Archiv des Autors: Daniel Hauser

„Ring“ zum Dritten aus München

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Das konzertante Ring-Projekt von Simon Rattle und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (dessen neuer Chefdirigent Rattle seit dieser Spielzeit ist) biegt allmählich in die Zielgerade ein. Auf dem Eigenlabel von BR-Klassik kommt dieser Tage nun Siegfried auf den Markt (900211). Über das „Stiefkind“ der Tetralogie wurde an anderer Stelle bereits einiges gesagt. Tatsächlich vollzieht sich im zweiten Tag ein gewisser Bruch zwischen dem zweiten und dritten Aufzug, als Wagner eine jahrelange Pause einlegte. Und doch, so scheint es, hat dieser Ring-Teil durchaus seine bedingungslose Anhängerschaft. Auffällig bei der Neueinspielung aus der Münchner Isarphilharmonie im Gasteig HP8 (Aufnahme: 3.-5. Februar 2023) ist das Faktum, dass sie auf nur drei CDs daherkommt. Mit einer Gesamtspielzeit von 3 Stunden 53 Minuten liegt Rattle indes eigentlich im Durchschnitt. Karl Böhm und Pierre Boulez (beide Philips) waren etwa 10 Minuten schneller unterwegs. Hans Knappertsbusch (Orfeo) und James Levine (DG) benötigten indes fast 20 Minuten mehr. Bei Rattle passen die drei Aufzüge jedenfalls auf jeweils eine Disc, was man als Vorteil betrachten kann.

Die Besetzung ist, Stand heute, prominent: Simon O’Neill in der Titelrolle, Michael Volle als Wanderer und Anja Kampe als Brünnhilde zählen zu den derzeit bekanntesten Wagnerinterpreten weltweit. Es gesellen sich hinzu Peter Hoare als Mime, Georg Nigl als Alberich, Franz-Josef Selig als Fafner, Gerhild Romberger als Erda sowie Danae Kontora als Waldvogel. Der neuseeländische Tenor Simon O’Neill ist wahrlich kein Anfänger in Sachen Siegfried, immerhin legte er bereits eine Gesamtaufnahme unter Jaap van Zweden vor (Naxos). Stimmlich ist er der Partie in all ihren Facetten mühelos gewachsen und hält sie dank heldischen Stimmmaterials bis zum Ende ohne erkennbares Nachlassen durch. Die Wortdeutlichkeit Michael Volles vermittelt in Zeiten, wo dies keineswegs mehr die Regel ist, diese Grundvoraussetzung für eine wirklich idiomatische Rollendurchdringung. Sein reichhaltiger Erfahrungsschatz aus dem Kunstlied kommen hier gewiss zugute und machen es verschmerzbar, dass er nicht ganz die Stimmgewalt früherer Interpreten erreicht. Dies gilt auch für Anja Kampe, für welche die Brünnhilde zwar eher eine Grenzpartie darstellt, die dies durch ihre für sich einnehmende Ausstrahlung und glaubhafte Darstellung aber vergessen macht. Beim aus England stammenden Peter Hoare stört die nicht ganz einwandfreie deutsche Diktion, obgleich er das Potential für den Mime grundsätzlich mitbringt. Georg Nigl, der hier sein Alberich-Debüt feiert, lässt hingegen vollumfänglich aufhorchen. Gerne hörte man seinen düsteren Alben auch in der weit ausgedehnteren Partie im Rheingold. Franz-Josef Selig bietet einen kaum weniger beeindruckenden Kurzauftritt als Fafner. Danae Kontora ist als Stimme des Waldvogels ohne Fehl und Tadel. Gerhild Romberger hinterlässt als Erda einen bleibenden Eindruck und kann sich mit den berühmtesten Vorgängerinnen messen.

Seine Wagner-Qualitäten hat der BR-Klangkörper bereits mehrfach bewiesen. Auch dieses Mal ist die Orchesterleistung stupend, weise geführt durch denjenigen Dirigenten, den man in Sachen Wagner unverdienterweise zu lange kaum auf dem Schirm hatte. Sir Simon Rattle lässt, unterstützt von diesem Weltklasse-Orchester, manche altbekannte Stelle geradezu aufblühen, etwa die hier sehr strahlende Erweckung Brünnhildes und den häufig als etwas aufgeblasen empfundenen Aktschluss in selten gehörter Transparenz. Der ausgezeichnete Klang unterstreicht dies noch. Eine stimmlich in der Summe überzeugende und orchestral herausragende Gesamtleistung. Daniel Hauser

Stephen Gould

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Am 24. Jänner 1962 in Roanoke, Virginia, USA, als Sohn eines Methodistenpfarrers und einer Pianistin geboren, kam Stephen Gould über ein Studium am New England Conservatory of Music in Boston zunächst ins Musicalfach, in welchem er acht Jahre agierte. Einem Nachwuchsprogramm der Lyric Opera of Chicago verdankte er den erfolgreichen Wechsel zur Oper, der mit seinem Debüt als Argirio in Rossinis Tancredi 1989 in Chicago seinen Anfang machte. Besonders als Wagnersänger war Gould weltweit gefragt. 2001 erfolgte sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper in München in der kleinen Partie des Melot in Tristan und Isolde. Bald schon waren es indes größere Rollen, die ihm übertragen wurden. Seinen wirklichen Durchbruch schaffte Gould bereits 2004 bei den Bayreuther Festspielen in der Titelrolle des Tannhäuser, den er auch im Folgejahr, 2019 und zuletzt noch 2022 sang. In Bayreuth etablierte er sich generell schnell als wichtige Stütze und sang dort auch den Jung-Siegfried (2006-2008), den Götterdämmerungs-Siegfried (2006-2008, 2022) und den Tristan (2015-2019, 2022), jeweils einmalig auch den Siegmund (2018) und Parsifal (2021), womit er beinahe alle wesentlichen Wagner’schen Heldentenorpartien verkörperte. Sein Debüt an der Wiener Staatsoper erfolgte ebenfalls schon 2004 (als Paul in Korngolds Toter Stadt), wo er neben den nämlichen Wagnerrollen auch als Bacchus (Ariadne auf Naxos), Kaiser (Die Frau ohne Schatten), Otello und Peter Grimes brillierte. 2015 wurde er zum Österreichischen Kammersänger ernannt. Weitere Gastspiele führten ihn ans Londoner Royal Opera House, nach Berlin, Dresden, Hamburg, Karlsruhe, Mannheim, Linz (wo er 2000 als Florestan debütierte), Graz, Genf, Rom, Florenz, Turin, Madrid, Valencia, Las Palmas, Paris, New York und Tokio. Daneben hatte er auch die Gurre-Lieder von Schönberg und das Tenorsolo in Beethovens Sinfonie Nr. 9 in seinem Repertoire. Diskographisch ist Gould neben der Beethoven-Neunten (unter Donald Runnicles) in beiden Siegfried-Partien (unter Christian Thielemann) sowie als Jung-Siegfried und Tristan (unter Marek Janowski) verewigt. Gould lebte abwechselnd in den Vereinigten Staaten und in Wien und sprach fließendes Deutsch. Erst im August 2023 musste er aufgrund gesundheitlicher Probleme überraschend sein Karriereende bekanntgeben, was er Anfang September als unheilbare Krebsdiagnose präzisierte. Am 19. September 2023 ist Stephen Gould dieser schweren Krankheit im Alter von gerade 61 Jahren erlegen. Daniel Hauser

Finnlands größter Komponist vor Sibelius

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Die finnische Musiklandschaft trat erst spät ins Bewusstsein überregionaler Wahrnehmung und teilt insofern das Schicksal anderer Peripherien. Bis heute dominiert unstrittig der Name Jean Sibelius das Bild von der Musik Finnlands in geradezu omnipotenter Weise, was freilich dazu führt, dass andere Komponisten aus dem äußersten Nordosten Europas es schwer haben. Wenn das in Helsinki beheimatete, oft schon verdienstvoll hervorgetretene Label Ondine nun mit Bernhard Henrik Crusell (1775-1838) den „größten Komponisten finnischer Herkunft vor Jean Sibelius“ – so Janne Palkisto im (englischsprachigen) Einführungstext – bedenkt, kann dies gar nicht hoch genug gewürdigt werden. Obwohl die Neuerscheinung (Ondine ODE 1424-2) mit gerade 51 Minuten Spielzeit nur recht mäßig bestückt ist, soll dies mitnichten die Bedeutung dieser Veröffentlichung herabwürdigen.

