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Jubiläumsbox

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Stellt man die Frage, welches das älteste noch existierende Orchester der Welt ist, bedarf es schon fortgeschrittener Kenntnisse der Materie, um korrekterweise die Königliche Kapelle Kopenhagen – dänisch kurzum Det Kongelige Kapel und international The Royal Danish Orchestra – zu benennen. Bis auf das Jahr 1448 gehen ihre Wurzeln zurück und sind in den Kontext der sogenannten Kalmarer Union (Dänemark-Norwegen-Schweden) einzuordnen. So kommt es, dass man im vorigen Jahr das bereits 575. Jubiläum begehen konnte. Anlass genug für Naxos Denmark (das bisher wenig sichtbar in Erscheinung getreten ist), eine Jubiläumsbox auf den Markt zu bringen (8.574650-53).

Gewidmet ist die Kassette – wen sollte es groß wundern – Dänemarks berühmtesten und angesehensten Komponisten, nämlich Carl Nielsen (1865-1931). Dieselbe Generation wie Jean Sibelius und Gustav Mahler, genießt Nielsen in seinem Heimatland bis heute anhaltende Verehrung. Konkret hat sich Naxos sinnigerweise seiner sechs Sinfonien angenommen, die in Einspielungen zwischen 1965 und 2022 inkludiert wurden.

Zumindest zwei dieser Aufnahmen waren zumindest dem Nielsen-Sammler bereits geläufig: Die Dritte (Sinfonia espansiva) von 1965, somit die älteste der Produktionen (und gleichwohl glücklicherweise in klanglich schon sehr brauchbarem Stereo), wird von niemandem Geringeren als Leonard Bernstein dirigiert. Als Solisten fungieren die Sopranistin Ruth Guldbæk und der Tenor Niels Møller. Es hieße Eulen nach Athen tragen, lobte man Bernsteins künstlerische Leistung. Er war einer der ersten Dirigenten von Weltrang, die eine erkennbare Faszination für den dänischen Komponisten aufbrachten und spielte zumindest die Sinfonien Nr. 2 bis 5 für CBS ein. Eben diese CBS-Platte wurde für die neue Box lizenziert, eine gute Wahl. Ebenfalls ein alter Bekannter ist die Einspielung der sechsten Sinfonie (Sinfonia semplice) unter dem Dirigat von Paavo Berglund. Sie ist dessen ein wenig unter Wert gehandeltem Zyklus von 1988/89 entnommen, der seinerzeit bei RCA herauskam und folglich nun ebenfalls in Lizenz neu aufgelegt wird. Ein paar Jahre nach dieser Einspielung wurde Berglund zum Chefdirigenten der Königlichen Kapelle berufen und sollte es fünf Jahre, bis 1998, bleiben.

Dass man für zwei der weiteren Sinfonien wiederum auf ehemalige Chefdirigenten des Orchesters setzte, ist gewiss eine sinnige Entscheidung des Labels. Erfreulich zudem, dass hierfür bis dato unveröffentlichte Tondokumente zum Zuge kamen. Zunächst die Fünfte (Aufnahme: 2015) unter Michael Boder, Orchesterchef von 2012 bis 2016 und tragischerweise völlig unerwartet im April 2024 verstorben. Trotz bedeutsamer Konkurrenz – diese Sinfonie wurde häufig eingespielt – kann sie sich problemlos im Spitzenfeld behaupten. Die zweite Sinfonie (Die vier Temperamente), welche zu Nielsens ausgefallensten Schöpfungen gehört, steuert Alexander Vedernikov, Chefdirigent von 2018 bis zu seinem Covid-bedingten Ableben im Oktober 2020, bei. Tatsächlich handelt es sich um Vedernikovs letztes Konzert, keine zwei Monate zuvor. Die Lesart ist, aus heutiger Sicht beinahe unheimlich, auch im melancholischen dritten Satz erstaunlich lebensbejahend.

