhe im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins zurück, wie sie 2021 pandemiebedingt einmalig zustande gekommen war. Wie unlängst Usus, erscheint auch dieses Jahr zusätzlich eine DVD- und Blu-ray-Ausgabe des Konzerts. Für 2023 ist bereits der Österreicher Franz Welser-Möst, dann gleichfalls zum dritten Mal, zum Dirigenten des Neujahrskonzerts bestimmt worden. Daniel Hauser

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Das  Neujahrskonzert 2021 (auf CD als Sony 19439840162) stand im Vorfeld unter einem denkbar schlechten Stern, war seine Durchführung aufgrund der Pandemie doch alles andere als sicher und seine letztendliche Ermöglichung durchaus auch von kritischen Tönen begleitet. Nichtsdestoweniger sorgte das im Annus horribilis 2020 bewährte Krisenkonzept der Wiener Philharmoniker, die sogar eine Japan-Tournee bestreiten konnten, dafür, dass es am Ende unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen stattfinden konnte. Mit Riccardo Muti, im achtzigsten Lebensjahr stehend und gleichsam der Nestor unter den italienischen Dirigenten unserer Zeit, hatte man bereits vor Kenntnis des Jahresverlaufes glücklicherweise einen dem Orchester besonders eng verbundenen Maestro für 2021 vorgesehen, der bereit war, sich den nicht unerheblichen Strapazen und harte Restriktionen, an deren Einhaltung das ordnungsgemäße Procedere geknüpft war, zu unterwerfen.

Die Programmauswahl für 2021 war ohne Frage eine der vielversprechendsten seit langem, fanden doch erstmals drei Komponisten gebührende Beachtung, die zu Unrecht im Schatten der Strauss-Dynastie stehen. Die im selben Jahre 1842 geborenen Carl Millöcker und Carl Zeller gingen besonders als Operettenkomponisten in die Geschichte ein. So nimmt es nicht wunder, dass die dafür ausgewählten Stücke, der Galopp In Saus und Braus von Millöcker und der Walzer Grubenlichter von Zeller, auf Motiven aus zwei Operetten, Der Probekuss sowie Der Obersteiger, beruhen. Für den unbedarften Hörer dürfte vor allen Dingen der Walzer Bad’ner Mad’ln (bezogen auf Baden bei Wien) des österreichisch-tschechischen Komponisten Karl Komzák Sohn ein unerwarteter Höhepunkt des Konzerts gewesen sein. Freilich war dessen Aufnahme ins Neujahrskonzert seit Jahrzehnten überfällig und erstaunte sein bisheriges Fehlen den Kenner.

Kein Geringerer als der vor allem als Wagner-Dirigent unsterblich gewordene Hans Knappertsbusch hatte die Bad’ner Mad’ln zu seinem absoluten Lieblingswalzer erkoren und häufig seine Konzertprogramme damit gewürzt. Man muss bis ins Jahr 1970 zurückgehen, um diesen Konzertwalzer auf einem Programm der Wiener Philharmoniker zu finden (übrigens anlässlich eines Konzerts in Bern unter Boskovsky). Allzu viele Aufnahmen des Werkes gibt es seit Knappertsbusch nicht; Muti hat im Zuge dieses Neujahrskonzerts nun die überzeugendste Interpretation seither vorgelegt. Überhaupt betont dieser Dirigent, gebürtiger Neapolitaner, zurecht die Verbindung zwischen Wien und Italien. Die Walzerseligkeit liegt Muti folglich im Blute und er wurde mit jedem seiner Auftritte beim Wiener Neujahrskonzert idiomatischer.