Geboren wurde Crusell in der Kleinstadt Uusikaupunki (schwedisch: Nystad), im äußersten Südwesten des Landes, das seinerzeit noch zu Schweden gehörte. Glückliche Umstände führten ihn alsbald nach Stockholm, wo er als Erster Klarinettist der Königlichen Hofkapelle, als Komponist und Lehrer für Aufmerksamkeit sorgte. Drei Werke aus seiner späteren Schaffenszeit finden sich nun auf der CD versammelt. Bis Anfang der 1820er Jahre hatte Crusell vor allem für die Klarinette, sein eigenes Instrument, komponiert, darunter jeweils drei Konzerte und Quartette. Von da an widmete er sich anderen musikalischen Genres. Seine einzige Oper Den lilla slavinnan (Die kleine Sklavin) von 1824 erhielt ihren Impuls durch das tragische Ableben seiner gerade 17-jährigen Tochter Maria infolge einer banalen Erkältung. Thematisch beruht der Stoff auf Ali Baba und die vierzig Räuber von René-Charles Guilbert Pixerécourt. Inkludiert wurde die siebenminütige Ouvertüre, die an ihren düsteren Stellen an Webers Freischütz gemahnt, aber auch eine Verwandtschaft mit der Spritzigkeit von Haydns Sinfonik offenbart.

Das hochvirtuose Konzert für Fagott und Orchester entstand 1829 und galt seinem Schwiegersohn Franz Preumayr, dem Gemahl seiner anderen Tochter Sophie, der zudem Crusells Kollege in der Hofkapelle war. Das dreisätzige Werk mit einer Spielzeit von etwa 20 Minuten setzte sich in Kopenhagen, Hamburg, Ludwigslust und Paris rasch als „Schlachtross“ durch. Indem Crusell den seinerzeit sehr populären Boieldieu zitierte, schmeichelte er dem Ego der Pariser.

Noch unter Gustav III. aufgewachsen, erlebte Crusell die stürmische Zeit zwischen der Ermordung dieses Königs und der letztendlichen Etablierung der Dynastie der Bernadotte auf dem schwedischen Thron. Wiewohl Schweden Finnland an das Zarenreich abtreten musste, konnte es Norwegen (welches seinerseits den Dänen verlorenging) hinzugewinnen und auch nach dem Untergang Napoleons halten. Unter dem neuen König Karl XIV. Johann begann ab 1818 eine Rückbesinnung auf die mythologische Vergangenheit. Eine Idealisierung des nordischen Mittelalters ließ die Götter um Odin nach Jahrhunderten in der Versenkung wiederauferstehen. Eine gewichtige Rolle spielt ein diesem Zusammenhang der Historiker, Komponist und Poet Erik Gustaf Geijer. Sein Den siste kämpen (Der letzte Krieger) von 1811 setzte bereits einige Jahre zuvor den Beginn dieser Entwicklung, die sich mit den Gedichten Vikingen (Der Wikinger) und Odalbonden (Der Freibauer) fortsetzte. Crusells 1834 entstandene Vertonung von Den siste kämpen heißt sich etwas sperrig Declamatorium für Rezitation, Chor und Orchester. Die öffentliche Erstaufführung erfolgte indes erst im Dezember 1837 unter Anwesenheit des Kronprinzen (und späteren Königs) Oscar. Die Reaktionen waren eher gemischt und die Musikgeschichte ging bald über dieses eigentümliche Stück hinweg, wozu auch das nur kurze Zeit später, im August 1838, erfolgte Ableben Bernhard Henrik Crusells beitragen haben mag. Von den 23 Spielminuten werden bereits viereinhalb für die stimmungsvolle Introduktion eingenommen.Schon in dieser instrumentalen Einleitung tritt der Chor auf. Obwohl die Musik bereits romantische Anklänge hat, kommt die Rezitation noch klassisch daher, oft (nicht immer) streng abgesetzt vom Orchester. Ein merkliches Talent für einprägsame Melodien tritt immer wieder zutage. Apotheotisch wird das Werk mit dem Einzug des Kriegers in Odins Saal beschlossen und darf als Verherrlichung der sagenhaften Geschichte Skandinaviens verstanden werden.

Die Darbietung dieser nunmehrigen Weltersteinspielungen sind dazu geeignet, das Œuvre Crusells auf hohem Niveau wiederzuentdecken. Dafür sorgt die Darbietung des auf historischen Instrumenten spielenden Helsinki Baroque Orchestra unter Aapo Häkkinnen. Als Solist im Fagottkonzert tritt hinzu Jani Sunnarborg, als Rezitator im Declamatorium Frank Skog sowie die bestens aufgestellte Ingolstädter Audi Jugendchorakademie. Die Klangqualität der im Oktober 2022 im Musiikkitalo in Helsinki eingespielten Aufnahme lässt keine Wünsche offen. Der Text des Vokalwerks liegt im schwedischen Original sowie in englischer Übersetzung bei. Daniel Hauser

Robert Hale

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Am 22. August 1933 in Kerrville, Texas, geboren, machte der US-amerikanische Bassbariton Robert Hale bereits früh auf sich aufmerksam. Seine Studien beschloss er am Bethany-Peniel College sowie an der University of Oklahoma in Oklahoma City. Zu einen Lehrern gehörte kein Geringerer als Léopold Simoneau. Hales Operndebüt erfolgte 1967 an der New York City Opera, bevor sich seine Karriere nach Europa und vor allem in den deutschsprachigen Raum verlagerte. Engagements an der Oper Frankfurt, am Opernhaus Zürich sowie am Staatstheater Wiesbaden machten den Anfang. Zunächst im Belcanto-Fach gefragt, erfolgte Ende der 1970er Jahre der Wechsel ins Wagner-Fach, in welchem Hale sich internationales Renommee erarbeitete. Besonders als Wotan brillierte er an der Deutschen Oper Berlin, an der Wiener Staatsoper, in München, Hamburg, Köln, Paris, Tokio, Sydney, San Francisco, Washington sowie an der Metropolitan Opera in New York. Ferner sang er am Royal Opera House in London, an der Scala von Mailand, am Liceu in Barcelona, am Teatro Colón in Buenos Aires sowie am Bolschoi-Theater in Moskau. Dazu gesellten sich Auftritte bei den Festspielen in Salzburg, Wien, Ravenna, Lausanne, Bregenz, Bergen, Orange, Bordeaux, München, Savonlinna, Tanglewood, Ravinia, Cincinnati und beim Hollywood Bowl. Seine Diskographie ist beachtlich und dokumentiert neben Wagner-Partien auch Richard Strauss, Massenet, Händel und Schumann. Privat war er bis 2005 mit der dänischen Sopranistin Inga Nielsen verheiratet, ab 2012 mit amerikanischen Sopranistin Julie Davis. Am 23. August 2023, einen Tag nach seinem 90. Geburtstag, ist Robert Hale in seinem Haus in Kalifornien verstorben (Foto oben: Robert Hale als Wotan/Deutsche Oper Berlin/Kranichphoto). Daniel Hauser

Berit Lindholm

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Die schwedische Sopranistin Berit Lindholm, am 18. Oktober 1934 als Berit Maria Jonsson in Stockholm geboren, wollte zunächst Volksschullehrerin werden und hatte auch bereits ihr Examen abgelegt, bevor es sie an die Königlich Schwedische Opernschule in ihrer Geburtsstadt zog. Ihre Lehrerinnen waren Britta von Vegesack und Käthe Sundström. Im Mai 1963 erfolgte Lindholms Debüt an der Stockholmer Oper als Gräfin in Mozarts Figaro. Bis 1972 sang sie dort Elisabeth (Tannhäuser), Aida, Tosca, Leonore (Fidelio) und Chrysosthemis (Elektra). Auf Empfehlung ihrer Landsmännin Birgit Nilsson erfolgte 1966 Lindholms Engagement an der Wiener Staatsoper, im selben Jahr auch am Royal Opera House, Covent Garden, in London. Spätestens ab diesem Zeitpunkt galt sie als eine der wichtigsten Wagnersängerinnen ihrer Generation. Es folgten 1967 Gastspiele in München und Zürich sowie ihr erster Auftritt bei den Bayreuther Festspielen als Venus (Tannhäuser). Dort übernahm sie in der Folge auch die dritte Norn (1968 und 1969), vor allem aber alle drei Brünnhilde-Partien im Ring (zwischen 1968 und 1973). Weitere Gastspiele führten sie nach Barcelona, Amsterdam und New York. 1973/74 und ab 1977 war sie an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg verpflichtet. Bereits 1976 zur Königlich Schwedischen Hofsängerin ernannt, folgten weitere Auszeichnungen wie der Orden Litteris et artibus (1988). Nach ihrem 1993 erfolgten Rückzug von der Bühne wirkte sie als Gesangspädagogin. Ihre offizielle Diskographie ist überschaubar und vermittelt nur ansatzweise ihren Rang. Berit Lindholm ist am 12. August 2023 im 89. Lebensjahr in ihrer Heimatstadt Stockholm verstorben. Daniel Hauser