Mit Thomas Søndergård setzte man bei der Sinfonie Nr. 1, aufgenommen 2022, auf einen profunden Kenner der nordeuropäischen Sinfonik. Die vielleicht größte Überraschung und sozusagen das Highlight dieses dänischen Zyklus stellt allerdings die Interpretation der Vierten (Das Unauslöschliche) dar. Als Gastdirigent konnte, man höre und staune, Sir Simon Rattle, zum Zeitpunkt dieses Live-Mitschnitts des Dänischen Rundfunks (2013) noch künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker, engagiert werden. Und ohne Frage, der sehr zupackende Zugriff, der sich hörbar auf das Orchester übertrug, förderte eine Höchstleistung zutage (man beachte das „Paukenduell“ im Schlusssatz).

Als Bonus deklariert, findet man auf einer weiteren CD noch das Klarinettenkonzert, Solist: John Kruse, das aus derselben Konzertaufführung wie Die vier Temperamente stammt und folglich ebenfalls von Vedernikov dirigiert wird. Beschlossen wird die Disc mit der Ouvertüre zur Oper Maskarade (2006) unter der Leitung von Michael Schønwandt, die Übernahme einer Dacapo-Einspielung; dergestalt kommt auch noch dieser ehemalige Chefdirigent der Königlichen Kapelle (2000 bis 2011) zum Zuge.

Das Beiheft ist umfangreich, beleuchtet die Geschichte des Klangkörpers und die Bedeutung Nielsens für denselben und ist, neben dem in diesem Zusammenhang naheliegenden Dänisch, zumindest auch in englischer Sprache abgedruckt. Zwar nicht die erste Wahl für einen Nielsen-Zyklus, aber insgesamt doch eine gelungene Erweiterung der mittlerweile recht breit aufgestellten Diskographie. Daniel Hauser

Benjamin Luxon

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Geboren am 24. März 1937 in Redruth, Cornwall, begann die Karriere des englischen Baritons Benjamin Luxon bereits in jungen Jahren. Nach einem Studium an der Guildhall School of Music and Drama wurde man auf den aufstrebenden Sänger erstmals aufgrund seines Gewinns des 3. Preises beim Internationalen Musikwettbewerb der ARD im Jahre 1961 aufmerksam. Wenig später war er bereits Teil der English Opera Group von Benjamin Britten und nahm 1963 an der Tournee in die Sowjetunion teil, wo er den Sid in Albert Herring sowie den Tarquinius in The Rape of Lucretia sang. Britten schnitt 1971 gar die Titelrolle seines Owen Windgrave speziell auf Luxon zu. Spätestens Anfang der 1970er Jahre durfte dieser sich zu den renommiertesten Vertretern seines Stimmfachs zählen, debütierte 1972 am Royal Opera House, Covent Garden, sowie beim Glyndebourne Opera Festival, wo er die Titelpartie in Monteverdis Ulisse zum Besten gab. Für zwei Jahrzehnte (1976-1995) gehörte Luxon sodann zum regelmäßigen Gast in Boston sowie beim dazugehörigen Tanglewood Festival, wo er u. a. in Beethovens Neunter, Bachs Matthäus- und Johannes-Passion, Tschaikowskis Eugen Onegin, Brahms‘ Deutschem Requiem, Dvořáks Stabat Mater und Mahlers Achter für Furore sorgte. Debüts an weiteren bedeutenden Häusern unterstrichen Luxons Ansehen: 1974 an der English National Opera, 1980 an der New Yorker Met, 1986 an der Mailänder Scala sowie 1987 am Grand Théâtre in Genf waren nur einige dieser Stationen. Obschon weltweit angesehen, hielten sich die Auftritte Luxons im deutschsprachigen Raum in Grenzen. So konnte man ihn an der Wiener Staatsoper einzig im Jahre 1993 als Falstaff in der gleichnamigen Verdi-Oper live unter Seiji Ozawa erleben, mit dem ihn bereits eine enge Zusammenarbeit seit der Bostoner Zeit verband. Wie schon angedeutet, war Luxons Repertoire aber bedeutend vielfältiger und keineswegs einzig auf die Oper beschränkt. Angefangen bei der Alten Musik über das Kunstlied und Zeitgenössisches bis hin zur Volksmusik kannte er keine Berührungsängste, was ihm eine außerordentliche Popularität eintrug. Bei den BBC Proms gehörte er über viele Jahre gleichsam zum Inventar, trat dort erstmals 1965 und letztmalig 1994 in Erscheinung und war nicht weniger als viermal Teil der berühmten Last Night of the Proms (1974, 1976, 1982, 1988), wobei insbesondere seine 1982er Darbietung des Rule, Britannia! in der von Sir Malcom Sargent arrangierten Monumentalfassung in Erinnerung bleiben sollte. Im selben Jahr gewann Großbritannien den Falklandkrieg und entsprechend patriotisch die Stimmung in der Royal Albert Hall. 1986 wurde Luxon von Königin Elizabeth II. zum Commander of the Order of the British Empire erhoben. Seine Diskographie umfasst mehr als hundert Einspielungen. In den frühen 1990er Jahren führte ein beginnender Hörverlust zum allmählichen Rückzug des Sängers, der seine späten Jahren in den Berkshire Mountains im US-Bundesstaat Massachusetts verlebte. Dort ist Benjamin Luxon nun am 25. Juli 2024 im Alter von 87 Jahren verstorben. Daniel Hauser