Daher waren es wirklich gerade die betont sinfonisch angelegten großen Walzer, die die 2021er Veranstaltung zum musikalischen Highlight werden ließen. Neben einem weiteren Werkdebüt – Schallwellen von Johann Strauss Sohn – kam die Crème de la crème der Strauss-Walzer zum Zuge: Frühlingsstimmen (heuer ohne Gesang), der Kaiser-Walzer und natürlich An der schönen blauen Donau. Fürwahr: Breitere Zeitmaße dürfte man bei diesen Hits noch nicht vernommen haben. Den imperialen Kaiser-Walzer bringt Muti auf sage und schreibe 13 Minuten, ohne dass der Spannungsbogen abbräche. So überzeugend hat man dieses späte Glanzlicht im Œuvre des Walzerkönigs seit Karajan nicht gehört. Meisterlich der Einsatz der Rubati, die sich durch eine wahrlich wienerische Note auszeichnen. Muti wäre nicht Muti, käme nicht auch Franz von Suppè, einer seiner heimlichen Favoriten, vor. Mit dem einleitenden Fatinitza-Marsch aus der gleichnamigen Operette begann das Konzert mit dem nötigen Schwung, ohne ins Überschwängliche zu verfallen. Die großartige Ouvertüre zur Operette Dichter und Bauer leitete sodann den zweiten Teil des Konzerts ein. Mit der der ersten Königin des vereinten Italien gewidmeten Margherita-Polka von Josef Strauss setzte der Maestro ein weiteres Zeichen der austro-italienischen Verbundenheit. Dieser Strauss-Sprössling war sodann auch mit der schnellen Polka Ohne Sorgen vertreten. Auch wenn besonders in der zweiten Konzerthälfte die Dominanz des berühmteren Bruders Johann unübersehbar war, kam ihr gleichnamiger Vater neben dem traditionell als Zugabe gespielten Radetzky-Marsch (diesmal zum Glück ohne „Zerklatschen“, daher auch in seiner ganzen Detailfreudigkeit nachvollziehbar) noch mit dem flotten Venetianer-Galopp zu seinem Recht. Ohne Übertreibung darf sich dieses Neujahrskonzert von 2021 unter die herausragendsten einreihen und wurde insofern doch noch zu einem musikalischen Hoffnungsschimmer für das neue Jahr. Daniel Hauser  

Tamara Milaschkina

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Im grünen Samtkostüm war Tamara Milaschkina in den Siebzigern eine imposante Tosca, als sie mit dem Moskauer Bolschoi einen Gastauftritt in den West-Berliner Messehallen machte – Reisepappe und Ensemble (Ehemann Atlantow und Bariton Masurok) inklusive. Ich erinnere mich genau, wie beeindruckt ich von ihrer machtvollen Stimme war, auch amüsiert von ihren raumgreifenden Gesten und konventionellem Pathos (inklusive reichlichen Schluchzern). Auch ihr Gastspiel als Tatjana an der Deutschen Oper bleibt mir in Erinnerung. Russisch eben. Und das war eine bedeutende Komponente ihrer Karriere: Sie war doch das Aushängeschild der sowjetischen Kulturpolitik, die russische Künstlerin ihrer Zeit, anders als die sicher interessantere Kollegin Vischnevskaja, die spätestens nach ihrer Emigration in den Westen kein Gegenpol mehr und vorher eher nur in Russland ein Geheimtip war, trotz glanzvoller Gast-Auftritte in Paris und London (und ihrer zu späten Studioaufnahmen).

Die Milaschkina war, wie ihre Kollegin Bieshu, eine Sängerin des Russischen, Allgemeinen, Strömenden, Soliden, weniger aufregend als die erwähnte Vischnevskaja. Sie beherrschte den russisch-sowjetischen Sopranmarkt und war ein viel gefragter Export nach Europa und Amerika, sicher staatsnah und hochgeehrt, aber das war zu diesen (?) Zeiten ganz selbstverständlich und fast unumgänglich. Tamara Milaschkina starb im Januar 2024 im Alter von 90 in Wien, wo sie bemerkenswerter Weise seit langem wohnte. Weitere Details im Folgenden von Daniel Hauser. G. H.