Graham Clark

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Der am 10. November 1941 in Littleborough, Lancashire, geborene englische Tenor Graham Clark kam in jungen Jahren über den Kirchenchor zur Musik. Nach Studien in London trat er 1973 erstmals beim Wexford Festival auf und hatte 1975 seinen Durchbruch bei einem Benefizkonzert am Royal Opera House in London, das im Fernsehen gesendet wurde und später auch auf Schallplatte erschien. Wenig später erhielt Clark einen Vollzeitvertrag der Scottish Opera in Glasgow und sang dort Rollen von Mozart (Pedrillo), Beethoven (Jaquino), Wagner (Zorn, David) und Richard Strauss (Brighella). Nach einem ersten Auftritt im Jahre 1976 wurde er zwei Jahre darauf Haustenor der English National Opera (bis 1985). Ab 1981 trat er bis 2004 regelmäßig bei den Bayreuther Festspielen auf und machte sich im Wagnerfach international einen Namen (David, Melot, Junger Seemann, Loge, Mime). Mit 112 Auftritten war er an der New Yorker Metropolitan Opera langjähriger Gast. Weitere Gastspiele führten Clark u. a. nach Paris, Toronto, San Francisco, Chicago und Berlin. Bei den Festspielen von Salzburg, Edinburgh, Camden und York, Stockholm, Paris, Mailand, Tel Aviv, Kopenhagen und Luzern war er ebenfalls gegenwärtig. In seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten kämpfte der Sänger mit einer Krebserkrankung. Sein letzter Bühnenauftritt erfolgte gleichwohl noch 2019 in Brüssel. Am 6. Juli 2023 ist Graham Clark im Alter von 81 Jahren verstorben. Daniel Hauser

Kenneth Riegel

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Am 29. April 1938 in West Hamburg, Pennsylvania, geboren, zeichnete sich die musikalische Karriere des US-amerikanischen Tenors Kenneth Riegel frühzeitig ab. Sein Operndebüt erfolgte 1965 in Hans Werner Henzes Oper König Hirsch in Santa Fe. Noch im selben Jahr debütierte Riegel am Royal Opera House, Covent Garden, in London. Zu seinem Schwerpunkt gerieten die New Yorker Opernhäuser: 1969 begann sein Engagement an der New York City Opera, ab 1973 auch an der Met, wo er auf nicht weniger als 102 Auftritte kam. Bei den Salzburger Festspielen konnte man ihn 1975 erleben, später auch in Paris (1979) und Hamburg (1981). Riegels Diskographie umfasst u. a. Haydns Harmoniemesse unter Leonard Bernstein (Sony), Mozarts Don Giovanni unter Lorin Maazel (Sony; auch als Film verewigt), Bergs Lulu unter Pierre Boulez (DG) und Richard Strauss‘ Salome unter Christoph von Dohnányi (Decca). Bereits am 28. Juni 2023 verstarb der Sänger, der 2005 seinen Bühnenabschied genommen hatte, in Sarasota, Florida, im Alter von 85 Jahren. Daniel Hauser

Erlösung dem Erlöser

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Es ist vollbracht. Wahrlich, es war viel Geduld notwendig, aber nun liegt der einzige bis dato unveröffentlichte Parsifal unter Hans Knappertsbusch komplett vor (Hänssler PH23002; den zweiten Aufzug daraus gab es beim selben Label bereits auf einem Martha Mödl gewidmeten Album).  Nichteingeweihte konnten es ohnehin nicht nachvollziehen, weshalb die Verehrer des legendären Dirigenten hinsichtlich dessen wahrlich reichhaltiger Parsifal-Diskographie diesem Tage entgegenfieberten. Nicht weniger als ein Dutzend Gesamtaufnahmen des Bühnenweihfestspiels gab es bereits unter der Stabführung des „Kna“, sämtlich aus dem Bayreuther Festspielhaus und erschienen auf diversen Labels. Am berühmtesten davon freilich die offiziellen Einspielungen von 1951 anlässlich der Wiedereröffnung von Neu-Bayreuth (Decca) und von 1962 (Philips), letztere die einzige in Stereo. Beide wurden über einen längeren Zeitraum mitgeschnitten, während es sich bei den anderen Jahrgängen um echte Live-Mitschnitte eines einzigen Abends handelt. Möglich gemacht wurde dies, weil der Bayerische Rundfunk von Anfang an von den wiedererstanden Bayreuther Festspielen in Echtzeit übertrug. Folglich haben sich also auch die anderen Jahre erhalten, in denen Knappertsbusch am Pult stand. Und dies war von 1951 bis einschließlich 1964 fast durchgängig der Fall. Nur einmal setzte der hochgewachsene Elberfelder komplett aus, 1953 nämlich, wo an seiner Statt Clemens Krauss einsprang. Der Grund war die Streichung der Taube in der Schlussapotheose des Finales durch Wieland Wagner, was Knappertsbusch endgültig zu weit ging, der sich mit der minimalistischen Inszenierung schon allgemein nur schwer anfreunden konnte. Im Folgejahr kehrten sowohl die gestrichene Taube als auch Knappertsbusch zurück, wie Bernd Zegowitz in seinem kundigen Einführungstext zu berichten weiß. Im folgenden Jahrzehnt blieb der „Kna“ dann unangefochten Bayreuths Gralshüter; einzig 1957 dirigierte der belgische Dirigent André Cluytens zwei der vier Vorstellungen (wobei der BR wiederum eine unter Knappertsbusch für die Nachwelt festhielt). Von den besagten Rundfunkmitschnitten war bislang nur derjenige vom 13. August 1964 offiziell unter Verwendung der Originaltonbänder und mit ausdrücklicher Genehmigung aus Bayreuth auf Compact Disc erschienen (Orfeo), was gewiss darin begründet liegt, dass es sich um das letzte Dirigat Knappertsbuschs überhaupt handelte. Die übrigen Jahre wurden von teils etwas obskuren Labels auf CD gepresst, waren aber mit einer Ausnahme mehr oder minder einfach erhältlich.

Eben dieser Sonderfall, die Rundfunkübertragung aus dem Jahre 1955, wird nun reichlich verspätet nachgereicht, dafür mit Lizenz des BR und unter Mithilfe des Wagner-Clans. Das 55er Jahr war für Bayreuth ein besonders bedeutsames, war Decca doch mit eigenen Tontechnikern angereist und hatte sowohl den kompletten Ring als auch den Fliegenden Holländer (beide dirigiert von Joseph Keilberth) professionell unter Live-Bedingungen eingespielt. Die Mitschnitte erschienen freilich erst mit einem halben Jahrhundert Verspätung bei Testament. Wieso ausgerechnet der Parsifal aus dem besagten Jahr solange unter Verschluss gehalten wurde, bietet Raum zu Spekulationen. Vermutlich spielte auch der Zufall eine Rolle. Besetzungstechnisch ist 1955 besonders spannend: Martha Mödl, die Kundry seit der Neueröffnung 1951, sang diesmal auch das Altsolo (so auch im Folgejahr); besagte Stimme aus der Höhe gab die „unpathetische Hochdramatische“ später nur noch in ihrem letzten Bayreuth-Jahr 1967. Der expressive Amfortas stellte Dietrich Fischer-Dieskaus Bayreuther Debüt in dieser Partie dar, die er dort einzig 1956 wiederholen sollte. Eine wirkliche diskographische Bereicherung ist der Titurel von Hermann Uhde, den er in Bayreuth tatsächlich nur an diesem 16. August 1955 sang und diese Minirolle gehörig aufwertete. Mit Gustav Neidlinger übernahm ein weiterer Hochkaräter den Klingsor, gleichsam in der Uhde-Nachfolge. Als Gurnemanz brillierte Ludwig Weber, der die fordernde Partie in Bayreuth ebenfalls schon seit 1951 sang. Mit dem Chilenen Ramón Vinay in der Titelpartie konnte ein waschechter Heldentenor vom alten Schlag mit baritonalem Fundament gewonnen werden. Selbst die kleinen Rollen waren 1955 luxuriös besetzt, zuvörderst Josef Traxel (1. Gralsritter), Gerhard Stolze (3. Knappe), Elisabeth Schärtel (2. Knappe und Blumenmädchen) und Jutta Vulpius (Blumenmädchen). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die deutsch-deutsche Besetzung, waren die Vulpius und Stolze doch DDR-Bürger. Hinzu trat der vom Altmeister Wilhelm Pitz einstudierte Festspielchor.

Obwohl nicht immer jeder Einsatz perfekt ist (merkliche Unstimmigkeiten zwischen Dirigent und Ludwig Weber bei der Verwandlungsmusik im ersten Aufzug) und es hie und da hörbare Wackler im unsichtbaren Orchestergraben gibt, stellt sich doch sogleich die Magie ein, die nur ein Dirigent der Statur Knappertsbuschs bei diesem Werk zu erzielen imstande war. Der 55er Parsifal ist in der Tat bereits von einer dramatischeren Tendenz als die getragenere 51er Darbietung; ein Trend, der sich bis 1964 fortsetzen sollte. Dies wird schon im Vorspiel zum ersten Aufzug deutlich, wenn man die Spielzeiten vergleicht: 14:13 (1951), 13:18 (1952), 12:33 (1955), 12:10 (1959), 12:02 (1962).