Noch eine „Romantische“

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Bruckner-Zyklen gibt es viele, darunter nicht wenige gute, und ihre Zahl hat sich zumal in letzter Zeit noch einmal gesteigert (Jubiläumsjahr). Und doch stechen einige besonders heraus. Die Akribie, mit der sich Gerd Schaller und „sein“ Label Profil/Hänssler der diskographischen Erschließung des sinfonischen Schaffens Anton Bruckners widmen, ist in seiner Breite ohne Frage bewundernswert. Oberflächlich mag man sich bei der jetzigen Neuerscheinung (PH23086) fragen: Schon wieder die Vierte? Gab es die nicht bereits? Und die Antwort lautet sowohl ja als auch nein. Zum einen ja, denn tatsächlich spielte Schaller mit der Philharmonie Festiva besagte Sinfonie Nr. 4 alias die Romantische, bis heute eine der beliebtesten und vermutlich auch die am häufigsten aufgeführte, schon mehrfach ein: Bereits 2007 in der gängigen Fassung von 1878/80/Edition Nowak (PH11028), sodann 2013 wiederum in dieser Fassung, allerdings mit dem sogenannten „Volksfest-Finale“ (PH13049), und zuletzt 2021 in der Erstfassung von 1874/Edition Nowak (PH22010). Allerdings auch nein, weil die jetzige Neuaufnahme die Letztfassung von 1888 enthält, editiert von Benjamin Korstvedt. Nichtbrucknerianer werden sich nun vielleicht denken: Braucht’s das? Und sogar manch ein Bruckner-Enthusiast mag darob insgeheim schmunzeln. Fakt ist allerdings schon, dass diese Korstvedt-Edition, die vor 20 Jahren entstand, bis heute relativ selten eingespielt wurde. Den Anfang machte 2005 der Japaner Akira Naito (Delta Classics), gefolgt von Osmo Vänskä (BIS, 2009), Franz Welser-Möst (Arthaus, 2012), Jakub Hrusa (Accentus, 2020), Remy Ballot (Gramola, 2021) und Markus Poschner (Capriccio, 2021). Wie man sieht, erst in jüngster Zeit eine gewisse Häufung. Und in der Tat, Gerd Schallers Lesart liefert neue Aspekte. Das liegt schon einmal an den vergleichsweise flotten Tempi. Mit 59 Minuten Gesamtspielzeit unterbietet er den bisherigen Rekordhalter Poschner noch einmal um zwei Minuten. Ballot benötigt, gleichsam „celibidachesk“, sage und schreibe über 19 Minuten mehr als Schaller. Gerade im langsamen Satz nimmt Schaller die Tempobezeichnung Andante genauer als alle anderen, denn es ist eben kein Bruckner-typisches Adagio. Ein frischer Zugang, der sich in den übrigen Sätzen nicht weniger widerspiegelt. Naturgemäß fällt der Tempounterschied im Scherzo zwischen den verschiedenen Interpretationen am geringsten aus, stets zwischen neun- und knapp zehnminütig; einzig Ballot kommt auch hier auf elf. Im Booklet (auf Deutsch und Englisch) einmal mehr ein informatives Interview mit dem Dirigenten. Keiner der vielen Fassungen will Schaller einen eindeutigen Vorzug geben. Da spricht der profunde Kenner. Die schon traditionell sehr gut eingefangenen Produktionen des Bayerischen Rundfunks – Studio Franken lassen klanglich kaum zu wünschen übrig, was auch am erwiesenermaßen adäquaten Aufnahmeort, der Klosterkirche Ebrach, liegt (Aufnahme: 20. August 2023). Die Philharmonie Festiva kann es in Sachen Bruckner-Exegese problemlos mit berühmteren Klangkörpern aufnehmen und brilliert in allen Gruppen. Kurzum: Empfehlung obligatorisch. Daniel Hauser