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Am 13. September 1934 in Astrachan, seinerzeit RSFSR innerhalb der Sowjetunion, geboren, brillierte die russische Sopranistin Tamara Milaschkina zunächst bei Amateurauftritten, bevor sie ihr Gesangsstudium am Moskauer Konservatorium bei Jelena Katuslakaja 1959 abschloss. Bereits im Alter von 23 Jahren wurde sie Praktikantin am Bolschoi-Theater in Moskau und debütierte dort am 4. Mai 1958. Schon kurz darauf sang sie als Tatjana in Tschaikowskis Eugen Onegin an der Seite von Sergej Lemeschew. 1961/62 verbrachte sie an der Scala in Mailand und sang ungeplant die Rolle der Lida in Verdis La battaglia di Legnano. Am Bolschoi-Theater trat sie bis 1990 auf und sang dort 25 Opernrollen, darunter Lisa (Pique Dame von Tschaikowski), Donna Anna (Der steinerne Gast von Dargomyshski), Wolchowa (Sadko von Rimski-Korsakow), Fewronija (Die Legende der unsichtbaren Stadt Kitesh von Rimski-Korsakow) und Iolanta (gleichnamige Oper von Tschaikowski). Außerhalb ihres russischen Kernrepertoires verkörperte sie Tosca, Aida, Leonora (Il trovatore), Elisabetta di Valois (Don Carlo), später auch Desdemona (Otello) und Amelia (Un ballo in maschera). Auslandstourneen führten sie in die Tschechoslowakei und in die DDR, nach Polen, Italien, Österreich, Frankreich, Dänemark, Norwegen, Griechenland, Japan und Kanada sowie in die Vereinigten Staaten. An der Wiener Staatsoper war sie etwa zwischen 1966 und 1978 mehrfach als Gast beschäftigt. Im deutschsprachigen Raum konnte man sie zudem in Salzburg, Berlin, München, Stuttgart, Wiesbaden, Leipzig und Dresden erleben. Daneben hatte sie eine erfolgreiche Karriere als Konzertsängerin. Der Sängerin ist der sowjetische Dokumentarfilm Die Zauberin aus der Stadt Kitesh (1966) gewidmet. Bereits 1973 wurde sie zur Volkskünstlerin der UdSSR ernannt und erhielt 1978 den Glinka-Staatspreis der RSFSR. Nach ihrem Rückzug von der Bühne lebte sie mit ihrem Ehemann, dem Tenor Wladimir Atlantow, in Wien. Dort ist Tamara Milaschkina nun am 10. Jänner 2024 im 90. Lebensjahr verstorben. Daniel Hauser

Ein Liederzyklus in Gestalt einer Sinfonie

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Bereits vor knapp anderthalb Jahrzehnten legte Alpha eine formidable Einspielung der Sinfonie Nr. 14 von Dmitri Schostakowitsch vor. Es dirigierte Teodor Currentzis, seinerzeit noch weitestgehend unumstrittener Shootingstar der Klassikszene. Nun also eine Neuaufnahme desselben Labels, diesmal aus Frankreich (Alpha 918). Am Pult steht der finnische Dirigent Mikko Franck, seit 2015 musikalischer Leiter des Orchestre Philharmonique de Radio France, welches hier sinnigerweise auch zum Zuge kommt. Mit der litauischen Sopranistin Asmik Grigorian und dem deutschen Bariton Matthias Goerne konnte man kongeniale Gesangssolisten beisteuern, die gerade in der Interaktion zu überzeugen wissen.

Die vierzehnte und somit vorletzte Schostakowitsch-Sinfonie genießt einen Sonderstatus, ist sie doch eher ein Liederzyklus und wurde vom Komponisten mitunter gar als Oratorium für Sopran, Bass und Kammerorchester bezeichnet. Der Tod spielt eine entscheidende Rolle in den elf russischsprachigen Liedvertonungen nach Vorlagen von Federico García Lorca, Guillaume Apollinaire, Wilhelm Küchelbecker und Rainer Maria Rilke. Mehr als die Hälfte, nämlich sechs davon (Loreley, Le Suicidé, Les Attentives I, Les Attentives II, À la Santé, Réponse des Cosaques Zaporogues au Sultan de Constantinople) beruhen auf Texten des französischen Dichters Apollinaire, der 1918 gerade 38-jährig der grassierenden Spanischen Grippe erlag (im Falle der Loreley nach Clemens Brentanos Vorlage). Vorangestellt sind diesen zwei Gedichte des 1936 von Franquisten ermordeten spanischen Lyrikers García Lorca (De profundis, Malagueña). Auf den Franzosen folgt der Russe Küchelbecker, der sich im Dichterkreis um Puschkin verdingte (und dessen Gedicht O Del’vig, Del’vig! als einziges im russischen Original erklingt). Den Abschluss bilden schließlich zwei Gedichte von Rilke (Der Tod des Dichters, Schlußstück).