Hans Knappertsbusch/ vergl. die Website hansknappertsbusch.de

Klanglich handelt es sich um zufriedenstellendes Rundfunk-Mono, aus dem das Mastering von THS-Studio das Menschenmögliche herausholte (die problematischen Glocken im dritten Akt könnten auch einer ungünstigen Aufstellung der Mikrophone geschuldet sein). Die Textbeilage ist vorzüglich und wahrhaft informativ. Interessant auch die im Booklet enthaltenen Photographien, darunter eine besondere Rarität, wo der „Kna“ mit dem Ausdruck ehrlicher Verehrung die Hand der erkennbar geschmeichelten Mödl hält. Für Knappertsbusch-Freunde ohnehin eine Pflichtanschaffung, für alle anderen eine optionale Ergänzung der eigenen Parsifal-Sammlung. Daniel Hauser

Gabriele Schnaut

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Am 24. Februar 1951 in Mannheim geboren und anschließend in Mainz aufgewachsen, zeigte sich die musikalische Ader bei Gabriele Schnaut schon früh. Über ein Violine- und Musikwissenschaftsstudium kam sie ab 1971 zum Gesang (Studien in Frankfurt/M. und Ost-Berlin). 1976 erfolgte dann das erste feste Engagement an der Staatsoper Stuttgart. Über Darmstadt (1978-1980) und Mannheim (1980-1986) kam die Schnaut an die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf (1986-1990). Hatte sie als Altistin begonnen, ging es über den Mezzosopran 1985 schließlich ins hochdramatische Sopranfach. Die Musik von Wagner bildete eine feste Säule in ihrem Repertoire. Schon 1977 debütierte Schnaut bei den Bayreuther Festspielen (Waltraute und 2. Norn), sang dort später auch die Venus (1985-1987) und die Sieglinde (1986), vor allem aber die Ortrud (1987-1991 und nochmal 1999). Ihre letzten dortigen Auftritte absolvierte sie im Jahre 2000 als Brünnhilde im kompletten Nibelungenring. Daneben war es gerade Richard Strauss, der im Zentrum ihres Schaffens stand (Elektra, Färberin, Amme, Octavian), aber durchaus auch Puccini (Tosca und Turandot), Bizet (Carmen), Janacek (Küsterin) und Berg (Marie). Gastspiele führten sie u. a. nach Wien, Mailand, London, Paris, Genf, Rom, Barcelona, Warschau, New York, Chicago, Antwerpen und Tokio. Auch als Konzertsängerin (Oratorium und Lied) kam sie zu Ehren. Gabriele Schnaut war Hamburgische (1995) und Bayerische Kammersängerin (2003) und erhielt 2006 den Bayerischen Verdienstorden. Divenhafte Züge entwickelte sie trotz ihrer unbestreitbaren Erfolge mitnichten. Die letzten gut zwei Jahrzehnte verlebte sie in Rottach-Egern im oberbayerischen Landkreis Miesbach. Am 19. Juni 2023 ist Gabriele Schnaut im Alter von 72 Jahren nach schwerer Krankheit verstorben. Daniel Hauser

Der sinfonische Klemperer (fast) komplett

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Unter den großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts nimmt Otto Klemperer (1885-1973) ohne Frage eine besondere Stellung ein. Seine diskographische Hinterlassenschaft ist gewaltig, was mit der nunmehr vorgelegten, nicht weniger als 95 CDs umfassenden ersten Box Otto Klemperer: The Warner Classics Remastered Edition – Complete Recordings of Symphonic Works on EMI Columbia, HMV, Electrola & Parlophone (Warner 5 054197 257049) schon rein äußerlich demonstriert wird. Tatsächlich soll im Herbst 2023 noch eine zweite, gewiss ähnlich voluminöse Kollektion mit Opern und Sakralwerken nachfolgen.

Jon Tolansky nennt ihn in seinem sehr lesenswerten Einführungstext zurecht einen „stoischen Giganten der Musik“. Im schlesischen Breslau als Sohn jüdischer Eltern geboren, machte Klemperer schon in jungen Jahren von sich reden. Bei einer Aufführung von Gustav Mahlers Auferstehungs-Sinfonie 1905 in Berlin unter Oskar Fried, bei der er das Fernorchester dirigieren durfte, traf er den Komponisten höchstpersönlich, der ihm ein Empfehlungsschreiben mit auf den Weg gab und damit Klemperers frühen Aufstieg beförderte. 1907 wurde er nicht zuletzt aufgrund dieser Empfehlung Chorleiter und kurz darauf Kapellmeister am Deutschen Theater in Prag. 1910 durfte Klemperer gar Mahler selbst bei der Uraufführung von dessen Sinfonie der Tausend assistieren. Über Hamburg (1910-1912), Barmen (1912-1913), Straßburg (1914-1917), Köln (1917-1924) und Wiesbaden (1924-1927) kam Klemperer schließlich an die Berliner Krolloper. Seine kurze Amtszeit (bis 1931) brachte ihm aufgrund seiner Offenheit gegenüber zeitgenössischen Werken und modernen Regiekonzepten internationale Aufmerksamkeit, aber auch nachhaltige Anfeindungen ein. Nach der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten wurde er als „Kulturbolschewist“ mit eine Aufführungsverbot belegt, was zu seiner Emigration in die Schweiz führte. Über Zürich gelangte er schließlich in die Vereinigten Staaten, wo er bereits im Oktober 1933 sein Amt als Chefdirigent des Los Angeles Philharmonic antrat, welches er bis 1939 innehaben sollte. Im selben Jahr wurde ein komplizierter operativer Eingriff wegen eines Hirntumors notwendig, der eine partielle Lähmung des Dirigenten zur Folge hatte. Dies und eine sich verstärkende bipolare Störung führten dazu, dass es in den folgenden Jahren zunächst still um Klemperer wurde. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte er nach Europa zurück und schlug sich mit Gastdirigaten bei verschiedensten Orchestern durch, bevor er zwischen 1947 und 1950 als Musikdirektor der Ungarischen Staatsoper in Budapest wirkte. Insgesamt hatte es seinerzeit gleichwohl den Anschein, als sei seine ganz große Zeit vorüber.

Klemperers kaum mehr für möglich gehaltener Indian Summer erfolgte infolge der so nicht vorhersehbaren Verpflichtung durch den legendären EMI-Produzenten Walter Legge ab dem Jahre 1954 im stattlichen Alter von 69. In den 17 Jahren darauf kam es zu denjenigen Studioeinspielungen, welche das Bild vom Dirigenten Otto Klemperer für die Nachwelt nachhaltig prägen sollten. Sie sind nunmehr sämtlich in dieser monumentalen Box zusammengefasst worden. Es gilt freilich zu bedenken, dass diese Aufnahmen in den späten Lebensjahren des Dirigenten entstanden sind und zumal nach seinem Brandunfall im Jahre 1958, der zu einer weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigung führte und ein einjähriges Pausieren nach sich zog, insofern seinen Spätstil wiedergeben. Es ist andererseits erstaunlich, wie flüssig und teilweise gar rasant Klemperer selbst Mitte der 1950er Jahre noch dirigieren konnte, nimmt man beispielsweise seine 1956 entstandene Einspielung von Mozarts kleiner g-Moll-Sinfonie (Nr. 25 KV 183), deren Feuer modernen HIP-Aufnahmen in nichts nachsteht. Auch die vier Sinfonien von Brahms, die Klemperer in den Jahren 1956/57 einspielte, atmen diese unerwartete Jugendlichkeit. Der Bruch, den das Jahr 1958 darstellt, wird am deutlichsten, wenn man den Beethoven-Zyklus betrachtet, der 1955 (zunächst noch in Mono) begonnen wurde. Die späteren, nach 1958 entstandenen Stereo-Einspielungen etwa der fünften und siebenten Sinfonie gerieten deutlich monumentaler und prägten den landläufig als solchen bezeichneten „Klemperer-Stil“, der durch zurückgenommene Tempi beinahe sprichwörtlich wurde. Legge selbst soll darob zunächst irritiert gewesen sein, worauf Klemperer, schlagfertig wie eh und je, erwidert haben soll: „Daran werden Sie sich schon noch gewöhnen.“

Freilich ist eine allzu pauschale Reduzierung des greisen Klemperer auf seine vermeintliche Langsamkeit nicht zielführend. Noch in den 1960er Jahren nahm der Dirigent die langsamen Sätze sinfonischer Werke vergleichsweise flott, betrachtet man etwa die fulminante Symphonie Pathétique von Tschaikowski von 1961, wo der larmoyante Schlusssatz im Vergleich zum vorangehenden, sehr breit genommenen marschartigen Scherzo geradezu flott daherkommt. Und auch in den ganz späten Einspielungen der Bruckner-Sinfonien Nr. 5, 8 und 9 (1967 bis 1970) lässt sich diese Tendenz beobachten, in der sich Klemperer in den Adagio-Sätzen jedwedem Ansatz von etwaiger Rührseligkeit versagt. Sich selbst hat er in einem Interview Anfang der 60er Jahre einmal einen „Immoralisten“ genannt, völlig anders geartet als der „Romantiker“ Bruno Walter. Nüchterne Sachlichkeit, klare Strukturierung und ausgezeichnete Durchhörbarkeit des Orchesterklangs blieben insofern Klemperers Maxime bis zuletzt, was wohl auch seine Begeisterung für den damals jungen und als Enfant terrible berüchtigten Dirigentenkollegen Pierre Boulez erklärt.