Ruy Coelho

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Obwohl er mehr als zwanzig Opern komponierte und Portugal endgültig eine Nationaloper in eigener Sprache gab, in seinem Heimatland eine genuin portugiesische Variante des Kunstlieds etablierte, in der Orchestermusik Werke in den Dimensionen Gustav Mahlers schuf und auch in anderen Genres der klassischen Musik über ein halbes Jahrhundert außerordentlich präsent war, ist Ruy Coelho (1889-1986) heute nahezu vergessen – oder wird bewusst totgeschwiegen. Wiewohl seine kontroverse Beziehung zum diktatorischen Regime Estado Novo mit den spezifisch portugiesischen autoritären Elementen nicht von der Hand zu weisen ist, rechtfertigt seine künstlerische Bedeutung die eingehendere Beschäftigung mit diesem Komponisten.

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Der Komponist Ruy Coelho, ca. 1911/Wikipedia

Denkt man an die Iberische Halbinsel, so nimmt Spanien rein quantitativ mit nahezu 85 Prozent das Gros der Fläche ein. Portugal kommt lediglich auf etwas über 15 Prozent und hat mit etwa 10 Millionen Einwohnern auch nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung Spaniens vorzuweisen. Gleichwohl wäre es gewiss falsch, die landläufig nach wie vor verbreitete Meinung zu vertreten, Portugal sei nichts weiter als ein Anhängsel Spaniens. In musikalischer Hinsicht zeigen sich freilich ähnliche Charakteristika, fiele es doch vermutlich auch fortgeschrittenen Musikliebhabern aus dem Stegreif schwer, auch nur drei bedeutende portugiesische Komponisten zu benennen. Ist bereits die spanische Oper weitestgehend ein randständiges Thema – sieht man einmal vom Sonderfall des nicht exakt in den westeuropäischen Kanon einzuordnenden Genres der Zarzuela ab –, so gilt dies in noch weitaus stärkerem Maß für das portugiesische Musiktheater. In diesem Zusammenhang scheint ein Blick in die Geschichte notwendig, um die größeren Zusammenhänge zumindest in groben Zügen aufzuzeigen.

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Die Gattung der Oper, die sich unstrittig in Italien entwickelte und deren Anfänge man auf um 1600 datieren kann, entfaltete im Laufe des 17. Jahrhunderts eine ungemeine Attraktivität auch in den angrenzenden Ländern, insbesondere in Frankreich. Während sich die Anfänge einer spanischsprachigen Oper bereits in die Regierungszeit Felipes IV. (reg. 1621-1665) datieren lassen – der bis 1640 in Personalunion als Filipe III. auch noch König von Portugal war (die sogenannte, von 1580 bis 1640 währende und schließlich von den Portugiesen wieder abgeschüttelte Iberische Union) –, findet man in Portugal erste nennenswerte Ansätze zur Etablierung einer eigenen und eigensprachlichen Operntradition erst unter João V. (reg. 1706-1750), teilweise als der portugiesische Sonnenkönig bezeichnet. Ganz sicher war der italienische Einfluss lange Zeit übermächtig, was sich bereits darin zeigt, dass sich beinahe sämtliche portugiesische Opern im 18. und auch im 19. Jahrhundert italienischsprachiger Libretti bedienten.