Eine in der Summe überzeugende Neueinspielung, die zwar nicht ganz so drastisch daherkommt wie die alten sowjetischen Aufnahmen (besonders die 1969 erfolgte Weltpremiere unter Rudolf Barschai) und auch die besagte, immer noch sensationell zu nennende Interpretation von Teodor Currentzis. Gleichwohl kann man dieser Neuaufnahme aber letztlich keine gravierenden Schwachstellen bescheinigen. Klanglich gibt es weiterhin keinen Anlass zum Tadel (Aufnahme: Auditorium de Radio France, Paris, Juni 2021 und August 2022). Die sehr selten eingespielten Fünf Fragmente op. 42, gerade elfminütig, stellen eine begrüßenswerte Beigabe dar (21. 11.23). Daniel Hauser

Douglas Ahlstedt

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Geboren am 16. März 1945 in Jamestown im US-Bundesstaat New York, wandte sich der Tenor Douglas Ahlstedt schon früh der Musik zu. Er trat mit der American Boychoir School auf und sang noch im Kindesalter seine erste Opernrolle als Miles in der US-Premiere von Brittens The Turn of the Screw am New York College of Music im Jahre 1958. Studien an der State University of New York at Fredonia (Bachelor-Abschluss) und an der Eastman School of Music (Master-Abschluss) schlossen sich dem an. Sein offizielles Bühnendebüt machte Ahlstedt 1971 als Ramiro in Rossini La Cenerentola am Western Opera Theater in San Francisco. Bald schon trat er auch an der San Francisco Opera sowie beim Tanglewood Music Festival in Massachusetts auf. Infolge seines Sieges bei den Metropolitan Opera National Council Auditions erlangte er 1973 US-weite Bekanntheit. Noch im selben Jahr erfolgte sein Debüt an der Metropolitan Opera als Borsa in Verdis Rigoletto. Zahlreiche Rollen sollten an der Met bis 1988 folgen, darunter Almaviva in Rossinis Barbiere di Siviglia, Edmondo in Puccinis Manon Lescaut, Froh in Wagners Rheingold, Gastone in Verdis La traviata, der Erste Priester in Mozarts Zauberflöte und der Haushofmeister in Straussens Rosenkavalier. Die internationale Karriere ließ nicht lange auf sich warten. Von 1975 bis 1984 gehörte Ahlstedt dem Ensemble der Deutschen Oper am Rhein an, anschließend demjenigen der Wiener Staatsoper. Kurzzeitigere Kontrakte führten ihn nach Zürich (1980/81), Hamburg (1982-1984) und Karlsruhe (1984-1987). Zudem sang er beim Holland Festival, in Genf, an der Niederländischen Oper, in Bordeaux, in Rom, Avignon, Prag, Neapel, München, Stuttgart sowie bei den Salzburger Festspielen in den Jahren 1985 und 1987. In Nord- und Südamerika stand er auf den Bühnen in Philadelphia, Milwaukee, Dallas, Santiago de Chile und Rio de Janeiro. Von 1988 bis zu seinem Rückzug 2020 fungierte er als Professor an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. Douglas Ahlstedt ist am 24. November 2023 im Alter von 78 Jahren verstorben. Er hinterlässt seine Frau Linda Foxx (Eheschließung 1969) und drei Kinder. Daniel Hauser