So breit das Repertoire Otto Klemperers gewiss war, so lassen sich doch eindeutige Schwerpunkte festmachen. Ein großer Fokus lag zweifellos auf dem deutsch-österreichischen Raum von der Wiener Klassik bis zur Spätromantik. Besonders als Interpret von Mozart, Beethoven, Brahms und Bruckner ist Klemperer zurecht berühmt geworden. Seine Affinität für die Musik Mahlers muss gewiss nicht weiter belegt werden, selbst wenn er nur einige ausgewählte Mahler-Sinfonien fest im Repertoire hatte (Nr. 2, 4 und 9) und sich der als Cinderella verschrienen Siebenten erst mit über achtzig annahm, freilich mit sensationellem Ergebnis, wie diese Einspielung von 1968 belegt. Aber auch für Haydn hatte Klemperer eine Schwäche und war zuletzt mit einer leider nicht mehr vollendeten Einspielung sämtlicher Londoner Sinfonien betraut gewesen. Die Oxford (Nr. 92) von 1971 stellt tatsächlich seine letzte Einspielung einer Sinfonie überhaupt dar. Ein Kleinod ist gerade auch Klemperers Lesart der wenig bekannten 95. Sinfonie, der einzigen in Moll-Tonart, eingespielt 1970.

Eine lebenslange Hingabe des Dirigenten galt Johann Sebastian Bach, wovon – neben den hier nicht weiter zu thematisierenden Vokalwerken – zwei Gesamtaufnahmen der sechs Orchestersuiten (1954 und 1969) sowie eine der sechs Brandenburger Konzerte (1960) zeugen. Eine wirkliche Durchdringung dieser Barockmusik muss dem alten Herrn zweifelsohne zugestandenen werden; wie blass und einzig technisch brillant wirkt dagegen so manche „historisch korrekte“ Bach-Aufnahme unserer Tage. Eine tiefe religiöse Verwurzelung mag Klemperers Bach-Begeisterung mitbestimmt haben, der die h-Moll-Messe einmal „das größte Werk, das jemals geschrieben wurde“ nannte. 1919 zum Katholizismus konvertiert, blieb er derselben die meiste Zeit seines Lebens verbunden, um ihr im hohen Alter von 82 Jahren 1967 doch abermals den Rücken zuzukehren. In seinen letzten Lebensjahren kam es zu einer Rückbesinnung auf seine jüdischen Wurzeln.

Daneben trat Klemperer auch als Fürsprecher Schumanns auf, dessen Orchestrierungen zumal seinerzeit als verbesserungswürdig galten, und spielte die vier Sinfonien und zwei der Ouvertüren ein. Ein Anliegen scheint ihm die bis heute verschmähte Zweite des Zwickauers gewesen zu sein, die er sogar auf eines seiner letzten Konzertprogramme setzte. Von Mendelssohn Bartholdy legte er immerhin die populärsten Werke vor: Die Schottische und die Italienische Sinfonie sowie die Bühnenmusik zum Sommernachtstraum von Shakespeare finden sich in seiner Diskographie. Zwar fand Klemperer die Finalcoda der Schottischen unbefriedigend und komponierte gar einen eigenen Alternativschluss, doch konnte Legge glücklicherweise zumindest in der Studioproduktion die Originalfassung des Komponisten erzwingen. Erstaunlicherweise klingt ausgerechnet Klemperers Einspielung mit dem gefühlt halbierten Tempo in dieser Coda mustergültig. Leider kam es zu keiner Produktion auch der Reformations-Sinfonie, die Klemperer mutmaßlich gelegen wäre. Schubert stand vergleichsweise wenig im Zentrum seines Interesses, auch wenn die hier vorliegenden Einspielungen der Fünften, der Unvollendeten und der Großen C-Dur fraglos ihre Meriten aufweisen. Erstmals wurde nun der 1963 eingespielte Kopfsatz der Tragischen (Nr. 4) veröffentlicht; eine Gesamtaufnahme des Werks existiert unter Klemperers Dirigat allerdings mitnichten. Hinzu gesellt sich eine zu Unrecht etwas im Schatten stehende, formidable Wiedergabe der Sinfonie Aus der Neuen Welt (Nr. 9) von Dvorák. Dass ihm das slawische Idiom durchaus behagte, belegen im Übrigen auch die weiteren Tschaikowski-Sinfonien Nr. 4 und 5, die als analytische Gegenpole zu hyperemotionalen Darbietungen durchaus bestehen können. Auch im französischen Fach gibt es zumindest zwei sinfonische Werke, denen Klemperer in seinen späten Jahren Aufmerksamkeit zukommen ließ. Sowohl die Symphonie Fantastique von Berlioz als auch César Francks Sinfonie d-Moll dürfen als unverhofft überzeugende Überraschungen gelten; letztere verkommt keineswegs zu einer bloßen Bruckner-Kopie. Unerwartet sein Einsatz für Strawinski, dessen Petruschka hier ebenfalls inkludiert wurde; zu LP-Zeiten wurde sie als nicht wirklich überzeugend von EMI zurückgehalten.

Vorspiele, Ouvertüren und sonstige Orchestermusik aus den Werken Richard Wagners standen in den Jahren 1960/61 im Fokus. Vom Rienzi bis zum Parsifal ist das wesentliche Orchestrale enthalten. Ein Wermutstropfen freilich, dass Klemperer einzig eine Gesamtaufnahme des Fliegenden Holländers vorlegen konnte. Eine erwogene Gesamteinspielung des Rings des Nibelungen musste sich angesichts des Alters des Dirigenten als illusorisch erweisen; einzig den ersten Walküren-Akt konnte Klemperer 1969 noch zu Ende bringen. Rein orchestral fällt auch die Beigabe an Werken von Richard Strauss aus, wo Don Juan, Till Eulenspiegel, Tod und Verklärung, der Tanz der sieben Schleier aus Salome und die Metamorphosen immerhin einen Eindruck vermitteln können. Auch der Namensvetter Johann Strauss ist immerhin mit zwei Walzern und der Fledermaus-Ouvertüre vertreten. Ausgezeichnet gelingt Klemperer die Kleine Dreigroschenmusik von Kurt Weill, gleichsam eine Reminiszenz an seine wilden Berliner Jahre.

Die in der Box enthaltenen Opernouvertüren von Weber (Der Freischütz, Euryanthe), Humperdinck (Hänsel und Gretel), Gluck (Iphigénie in Aulis) und erstmals auch Cherubini (Anacréon) sind in Klemperers überlegener Interpretation ein Labsal. Dass er allgemein ein bedeutender Operndirigent war, geht in der vorliegenden Box freilich unter und wird Gegenstand der nachfolgenden sein. Allerdings gibt es gleichwohl auch hier einige Werke mit Vokalanteil, angefangen bei Beethovens Neunter von 1957, wo interessanterweise nicht nur die landläufig bekannte Studioeinspielung inkludiert wurde, sondern auch der beinahe zeitgleich entstandene Live-Mitschnitt aus der Royal Festival Hall. Die hervorragenden Solisten sind dieselben: Aase Nordmo-Lövberg, Christa Ludwig, Waldemar Kmentt sowie Hans Hotter. Hinzutritt in beiden Fällen der von Wilhelm Pitz einstudierte Philharmonia Chorus. Der Konzertmitschnitt ist sogar noch lebendiger und verblüffend gut, ebenfalls bereits in Stereo, eingefangen. Christa Ludwig ist zudem mit den Wesendonck-Liedern und Isoldes Liebestod von Wagner, fünf Liedern von Mahler sowie der Brahms’schen Alt-Rhapsodie vertreten. Ebenfalls mehrfach berücksichtigt wurde die Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf, und zwar sowohl in der zweiten als auch in der vierten Sinfonie von Mahler, zurecht legendär gewordenen Einspielungen. Ihre Partnerin in der Zweiten ist die Mezzosopranistin Hilde Rössl-Majdan.

Auch Instrumentalsolisten gesellen sich hinzu. Daniel Barenboim übernimmt den Solistenpart in den fünf Klavierkonzerten und der Chorfantasie von Beethoven sowie dem 25. Klavierkonzert von Mozart, das einzige dieses Komponisten, das unter Klemperers Dirigat vorliegt. Diese Aufnahmen erscheinen wie in Stein gemeißelt. Annie Fischer wird von ihm in den Klavierkonzerten von Schumann und Liszt (Nr. 1) begleitet, David Oistrach im Violinkonzert von Brahms (übrigens die einzige Einspielung Klemperers mit dem französischen Nationalen Rundfunkorchester) und schließlich Yehudi Menuhin im Violinkonzert von Beethoven. Hinzukommen die vier Hornkonzerte Mozarts mit Alan Civil.