Ruy Coelho: „Serão da Infanta“ im Teatro São Carlos, Lissabon, 1913/Wikipedia

Als bedeutende Opernkomponisten Portugals wären in diesem Zusammenhang vor allem Francisco António de Almeida (1702-1755), Pedro António Avondano (1714-1782), João de Sousa Carvalho (1745-1798) und Marcos Portugal (1762-1830) zu nennen. Eine interessante Ausnahme stellt António Teixeira (1707-1769) dar, der zwischen 1733 und 1739 mehrere Singspiele bzw. Marionettenopern in portugiesischer Sprache komponierte (die meisten leider verloren), darunter zwei auf Texte des brasilianisch-stämmigen Marranen António José da Silva (1705-1739), bekannter als O Judeu, der, von der Inquisition verurteilt, tragischerweise auf dem Scheiterhaufen endete (As Variedades de Proteu von 1737 wurde vom Label Portugalsom tatsächlich eingespielt). Das Erdbeben von 1755, welches Lissabon zu erheblichen Teilen in Schutt und Asche legte und einen unwiederbringlichen Kulturverlust darstellt, konnte den Siegeszug der Oper nur zeitweilig bremsen. Dafür stehen die in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts eröffneten beiden großen und bis heute tonangebenden Opernhäuser São Carlos in Lissabon (1793) und São João in Porto (1798).

Noch im 19. Jahrhundert waren portugiesische Opern in italienischer Sprache üblich. Mit Francisco dos Santos Pinto (1815-1860) und Francisco de Sá Noronha (1820-1881) gab es ab der Jahrhundertmitte zaghafte Ansätze, portugiesischsprachige Opern und Operetten etablieren zu wollen. Besonders Augusto Machado (1845-1924) verfolgte die Absicht, einen nationalen portugiesischen Typus gerade der Operette zu schaffen, doch blieben die französischen und italienischen Vorbilder unverkennbar.

Ruy Coelho als Dirigent/YouTube

Wie übermächtig das Italienische war, lässt sich auch anhand des zeitgenössischen Falls von Carlos Gomes (1836-1896), der heute als Schöpfer der brasilianischen und eben portugiesischsprachigen Nationaloper gilt, aufzeigen. Einzig seine beiden frühesten Opern A Noite do Castelo (1861) und Joanna de Flandres (1862) bedienten sich des Portugiesischen, diejenigen danach – darunter seine erfolgreichste, Il Guarany (1870) – kehrten, trotz teils betont nationaler Thematik, zur italienischen Sprache zurück, nicht zuletzt, um an der Mailänder Scala überhaupt ernst genommen zu werden. Es blieb Alfredo Keil (1850-1907), dem Schöpfer der portugiesischen Nationalhymne A Portuguesa, der deutsche Wurzeln hatte, vorbehalten, mit Serrana 1899 die bis heute populärste Oper in portugiesischer Sprache, die längst im Rang einer Nationaloper steht, zu komponieren (vergleiche den Artikel in der Serie Die vergessene Oper). Aber selbst Serrana wurde zunächst in italienischer Übersetzung uraufgeführt und gelangte erst 1909, zwei Jahre nach Keils Ableben, im Original auf die Bühne. 1907 verstorben konnte er die weitere Entwicklung nicht mehr mitgestalten.

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So bietet sich auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach wie vor ein zwiespältiges Bild, wenn es um eine nationale Operntradition Portugals in der eigenen Landessprache geht. Diesen Umstand endgültig im Sinne einer patriotischen, originär portugiesischen Erneuerung umzulenken blieb die selbstgesetzte Lebensaufgabe eines anderen Komponisten, dessen Vita beinahe ein ganzes Jahrhundert umspannt: Ruy Coelho (1889-1986), eine der heute unbekannten Persönlichkeiten in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts.

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Ruy Coelho schrieb die Film-Musik für „Camões“, 1946/Poster/IMDb

Am 3. März 1889 in Alcácer do Sal, an der Küste des Alentejo und knapp 100 km südlich von Lissabon gelegen, als Sohn eines Fährmanns geboren, studierte Coelho – dank des Geschäftsmanns und Amateurgeigers Jorge Yerosch, Inhaber einer Handelsniederlassung in Lissabon – zwischen 1904 und 1909 zunächst am Lissabonner Konservatorium Klavier, Komposition, Flöte und Kontrapunkt. Seine früheste Ouvertüre ist bereits von 1907. Zwei Jahre später ging er nach Berlin und begann ein Kompositionsstudium bei Engelbert Humperdinck, dem sich wenig später eines der Analyse bei Max Bruch anschloss. In Berlin hörte der junge Coelho u. a. Straussens Salome und Wagners Parsifal, der seit 1914 nach Ablaufen der Urheberrechte auch außerhalb von Bayreuth aufgeführt werden konnte. Ein Kommilitone aus der Humperdinck-Klasse war übrigens der Baske Andrés Isasi (1890-1940), der sich später für einen nationalistisch aufgeladene baskische Oper stark machte (auch wenn er nie eine solche komponierte).