Ryland Davies

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Der walisische Tenor Ryland Davies wurde am 9. Februar 1943 als Sohn eines Stahlarbeiters in Cwm, Ebbw Vale, Wales, geboren. Bereits während seines Studiums am Royal Manchester College of Music (bei Frederic Cox) trat er in Manchester als Paris in Glucks Paride ed Elena auf. Sein professionelles Debüt erfolgte 1964 an der Welsh National Opera in Cardiff als Almaviva in Rossinis Barbiere di Siviglia. Davies setzte seine Studien in Italien fort und gewann als erster den John Christie Award des Glyndebourne Festival im Jahre 1965. Glyndebourne blieb er lange Jahre treu und sang dort bereits 1964 im Chor. Es schlossen sich Ende der 1960er Jahre zunehmend größere Rollen an, darunter der Nemorino in Donizettis Elisir d’amore, der Belomte in Mozarts Entführung aus dem Serail und der Ferrando in Così fan tutte. Mit dem Lenski sang er 1975 eine Tschaikowski-Partie, gefolgt von Komponisten wie Britten (Lysander in A Midsummer Night’s Dream), Prokofjew (der Prinz in Die Liebe zu den drei Orangen) und Janáček (Tichon in Katja Kabanowa). Zuletzt konnte man Ryland Davies in Glyndebourne 2001 als Don Basilio in Le nozze di Figaro erleben. Innerhalb des Vereinigten Königreiches sang er an der Scottish Opera (Debüt 1966 als Fenton in Verdis Falstaff), an der Sadler’s Wells Opera bzw. English National Opera in London (zwischen 1967 und 1999) und insbesondere am Royal Opera House, Covent Garden (von 1969 bis 2015). Auch außerhalb seines Heimatlandes konnte Davies eine internationale Karriere vorweisen, so etwa 1970 bei den Salzburger Festspielen als Cassio in Verdis Otello unter Herbert von Karajan sowie 1971 und 1974 an der Opéra de Paris in diversen Mozart-Rollen. In den USA debütierte er 1970 an der San Francisco Opera (wiederum als Ferrando) und sang später auch an der New Yorker Met und an der Chicago Lyric Opera. Weitere Gastspiele führten ihn nach Berlin, Hamburg und Montpellier. Daneben verfolgte Ryland Davies eine erfolgreiche Tätigkeit als Konzertsänger, u. a. in Bachs Messe in h-Moll, Mozarts Requiem, Haydns Jahreszeiten und der Nelson-Messe sowie Mendelssohns Elijah. Seine stimmlichen Qualitäten wurden als lieblich und lyrisch, insgesamt als spezifisch italienisch gerühmt, seine Diktion galt als tadellos. Er lehrte am Royal Northern College of Music in Manchester (1987-1994), am Royal College of Music in London (1989-2009) und an der Royal Academy of Music. Zu seinen Schülern gehörten Ian Bostridge, Sam Furness, Jacques Imbrailo, David Butt Philip, Stuart Jackson, Robert Murray und Andrew Staples. Diskographisch ist Ryland Davies seit den 1960er Jahren mannigfaltig dokumentiert. Darunter befinden sich im Studio entstandene Operngesamtaufnahmen von Mozart (Idomeneo unter Davis, Entführung unter John Pritchard, Così unter Georg Solti), Donizetti (Lucia di Lammermoor unter Richard Bonynge), Cimarosa (Il matrimonio segreto unter Daniel Barenboim), Berlioz (Les Troyens unter Colin Davis) und Massenet (Esclarmonde und Thérèse unter Bonynge, La Navarraise unter Henry Lewis), daneben Händels Messiah (unter Raymond Leppard) und Judas Maccabaeus (unter Charles Mackerras), Haydns Jahreszeiten (unter Davis) und das Mozart’sche Requiem (wiederum unter Davis). Er war zweimal verheiratet, zunächst mit der Mezzosopranistin Anne Howells (zwischen 1966 und 1981), ab 1983 mit der Sopranistin Deborah Rees, mit welcher er eine Tochter hatte. Ryland Davies erlag am 5. November 2023 im Alter von 80 Jahren den Folgen einer Tumorerkrankung. Daniel Hauser