Klemperer, der sich gerade auch als Komponisten sah, kommt in der Box auch als solcher zum Zuge. EMI spielte immerhin den Merry Waltz (1961), die Sinfonie Nr. 2 (1969) und das Streichquartett Nr. 7 (1970) im Studio ein. Auf zwei Bonus-CDs sind hier weitere Kompositionen Klemperers enthalten, zuvörderst die Sinfonien Nr. 3 (1970) und 4 (1969) wie auch das Streichquartett Nr. 3 (1969), die jeweils in einem einzigen Zuge aufgenommen wurden.

Primär von historischem Interesse sind die auf den ersten beiden CDs zusammengefassten 78er-Schellackaufnahmen aus den Jahren 1927 bis 1929 mit der Staatskapelle Berlin bzw. dem Orchester der Staatsoper Berlin, darunter eine komplette Einspielung der ersten Brahms-Sinfonie und sogar die Ouvertüren zu Aubers Fra Diavolo und Offenbachs La Belle Hélène, die der Dirigent später leider nicht mehr in Stereo wiederholte.

Die letzte Disc der Kollektion enthält schließlich eine 80-minütige Dokumentation vom bereits genannten Jon Tolansky, welche die Lebensstationen Otto Klemperers musikalisch durchschreitet.

Bei all der überreichlichen Fülle geht darüber beinahe unter, dass nicht wirklich alle ehemaligen EMI-Aufnahmen hier vertreten sind. Tatsächlich wurden diejenigen Live-Produktionen des Bayerischen Rundfunks ausgespart, die einst unter dem EMI-Label auf CD erschienen sind: Mahlers zweite Sinfonie (1965; mit Heather Harper und Janet Baker), Schuberts Unvollendete (1966), Mendelssohns Schottische (1969; mit Klemperers eigener Schlusscoda) sowie Beethovens vierte und fünfte Sinfonie (1969). Bedauerlich ist dies gerade deshalb, weil diese Aufnahmen künstlerisch besonders hervorragen und die entsprechenden Studioeinspielungen hie und da sogar noch übertreffen. Lizenzrechtliche Gründe sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ursache der Weglassung. Mit etwas Glück kann man diese Aufnahmen noch auf dem Gebrauchtmarkt erstehen.

Über das vom Art & Son Studio vorgenommene Remastering (192 kHz/24 Bit) sämtlicher Einspielungen von den Originaltonbändern kann voll des Lobes gesprochen werden. Besser klangen diese Aufnahmen in den bisherigen landläufigen Veröffentlichungen mitnichten. Es glückte sogar das Kunststück, bis dato klanglich problematische Produktionen wie Klemperers letzte Beethoven-Siebente von 1968 in einem deutlich günstigeren Licht erscheinen zu lassen. Die von Art & Son erzielte Klarheit geht Hand in Hand mit der vom Dirigenten angestrebten orchestralen Detailversessenheit. Auch aufgrund dieser technisch sehr geglückten Aufbereitung bleibt – trotz der fehlenden BR-Aufnahmen aus München – nichts weiter, als eine volle Empfehlung auszusprechen. Daniel Hauser

God Save the King

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Diejenigen Zeitgenossen, welche die Krönung der britischen Königin Elizabeth II. im Jahre 1953 wirklich bewusst miterlebt haben, sind mittlerweile um die achtzig oder älter, liegt dieses Ereignis doch bereits sage und schreibe 70 Jahre zurück. Großbritannien und die Queen, das sollte über sieben Jahrzehnte unzertrennbar miteinander verbunden bleiben, so dass es schwerfällt, sich nunmehr wiederum an einen King zu gewöhnen. Tatsächlich wurde England freilich die meiste Zeit von Königen regiert, wenngleich es eben drei Frauen waren, denen eine besonders lange Regierungszeit vergönnt war, nämlich den beiden Elizabeths (1558-1603 und 1952-2022) und Victoria (1837-1901).

Es nimmt nicht wunder, dass das Label Coro die Krönung Charles‘ III. am 6. Mai 2023 zum Anlass nimmt, nun eine aktualisierte Neuauflage spezifischer Krönungsmusik aufzulegen (COR16196). Es zeichnet verantwortlich das Chor- und Orchester-Ensemble The Sixteen unter Harry Christophers, das sich schon seit Jahrzehnten der sogenannten historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet fühlt. Tatsächlich handelt es sich abgesehen von einem der 20 enthaltenen Stücke um Wiederverwertungen aus nicht weniger als zehn älteren Veröffentlichungen der Sixteen, die zwischen 1990 und 2021 erschienen sind. Die einzige wirklich Neueinspielung stellt O Lord, Make Thy Servant Elizabeth von Cecilia McDowall dar, welche von der Genesis Foundation in Auftrag gegeben wurde und sowohl eine Hommage an die verstorbene Queen als auch an das gleichnamige Stück von William Byrd (dort freilich auf Elizabeth I. bezogen) darstellt (Aufnahme: Jänner 2023). Die Auswahl der 70-minütigen CD ist insgesamt gut geglückt und gibt einen repräsentativen Überblick über 500 Jahre englischer bzw. britischer Krönungsmusik, angefangen bei Thomas Tallis (Sing and Glorify) über Orlando Gibbons (Great King of Gods), Henry Purcell (O Sing unto the Lord; Music, the Food of Love) und den unvermeidlichen Georg Friedrich Händel (Zadok the Priest; The King Shall Rejoice) bis hin zu Michael Tippett (Dance, Clarion Air) und Benjamin Britten (Tänze aus Gloriana; Jubilate Deo). Ergänzt wird dies um This Day Day Dawes von einem anonymen Verfasser. Alle Werke tragen dem feierlichen Charakter Rechnung; Atonalität ist insofern auch bei den neuesten Kompositionen nicht zu befürchten. Die Ausführung gerät erwartungsgemäß auf sehr hohem künstlerischen Niveau und zeugt von der anhaltenden Professionalität des HIP-Ensembles. Auch klanglich gibt es nichts auszusetzen. Die reichhaltige (wenn auch nur englischsprachige) Textbeilage unterstreicht den positiven Gesamteindruck. Insofern kann man dem Ausruf des Dirigenten Harry Christophers im Vorwort nur nachdrücklich unterstreichen: Long live the King! Daniel Hauser

Lange überfällige Würdigung

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Der 1878 im Fürstentum Monaco geborene und später in Wien ansässige österreichische Komponist Franz Schreker ist heutzutage am ehesten durch seine Opern in Erinnerung geblieben. Besonders Die Gezeichneten, uraufgeführt 1918, erfreuen sich anhaltender Beliebtheit. Dass darüber die Orchesterwerke und auch die Lieder in den Hintergrund rückten, ist seit Schrekers Tod im Jahre 1934 tatsächlich schwerlich abzustreiten, wie ein Blick in die bis heute sehr überschaubare Schreker-Diskographie beweist. Auch um diesem Umstand Abhilfe zu verschaffen, hat es sich der Dirigent Christoph Eschenbach, mittlerweile 83 und seit langem von der Musik des frühen 20. Jahrhunderts fasziniert, zur Aufgabe gemacht, einige wenig im Mittelpunkt stehende Kompositionen Schrekers auf Tonträger einzuspielen, wobei ihm die Deutsche Grammophon Gesellschaft erfreulicherweise mit offenen Armen entgegenkam. Die jetzt erscheinende Doppel-CD dokumentiert das Ergebnis dieser fruchtbaren Zusammenarbeit (DG 4863993). Mit dem Konzerthausorchester Berlin, dem Eschenbach seit 2019 vorsteht, konnte ein in der Moderne bestens bewanderter Klangkörper gewonnen werden.

Eschenbach, der Schreker in der Nachfolge der Symphonik Gustav Mahlers sieht, verhehlt nicht die Schwierigkeiten, welche diese Musik auch erfahrenen Orchestern zu bereiten im Stande ist. Tatsächlich meistert „sein“ Klangkörper diese mit Bravour. Der klugen Auswahl an Werken steht zuvörderst das sogenannte Nachtstück, die über 17-minütige Zwischenmusik aus dem dritten Akt der Oper Der ferne Klang (1912), ein in Eschenbachs Worten „großartiges symphonisches Poème“, das wirklich auch als eigenständige und atmosphärische Tondichtung bestehen könnte. Diesem folgt als Schmankerl die wienerisch angehauchte und intime Valse lente (1908) für kleines Orchester. Die facettenreiche Kammersymphonie (1916), untergliedert in vier Sätze höchst unterschiedlicher Länge vom über zehnminütigen Kopfsatz bis zum nicht einmal zweiminütigen dritten Satz, ist ein Musterbeispiel für Schrekers Gespür für Klangfarben. Vierteilig daher kommt ebenfalls die Romantische Suite (1903), ein Frühwerk, das entgegen der Betitlung bereits durchaus moderne Anklänge in sich trägt. Die ein Vierteljahrhundert später für den Rundfunk komponierte Kleine Suite (1928), in sechs Sätze unterteilt, ist ganz neoklassizistisch angehaucht.