Ein erstes bedeutendes Orchesterwerk, die Ballettmusik Die Prinzessin mit den eisernen Schuhen (Einspielung bei Portugalsom), entstand 1912 noch in Berlin. Zwischenzeitlich war in Portugal die Monarchie gestürzt und die Republik ausgerufen worden (1910). Wohl begeistert von Teófilo Braga (1843-1924), den portugiesischen Schriftsteller und zweimaligen Staatspräsidenten (1910/11 und 1915), kam Coelho verstärkt in Berührung mit der Ideologie, Portugal erlebe eine Phase der Dekadenz und solle sich auf seine heroische Vergangenheit berufen.

Ruy Coelho schrieb die Film-Musik für „Camões“, 1946/Szene daraus/IMDb

Der legendäre portugiesische Nationalpoet Luís de Camões (1524-1580), Schöpfer der Lusiaden (und Bariton-Held in Donizettis Dom Sébastien), stand wie kein anderer für die „goldene Epoche“ des kolonialen Portugals mit ihrer weltumspannenden maritimen Größe und wurde somit zum Fixstern auch für Coelho, dessen Glaube an eben diese neue Ideologie unerschütterlich wurde. „Sehen Sie nicht, dass Portugal nach Wagners Tetralogie der Erde unweigerlich die Tetralogie des Meeres schaffen wird?“, schrieb er damals. Die Beschäftigung mit der Camões-Thematik erscheint daher folgerichtig. (Darin ähnlich wie in Italien der aufkommende Faschismus, am 23. März 1919 als Fasci italiani di combattimento gegründet, der sich auf die einstige Glorie Roms besann und die römische Liktorenbündelung, die Faszien, zur Namensgebung nahm. Auch Komponisten wie Italo Montemezzi und Pietro Mascani waren dagegen nicht immun. – In Spanien verlegte sich Francisco Franco auf die Förderung der volkstümlichen Zarzuela als nationale Eigenart.)

Ruy Coelho verehrte den portugiesischen Dichter Luis de Camões/der liegt, wie hier abgebildet, im Mosteiro dos Jerónimos, Lissabon/Wikipedia; Camões taucht zudem bereits vor Coelho in musikalischem Zusammenhang auf, so zum Beispiel in Donizettis Oper „Dom Sébastien“, Paris 1842, und in Flotows Pariser Operette „Indra – L’Esclave de Camoëns“, 1843

Coelhos Symphonia Camoneana (teils Sinfonia Camoniana geschrieben), die in ihrer chorsinfonischen Monumentalität gewiss auch durch die von ihm erlebte Berliner Erstaufführung von Mahlers Sinfonie der Tausend angeregt wurde, offeriert interessanterweise tatsächlich gerade Einflüsse Arnold Schönbergs, bei dem er zudem Unterricht genommen hatte. Die Uraufführung eben jener Symphonia Camoneana am 13. Juni 1913 im Lissabonner Teatro São Carlos, kurz nach Coelhos Rückkehr nach Portugal, führte zu einem mittleren Skandal, verstörte ihr gewagter Tonfall die Kritiker doch überwiegend.Dieser künstlerische Misserfolg seiner megalomanischen Sinfonie führte nun allerdings dazu, dass sich Coelho dem Operngenre zuwandte. Mit Serão da Infanta stellte er den portugiesischen Königshof unter João III. (reg. 1521-1557) in den Mittelpunkt. Das Libretto steuerte niemand Geringerer als eben Teófilo Braga bei. Tatsächlich handelte es sich um die erste portugiesische Oper, die bei ihrer Uraufführung wirklich auf Portugiesisch gesungen wurde. Die Partitur legt nahe, dass sich der Komponist von der avantgardistischen Moderne der Symphonia Camoneana distanzierte; dennoch war dem Werk kein nachhaltiger Erfolg beschieden. Und es gab nur diese einzige Aufführung am 1. Dezember 1913. Infolgedessen begab sich Coelho geradezu fluchtartig zeitweilig nach Paris. Während des Ersten Weltkriegs trat die Oper für Coelho temporär wieder in den Hintergrund, dafür kann er als Schöpfer des portugiesischen Kunstlieds gelten, das mit den Canções de saudade e amor (1917) auf Texte von Afonso Lopes Vieira (1878-1946) einen essentiellen Beitrag erhielt. Bereits davor schuf Coelho die Symphonia Camoneana Nr. 2 (1912-1915), die in ihren Dimensionen zwar hinter die Vorgängerin zurücktrat, zunächst aber zwei Lieder der besagten Canções als Intermezzo enthielt und dadurch ebenfalls einen vokalsinfonischen Charakter besaß. Bei einer 1938 erfolgten Überarbeitung strich er allerdings besagten Liedanteil komplett; in dieser revidierten Form existiert eine Einspielung des Portugiesischen Rundfunks unter der musikalischen Leitung des Komponisten.