Weit mehr als nur „Der Vampyr“

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Obwohl er einer der führenden romantische Opernkomponisten Deutschlands zwischen Weber und Wagner war, fristet Heinrich Marschner (1795-1861) seit langem ein Schattendasein und wird auf den Bühnen kaum aufgeführt. Dies drückt sich nicht zuletzt auch in der mageren Diskographie aus, wo selbst seine beiden populärsten Opern, Der Vampyr (1828) und Hans Heiling (1833), unzureichend vertreten sind. Wieder einmal ist es Naxos zu verdanken, sich eines zu Unrecht Vergessenen anzunehmen. Die kompletten Ouvertüren und die Bühnenmusik Marschners sollen sukzessive erscheinen. Nun ist bereits Vol. 2 auf dem Markt (Naxos 8.574482).

Eines der früheren Werke Marschners stellt die Bühnenmusik zu Heinrich von Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg dar. 1810 geschrieben, erfolgte die Uraufführung – gekürzt und unter dem Titel Die Schlacht von Fehrbellin (1675) – indes erst 1821, ein Jahrzehnt nach des Autors Suizid. Aus demselben Jahr 1821 stammen die fünf Instrumentalstücke des Komponisten, vier Entr’actes und eine sogenannte Schluss Symphonie. Besonders jenes Vorspiel zum ersten Akt hat mit bald neun Minuten Spielzeit das Gewicht einer echten Ouvertüre. Mit einer knappen halben Stunde Musik könnte man diese fünf Stücke fast als eine Art sinfonische Suite begreifen. Ein genuin romantischer Tonfall ist ihnen ganz unstrittig inhärent. Gekonnt changiert Marschner zwischen einfühlsamer Liebestollheit und aufpeitschender Dramatik.

Von der 1842 entstandenen weltliche Kantate Klänge aus dem Osten kommt die elfeinhalbminütige Ouvertüre zu Gehör. Die weiteren orchestrierten Lieder und Chöre des Werkes heißen sich wie folgt: Zigeuner Gesang, Assat’s Ständchen, Maisuna’s Lied, Räuberchor sowie Kampf der Räuber, Flucht Maisuna’s und Wiederfinden. Wiewohl eigentlich wenig orientalisches Flair verbreitet wird, hat Marschner doch ein beachtliches Instrumentalwerk geschaffen, das auch einer seiner Opern vorangestellt sein könnte.

Einen großen Misserfolg musste Marschner mit seiner ambitionierten hochromantischen Oper Kaiser Adolph von Nassau (1845) hinnehmen, deren Libretto der Geistliche Heribert Rau beisteuerte. Anlass der Komposition war die Vermählung des hannoverischen Kronprinzen (und späteren letzten Königs) Georg mit der Prinzessin Marie von Sachsen-Altenburg. Die Uraufführung fand kurioserweise indes nicht in Hannover, sondern in Dresden statt. Die musikalische Leitung oblag niemandem Geringeren als Richard Wagner. Die auf den ersten Blick erstaunliche Weglassung der monumentalen Ouvertüre in dieser Neuerscheinung erklärt sich offenbar dadurch, dass das zu Naxos gehörige Sublabel Marco Polo diese bereits Anfang der 1990er Jahre in einer mustergültigen Einspielung unter Alfred Walter auf den Markt brachte (Bestellnummer 8.223342). So sind diesmal allein das Ballett aus dem ersten Aufzug sowie der Marsch aus dem zweiten enthalten.

Der Dirigent Dario Salvi/Foto Salvi

Marschners vorletzte Oper Austin wurde zwar bereits in den Jahren 1850/51 fertiggestellt, gelangte indes aufgrund des Todes König Ernst Augusts von Hannover (1851) erst mit sechsjähriger Verspätung zur Erstaufführung. 1857 lediglich sechsmal auf der Bühne, verschwand sie danach in der Versenkung. Der Plot ist im Königreich Navarra des späten 15. Jahrhunderts angesiedelt und behandelt die dortigen Thronwirren. Die relativ überschaubare Einleitung (gut fünfminütig), der prachtvolle Krönungsmarsch (sechs Minuten) aus dem zweiten und das ausgedehnte, knapp viertelstündige Ballett aus dem dritten Akt bilden die musikalische Auswahl. Ein gewisser Einfluss der französischen Grand Opéra lässt sich ausmachen.