Mit Vom ewigen Leben (1923/27) werden zwei so bezeichnete lyrische Gesänge für Sopran und Orchester beigesteuert, die auf Texten von Walt Whitman basieren, wobei Hans Reisiger die deutsche Übersetzung besorgte. Den solistischen Part übernimmt formidabel die israelische Sopranistin Chen Reiss. Für den Liederzyklus Fünf Gesänge (1909/22) schließlich konnte der renommierte Bariton Matthias Goerne gewonnen werden. Die Lieder handeln von Sehnsucht, Entfremdung, Verzweiflung, nostalgischen Erinnerungen und nicht zuletzt von Tod und Erlösung. Abgesehen vom ersten Lied „Ich frag nach dir jedwede Morgensonne“, das auf den Erzählungen aus tausendundeiner Nacht beruht (Übersetzung: Ernst Ludwig Schellenberg), wird auf Gedichte der symbolistischen Dichterin Edith Ronsperger zurückgegriffen. Beiden Solisten ist die gute Textverständlichkeit hoch anzurechnen.

Angesichts der referenzträchtigen Darbietung aller Beteiligten kann man nicht anders als eine nachdrückliche Empfehlung für dieses Album auszusprechen. Das tadellose Klangbild (Aufnahme: Konzerthaus Berlin, März 2021, Mai 2021 und Mai/Juni 2022) unterstreicht den positiven Gesamteindruck. Der lehrreiche Einführungstext von Mario-Felix Vogt tröstet etwas über die fehlenden Liedertexte hinweg – das einzige Manko dieser Neuerscheinung. Daniel Hauser

Ein französischer Liebestrank

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Eine kaum mehr für möglich gehaltene Renaissance erlebt seit einigen Jahren der französische Opernkomponist Daniel-François-Esprit Auber, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Grenzen Frankreichs hinaus hochpopulär. Großen Anteil an dieser Wiederentdeckung hat das Label Naxos, welches mit der modernen Erstaufführung von Le Philtre (Der Liebestrank) einen weiteren Coup landen kann (Naxos 8.660514-15). Zu verdanken ist diese Einspielung den Rossini-Festspielen in Bad Wildbad, die sich dankenswerterweise auch vermehrt der Zeitgenossen dieses Komponisten annimmt. Tatsächlich ist diese am 20. Juni 1831 am Théâtre de l’Opéra (und somit nicht an der Opéra-Comique) in Paris uraufgeführte zweiaktige Oper gewissermaßen das Original des viel berühmteren Elisir d’amore von Donizetti und erlebte in Paris bis 1862 insgesamt nicht weniger als 243 Aufführungen, was für die große und anhaltende Beliebtheit des zweistündigen Werkes beim Pariser Publikum spricht. Das Libretto steuerte, wie so häufig, der Routinier Eugène Scribe bei. Ähnlich wie beim Maskenball und bei Manon Lescaut wurden Aubers Fassungen der jeweiligen Stoffe später durch andere Komponisten verdrängt. Dies ist keineswegs durch mangelhafte Qualität erklärlich, wovon die insgesamt sehr adäquat besetzte Bad Wildbader Aufführung zeugt.

Die Geschichte ist weithin geläufig, auch wenn die Namen der Akteure bei Auber anders lauten. Der Tenor Patrick Kabongo gibt einen splendiden Guillaume und ist in diesem Genre erkennbar gut aufgehoben. Im Sopranpart der Térézine ist Luiza Fatyol zu hören, die mit hörbarer Spielfreude agiert. In den weiteren Partien schließlich, sämtlich stilgerecht und rollendeckend, der Bariton Emmanuel Franco als Joli-Cœur, der Bassist Eugenio Di Lieto als Fontanarose sowie die Sopranistin Adina Vilichi als Jeannette. Als Dirigent zeichnet mit dem notwendigen Gespür verantwortlich Luciano Acocella an der Spitze des Philharmonischen Chors und Orchesters Krakau. Die klanglich trotz der Live-Situation zufriedenstellende Einspielung entstand zwischen dem 13. und 15. Juli 2021 in der Offenen Halle Marienruhe in Bad Wildbad. Die deutschsprachige Textbeilage von Paolo Fabbri fällt informativ aus, das Libretto ist mittels Weblink zumindest auf der Naxos-website im Netz abrufbar, allerdings nur auf Französisch und ohne Übersetzung. In jedem Falle eine willkommene Ergänzung der immer breiter aufgestellten Auber-Diskographie. Daniel Hauser

Klangsinnlicher Strawinski aus Paris

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Ein geschlagenes Jahr ist vergangen, seitdem der finnische Dirigent Klaus Mäkelä sein vielbeachtetes Debüt beim Traditionslabel Decca mit einem kompletten Zyklus der sieben Sinfonien von Jean Sibelius machte. Lange musste man sich gedulden, bis nun die zweite diskographische Signatur des charismatischen Nordeuropäers erfolgt (Decca 485 3946). Die Auswahl der Werke ist gewiss nicht zufällig. Hatte man bei Sibelius aus die Osloer Philharmoniker gesetzt, denen Mäkelä seit 2020 vorsteht, ist es nun das Orchestre de Paris, wo er seit 2022 ebenfalls als Chefdirigent fungiert. Im Fokus stehen diesmal Igor Strawinski und seine beiden Ballette L’Oiseau de feu (Der Feuervogel) und Le Sacre du printemps (Die Frühlingsweihe), eingespielt in der Pariser Philharmonie im September und Oktober 2022. Beide Werke feierten ihre Uraufführung in Paris, der Feuervogel am 25. Juni 1910 im Théâtre National de l’Opéra und die Frühlingsweihe am 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Élysées. Von daher kann man von einem hohen Grad an Idiomatik hinsichtlich der Wahl des eingesetzten französischen Orchesters sprechen.

Vom Feuervogel gibt es neben der kompletten Ballettmusik (1910) nicht weniger als drei vom Komponisten arrangierten Suiten, die auf 1911, 1919 und 1945 datieren. Einzig die erste Suite bedient sich derselben Instrumentierung wie im ursprünglichen Ballett. In den späteren Suiten hat Strawinski das Orchester verkleinert, so entfielen vor allem die direkt auf der Bühne eingesetzten Blechbläser (drei Trompeten, zwei Tenor-Wagnertuben und zwei Bass-Wagnertuben) und zwei der drei Harfen. Dass Mäkelä nun die vollständige Ballettmusik einspielt, darf ausdrücklich begrüßt werden, da die Diskographie nicht derart umfänglich ist, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Tatsächlich dominieren die drei deutlich kürzeren Suiten eindeutig und erfolgte die erste Gesamtaufnahme der kompletten Urfassung erst im Jahre 1959 durch Antal Doráti auf dem Label Mercury. Es folgte sodann 1961 die historisch bedeutsame Einspielung durch den Komponisten selbst für Columbia (1967 nahm Strawinski auch noch die 1945er Suite auf). In der Folge nahmen sich bedeutende Dirigenten wie Pierre Boulez (1967), Ernest Ansermet (1968), Seiji Ozawa (1972 und 1983), Dmitri Kitajenko (1991) und Andris Nelsons (2009) der ungekürzten Originalpartitur an. Mäkelä muss sich also hochkarätiger Konkurrenz stellen. Es darf vorweggenommen werden, dass sich die Neueinspielung der Decca in diesem illustren Kreise gut behaupten kann. Mäkeläs Ansatz begreift das Werk noch aus der spätromantischen Tradition heraus und sieht es gewissermaßen als den letzten Ausläufer dieser von Tschaikowski perfektionierten Gattung. Es nimmt insofern nicht wunder, dass es zugespitztere, sozusagen drastischere Deutungen gibt, zuvörderst besagte Ersteinspielung Dorátis, der in seinen späten Jahren übrigens noch eine Neuaufnahme bei Decca vorlegte (1982). Von besonderem Interesse ist freilich die Tatsache, dass das Orchestre de Paris mit schon genanntem Ozawa vor genau einem halben Jahrhundert bereits eine fulminante Darbietung vorlegte. An die sensationell herausgearbeitete Durchleuchtung der Partitur á la Boulez will Mäkelä augenscheinlich nicht anknüpfen. In keiner anderen mir bekannten Aufnahme wird das Bühnenorchester so akribisch hörbar gemacht wie bei Boulez. Mäkelä, dessen Tonfall insgesamt süffiger daherkommt, nimmt sich mit 48 Minuten auch mehr Zeit als seine Vorläufer (Strawinski selbst benötigte fünf Minuten weniger). Dies führt zu einer lyrischeren Note, die diskographisch gewiss eine Bereicherung darstellt.