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Zur Opernkomposition kehrte Coelho nach dem Ersten Weltkrieg zurück und schrieb zwischen 1919 und 1970 mehr als zwanzig weitere Vertreterinnen dieser Gattung. Die so bezeichnete „Ekloge“ Crisfal (1920) galt seinem Komponistenkollegen Ivo Cruz (1901-1985) als „erste Offenbarung der portugiesischen dramatischen Musik“. Mit der dreiaktigen Oper Inês de Castro (1927), basierend auf der berühmten tragischen Liebesgeschichte von Kronprinz Pedro von Portugal und seiner galizischen Geliebten Inês, gleichsam Romeo und Julia von Iberien um 1350, kreierte Coelho sein erstes musikdramatisches Großwerk. Wie sich anhand einer als Tondokument auszugsweise festgehaltenen Aufführung im Teatro São Carlos erahnen lässt, gipfelt die Handlung in der von Pedro (jetzt König) anbefohlenen Krönung der zuvor von den Handlangern seines Vaters ermordeten und nun exhumierten Inês zur Königin von Portugal im Kloster von Alcobaça. Die gespenstische Atmosphäre der rührenden Szene, in welcher der gesamte Hofstaat sich genötigt sieht, die Hand der Toten als Zeichen der postumen Ehrerbietung zu küssen, ist durch Coelho und seinen Librettisten António Patricio bezwingend umgesetzt. In Belkiss (1928), einem weiteren Dreiakter, steht die sagenumwobene Königin von Saba im Zentrum. Deren von exotisch anmutenden Klängen begleiteter Einzug in Jerusalem ist ebenfalls als Tonaufnahme überliefert und zeugt von des Komponisten Händchen für überlebensgroßes Pathos.

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In Büchern und Artikeln verteidigte Coelho im Übrigen die auf Portugiesisch gesungene Oper, da er der Ansicht war, dass Opern, ähnlich wie in Deutschland, Frankreich und England, in der jeweiligen Landessprache gesungen werden sollten. Das Gegenteil bezeichnete er als schädlich für die Interessen der Kunst und der Öffentlichkeit, die dann nicht wirklich verstehe, was sie sehe und höre.

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Betrachtet man das Œuvre Ruy Coelhos, so fällt gerade auch die quantitative Fülle desselben auf. Neben den genannten über zwanzig Opern komponierte er drei Oratorien, weltliche Chormusik, Lieder, beinahe zwanzig Ballettmusiken, mehrere Sinfonien (darunter drei weitere Camões gewidmete), Suiten und Tondichtungen, Konzerte für Klavier und Violine, Kammer- sowie Klaviermusik. Nur ein kleiner Teil davon wurde eingespielt, meist unter seiner eigenen Stabführung.

Sucht man nach einem Grund, wieso Ruy Coelho heute außerhalb seines Heimatlandes quasi unbekannt und innerhalb desselben gleichsam totgeschwiegen wird, so wird man unweigerlich auf den Estado Novo (Neuer Staat), die portugiesische Diktatur von 1926/33 bis 1974, zu sprechen kommen. Tatsächlich gibt es gute Gründe, ihn zumindest als den halboffiziellen Komponisten dieses Regimes zu bezeichnen. António de Oliveira Salazar (1889-1970), der Diktator Portugals zwischen 1932 und 1968, war nicht nur derselbe Jahrgang wie Coelho, sondern kann auch als wohlwollender Gönner des Künstlers betrachtet werden. Salazar, anders als Franco und Mussolini ein Intellektueller und genuiner Professor der Volkswirtschaft, erkannte die Notwendigkeit, die bis dato weitestgehend ausgebliebene Nationalisierung der portugiesischen Musik voranzutreiben.