Für die formidable künstlerische Umsetzung sorgt einmal mehr der talentierte Dirigent Dario Salvi, längst mehr als ein Geheimtipp. Mit dem Philharmonischen Orchester Hradec Králové (Königgrätz) konnte ein weiterer renommierter tschechischer Klangkörper gewonnen werden. Auch klanglich gibt es keine Beanstandungen zu machen. Die Einspielung entstand im September 2022 im Konzertsaal der Philharmonie in Hradec Králové. Das englischsprachige Beiheft ist informativ genug, um den Wissensdurst des geneigten Hörers hinreichend zu stillen. Daniel Hauser

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Bereits vor geraumer Zeit erschien Vol. 1 der Reihe (Naxos 8.574449). Von den fünf inkludierten Werken sind sage und schreibe vier Weltersteinspielungen. Die einzige Nichtpremiere stellt die kaum fünfminütige Ouvertüre zur Oper Der Holzdieb nach Johann Friedrich Kinds Lustspiel (1823) dar. Mit der Ouvertüre zur Oper Der Kyffhäuser Berg (1816) – adaptiert nach der Volkslegende von August von Kotzebue – legt man erstmals die Einleitung zu Marschners frühestem Bühnenwerk überhaupt vor. Der damals gerade 21-Jährige zeigt indes schon hier eine unbestreitbare Befähigung zur Tonschöpfung. Bei den drei übrigen Werken handelt es sich um Schauspielmusik, wie sie im 19. Jahrhundert eine Hochblüte erlebte. Von Schön Ella – für Kinds Volkstrauerspiel nach der unheimlichen Ballade Lenore von Gottfried August Bürger – und Ali Baba, oder Die vierzig Räuber – für Karl Gottlob Theodor Winklers Schauspiel – (beide 1823) inkludiert das Label nicht bloß die hörenswerten Ouvertüren, sondern auch weitere Instrumentalstücke, darunter diverse Entr’actes und die recht umfängliche Ballettmusik. Die Ouvertüre zum Liederspiel Die Wiener in Berlin von Karl Eduard von Holtei (1825), humoristisch auf die kulturellen Unterschiede zwischen Österreichern und Preußen referierend, stellt den Abschluss der mit gut 71 Minuten ordentlich bestückten CD dar.

Eine wirkliche Individualität mag diesen frühen Werken aus des Komponisten Dresdner und Leipziger Phase zwar letztlich noch etwas abgehen, doch sind bereits hier das melodiöse Talent Marschners und sein Einfallsreichtum unverkennbar. Für die Einspielungen zeichnet abermals das sehr bewährte Tschechische Philharmonische Kammerorchester Pardubice unter dem Dirigenten Dario Salvi verantwortlich. Glücklicherweise tut sich bei den Pardubitzern zu keinem Moment das Gefühl eines zu dünnen Streicherklanges auf, wie es bei Kammerensembles teilweise der Fall ist. Dafür sorgt auch die von der Tontechnik sehr adäquat eingefangene Akustik im Hause der Musik zu Pardubice in der Tschechischen Republik (Aufnahme: 24.-26. und 31. Jänner 2022). Die Textbeilage (nur auf Englisch) ist ausreichend informativ. Daniel Hauser

Bruckner live aus München

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Zweifellos war der Niederländer Bernard Haitink (1929-2021) eine der prägenden Dirigentengestalten der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts, wozu insbesondere seine lange Zeit an der Spitze des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters (1961-1988) beitrug. Ein Zyklus der Sinfonien Anton Bruckners, eingespielt für Philips zwischen 1963 und 1972 (und auch die seinerzeit noch sehr periphere Nullte umfassend), begründete Haitinks Ruf als ernstzunehmenden Brucknerianer. In der Digitalära folgten, ebenfalls auf dem Philips-Label, Studioaufnahmen der Sinfonien Nr. 3, 4, 5 und 8 mit den Wiener Philharmonikern. Mittlerweile ist zudem eine zunehmend unüberschaubare Anzahl an Live-Mitschnitten aus Rundfunkarchiven von Bruckner-Sinfonien veröffentlicht worden, darunter am bemerkenswertesten vielleicht die Fünfte mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks von 2010 (BR-Klassik) sowie die Achte mit der Staatskapelle Dresden von 2002 nach der Elbhochwasserkatastrophe (Hänssler).