Ungleich rabiater, gleichsam der Urknall einer neuen Zeitrechnung, kommt natürlich die Frühlingsweihe daher, deren Pariser Erstaufführung unter Pierre Monteux einen handfesten Skandal auslöste. Entsprechend bedeutsam ist freilich Monteux‘ späte Stereoeinspielung für Decca mit dem legendären Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire (1956). Nicht weniger eminent Leonard Bernsteins radikale Deutung (1958), welche auf den Beifall Strawinskis selbst stieß und gut die Eruption vermittelt, welche die Uraufführung wohl ausgelöst haben muss. Mäkelä sieht sich im Falle des Sacre einer noch geballteren Konkurrenzsituation gegenüber, wurde das Werk seit 1929 (Strawinskis Ersteinspielung) doch weit über 100 Mal in dieser Form aufgenommen (Suiten gibt es hier keine). Es ist nicht einfach, weitere Einspielungen besonders hervorzuheben, doch muss gerade die urrussische Interpretation von Jewgeni Swetlanow (1966) auf jeden Fall Erwähnung finden. Aus historischer Warte bedeutsam ist die unter dem Dirigat Leopold Stokowskis entstandene und in frühestem Zweikanalton produzierte gekürzte Fassung für den legendären Disney-Film Fantasia von 1940. Mit gut 35 Minuten Spielzeit befindet sich Mäkelä auch beim Sacre unter den langsameren Interpreten, wobei die durchschnittliche Spieldauer mit etwa 33-34 Minuten nur unwesentlich schneller ist (Bernstein kam in seiner letzten Einspielung von 1982 gar auf 37 Minuten). Nach der recht auszelebrierten Einleitung kommen die Vorboten des Frühlings deutlich weniger schroff hervor als etwa bei Doráti (1959), Leinsdorf (1973) oder Solti (1974), viel eher der Klangästhetik Karajans (1963 und 1977) nahestehend. Die Detailverliebtheit, die dergestalt wiederum zu Tage tritt, ist auf ihre Art faszinierend. Die große dynamische Bandbreite der Einspielung wird bei diesem Werk besonders deutlich, ohne dass ruhigere Abschnitte nahezu unhörbar würden.

Eine in der Summe bemerkenswerte Premiere Mäkeläs und seines Pariser Klangkörpers, welcher womöglich der ganz große Aha-Effekt abgeht, der seinen Sibelius mit den Osloern auszeichnete, und die hie und da beinahe introvertiert daherkommt, aber bei nüchterner Betrachtung eine vollauf legitime Art der Darbietung der beiden Ballettwerke darstellt. Die Textbeilage fällt gediegen aus. Daniel Hauser

Isländische Orchesterwerke für die Bühne

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Island nimmt innerhalb der Musikgeschichte der nordischen Länder eine Sonderrolle ein. Spärlich ist die isländische Tradition der klassischen Musik zu nennen, was schon daran liegt, dass es bis 1921 kein landeseigenes Orchester gab und bis 1930 auch kein isländisches Konservatorium. Insofern kann auf gerade ein Jahrhundert zurückgeblickt werden. Der landläufig vermutlich bekannteste Komponist Islands war Jón Leifs (1899-1968), der gleichwohl wiederum einen skurrilen Außenseiter darstellt, nicht typisch ist für die klassische Musik Islands, und dessen schroffes und exzentrisches Werk mitunter als die lauteste Musik überhaupt beworben wurde. Diskographisch ist Leifs allerdings vergleichsweise sehr gut abgedeckt, was so für Páll Ísólfsson (1893-1974), den Begründer der Musikschule Reykjavík, mitnichten gilt. Bis dahin musste eine Ausbildung zum klassischen Musiker zwingend im Ausland erfolgen, in diesem Falle in Leipzig. Anders als Leifs kehrte Ísólfsson nach Beendigung seines Studiums in seine Heimat zurück und wirkte dort nicht nur als Direktor der besagten Reykjavíker Musikschule (1930-1957), sondern war daneben auch Leiter der Musikabteilung des Isländischen Rundfunks (1930-1959) und Organist der Domkirche zu Reykjavík (1939-1968). Die Komponistin Jórunn Vidar (1918-2017) konnte aufgrund der Pionierarbeit Ísólfssons dann als Vertreterin der nächsten Generation isländischer Musikschöpfer bereits am Konservatorium der Landeshauptstadt ihre Studien beginnen.

Das Label Chandos bringt nun eine hochinteressante Scheibe auf den Markt (CHSA 5319), die sich der Musik von Ísólfsson und Vidar annimmt. Es zeichnet, idiomatisch astrein, verantwortlich das Isländische Sinfonieorchester unter der Leitung des britischen Dirigenten Rumon Gamba.

Jeweils zwei Werke der beiden Komponisten wurden berücksichtigt, im Falle von Ísólfsson zwei Bühnenmusiken aus den 1940er Jahren. Die Schauspielmusik zum Drama Das Fest auf Solhaug von Henrik Ibsen (1943) entstand mitten im Zweiten Weltkrieg unter denkbar schwierigen Bedingungen. Obwohl Reykjavík seinerzeit bloß um die 40.000 Einwohner hatte, gelang es, eine eigene Theatergruppe, ein Orchester und das notwendige Publikum dafür zu mobilisieren. Es war als Akt der Solidarität für das deutsch besetzte Norwegen zu verstehen. Die fünfsätzige Bühnenmusik, die einer Suite ähnelt, besteht aus einer Ouvertüre, einem Hochzeitsmarsch, einem norwegischen Volkstanz, dem Portrait eines Bergkönigs und einem abschließenden Trauermarsch und kommt auf eine Länge von einer knappen Viertelstunde. Die Schauspielmusik für Aus Jónas Hallgrímssons Bilderbuch (1945) war gar noch ehrgeiziger und trug patriotischere Züge, war doch die Loslösung Islands von der Krone Dänemark im Vorjahr erfolgt. Der isländische Poet Jónas Hallgrímsson (1807-1845) gilt in seinem Heimatland als Nationalheld. Die Bühnenmusik ist in diesem Falle für bloßes Streichorchester gesetzt, daher leichtgewichtiger, dauert ebenfalls knapp 14 Minuten und umfasst sechs Sätze: ein Vorspiel, einen Marsch, ein Menuett, ein Volkslied sowie abschließend ein Paar isländischer Volkstänze. Wer den gewöhnungsbedürftigen und zuweilen enervierenden Tonfall Leifs‘ im Ohr hat, wird mit Freude feststellen, dass Ísólfsson sich einer deutlich gemäßigteren und letztlich gefälligeren, mehr in der Nachfolge Griegs stehenden musikalischen Sprache bedient, die authentisches Lokalkolorit aufweist.

Jórunn Vidar ist mit Ballettmusik vertreten, zum einen Eldur (Feuer) von 1950, eine knapp zehnminütige Komposition, bei der nach den Worten des Komponisten folgende Bilder in den Sinn kommen: „lodernde Freudenfeuer, Stichflammen, Fanale, Fackeln, Glut, Asche“. Das Feuer, zu Beginn durch einen Feuerstein entfacht, durchläuft verschiedene Phasen, erlischt zwischenzeitlich auch, nur um letztlich wieder aufzuflammen und alles zu verschlingen. Das Ballett wurde zusammen mit der Tänzerin Sigrídur Ármann konzipiert und gelangte als erstes Ballett des neuen Nationaltheaters von Reykjavík auf die Bühne. Dasselbe Team Vidar/Ármann schuf zwei Jahre später auch Ólafur Liljurós, ein Handlungsballett nach einer im Norden sehr geläufigen Volksballade. Diese handelt von Ólafur, der vier Elfinnen begegnet und von diesen betört wird, ihnen aber widersteht und an seinem Gott (in einer Version Christus) festhalten will. Schließlich ringt eine Elfe dem Helden einen Kuss ab, währenddessen sie ihm indes ein zuvor verstecktes Schwert ins Herz stößt. Die kunstvolle Ballettmusik ist etwa halbstündig und untergliedert sich in acht Nummern. Auch die Tonsprache Vidars ist tonal, allenfalls dezent modern und insofern hörbar der Tradition verpflichtet, wobei man durchaus eine Vorbildwirkung gerade Ísólfssons heraushören kann.

Der künstlerische Wert dieser Produktion darf geflissentlich als auf höchstem Niveau bezeichnet werden. Klanglich lässt die Einspielung zudem keine Wünsche offen und liegt neben der gewöhnlichen CD-Spur auch im hochauflösenden SACD-Format, sowohl stereophon als auch als Mehrkanalton, vor (Aufnahme: Eldborg, Harpa, Reykjavík, 13.-15. Juni 2022). Die Textbeilage fällt labeltypisch vorbildlich aus (Einführungstext von Paul Griffiths auf Englisch, Deutsch und Französisch). Insgesamt eine echte Bereicherung für Freunde nordeuropäischer Musik, die Neuentdeckungen aus der Peripherie gegenüber aufgeschlossen sind (13. 03. 23). Daniel Hauser