Die nunmehrige Neuerscheinung (2 CDs) kommt, wie im ersteren Falle, bei BR-Klassik (Bestellnummer 900212) mit dem entsprechenden BR-Klangkörper heraus und enthält, wie im letzteren, abermals die Sinfonie Nr. 8, zu der Haitink offenkundig eine besonders enge Verbindung pflegte. Es handelt sich um die Tonkonserve eines im Dezember 1993 aufgezeichneten Konzerts aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz. Haitink bedient sich, wie in seinen insgesamt drei Studioeinspielungen für Philips (Concertgebouw 1969 und 1981, Wien 1995), der Haas-Edition von 1939, dirigierte aber auch ab und an die Nowak-Edition von 1955, wie aus einer Auflistung bei abruckner.com hervorgeht. Die Fassungsfrage kann bei diesem Komponisten mitunter zu größten Unterschieden führen, doch halten sie sich im Falle der Achten in Grenzen. Ein Blick auf die Spielzeiten offenbart ein Tendenz zur Zurücknahme der Tempi. Kam der Dirigent in seiner ersten Einspielung 1969 noch mit 14 Minuten für den Kopfsatz aus, genehmigt er sich 1993 dreieinhalb Minuten mehr. Ähnliches lässt sich für die übrigen Sätze feststellen: Das Scherzo ist mit knapp 16 Minuten zweieinhalb Minuten langsamer als in den 1960er Jahren, das berühmte Adagio übertrifft in der Neuveröffentlichung mit einer geschlagenen halben Stunde alle anderen Haitink-Aufnahmen recht deutlich. Und auch der Schlusssatz kommt auf stattliche 25 Minuten Spielzeit und steht rein quantitativ an der Spitze. Das etwa 88-minütige Werk verteilt sich auf den beiden CDs, wie bei der Achten unumgänglich (CD-Wechsel zwischen dem zweiten und dritten Satz). Eine gewisse Verschiebung von einer vorwärtsdrängenden Dramatik hin zu einer kontemplativeren Lesart ist kaum abzustreiten. Das sehr luftige und andernorts verdeckte Details hörbar machende Klangbild aus Bayern, in der frühen Concertgebouw-Einspielung von 1969 recht kompakt und in jener von 1981 leider zu verwaschen, lässt auch die sehr ordentlich abschneidende Wiener Studioaufnahme aus den 90ern weit hinter sich.

Gewissermaßen als Zugabe wurde auf der ersten Disc das Te Deum beigesteuert, welches auf einem Konzertmitschnitt vom November 2010 aus der Münchner Philharmonie im Gasteig beruht. Dieses gewiss berühmteste Vokalwerk Bruckners spielte Haitink bereits 1966 im Concertgebouw Amsterdam sowie 1988 im Wiener Musikverein ein. Die Tempomaße unterscheiden sich in allen drei Aufnahmen eher unwesentlich (23:30 in der Neuerscheinung). Neben dem vorzüglichen Chor des Bayerischen Rundfunks konnte ein hochkarätiges Solistenquartett gewonnen werden: Krassimira Stoyanova (Sopran), Yvonne Neef (Mezzosopran), Christoph Strehl (Tenor) und Günther Groissböck (Bass). Klanglich profitiert die BR-Aufnahme von einer überlegenen Leistung der Tontechniker.

In der Summe künstlerische Leistungen ohne Fehl und Tadel und eine lohnende Anschaffung auch für diejenigen, die „ihren“ Haitink-Bruckner komplett im Regal stehen haben. Daniel Hauser