Es nimmt nicht wunder, dass sich der Estado Novo das offenkundige Talent Coelhos zunutze machte, welches dieser bereits lange vor dem Militärputsch von 1926 bewiesen hatte. Coelhos eigene Faszination für Themen der portugiesischen Geschichte, Mythologie und Folklore und seine Fähigkeit, diese in überhöhter, idealisierender Weise in Musik zu setzen, prädestinierten ihn geradezu für diese Aufgabe eines musikalischen Unterstützers des Regimes. Mit dem Oratorium Fátima (1931), abermals zu einem Text von Lopes Vieira, griff er die stark verbreitete Volksfrömmigkeit infolge des gleichnamigen Wunders und zugleich das Wiedererstarken der katholischen Kirche auf, die bereits in den letzten Dekaden der Monarchie und insbesondere unter der demokratischen Republik stark in Bedrängnis geraten war und daher den Wechsel zum Salazarismus ganz überwiegend begrüßte.

Ruy Coelho: „Belkiss“ im Coliseu de Lisboa, 1938/Glosas

Mit der Ballettmusik Dom Sebastião (1943) setzte er Portugals als tragisch empfundenem Herrscher (reg. 1557-1578), der mitsamt des größten Teils seiner Armee bei einem Kreuzzug in Marokko unterging und später in Form des Sebastianismus zur messianischen Sehnsuchtsfigur der Nation verklärt wurde, ein apotheotisches Tongemälde.

Die in einem portugiesischen Fischerdorf angesiedelte Oper Tá-mar (1936) bediente gleichsam die von Salazar so geliebte rurale Romantik mit Themen der einfachen Menschen abseits des dem Machthaber von Grund auf verdächtigen urbanen Raums.

Schließlich Dom João IV (1940), eine Art offizielle Festoper zum 300. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit von Spanien, als der Herzog von Bragança im Zuge einer nationalen Erhebung zu eben jenem König João IV. proklamiert wurde.

Für die vom Regime propagierten Filme Ala-Arriba! (1942), Camões (1946) und Rainha Santa (1947) steuerte Coelho die Filmmusik bei.

Ruy Coelho schrieb die Film-Musik für „Ala-Arriba“, 1942/CinePT

Trotz seiner zweifelsfreien Bedeutung für das Regime hatte Ruy Coelho, anders als seine landläufig als politisch unbelastet geltenden Komponistenkollegen José Vianna da Motta (1868-1948) und Luís de Freitas Branco (1890-1955), keine offiziellen Ämter inne. (Nicht ganz zu unrecht weist Coelhos Enkel Rui Ramos Pinto Coelho auf diese Diskrepanz hin.) Es ist zwar richtig, dass er 1939 auf Einladung das Orchester des Reichssenders Berlin ebendort dirigierte und während der Gastspiele der Berliner Philharmoniker in Portugal in den Jahren 1942 (unter Clemens Krauss) und 1943 (unter Hans Knappertsbusch) sogar ans Dirigentenpult derselben gebeten wurde. Allerdings ist es genauso zutreffend, dass seine eigenen Werke 1939 auch in London und Brüssel und zwei Jahre zuvor in Paris aufgeführt wurden.

All dies hielt man Ruy Coelho nach der Nelkenrevolution von 1974 freilich vor. Zwar verschwand der damals bereits 85-Jährige nicht sofort aus dem öffentlichen Leben, doch verblasste sein bis dahin hohes Ansehen innerhalb kurzer Zeit. Seine Werke verschwanden noch zu seinen Lebzeiten sukzessive von den Spielplänen der Opern- und Konzerthäuser, die sie ein halbes Jahrhundert davor geprägt hatten.

Und von nennenswerten Schallplattenaufnahmen kann seither auch nicht mehr die Rede sein. (Das Gros der Tondokumente befindet sich im Übrigen im Archiv des Portugiesischen Rundfunks RTP.) Selbst in musikalischen Nachschlagewerken erfolgte eine Relativierung unbestreitbarer Verdienste. Kritische Stimmen wie der kommunistische Komponist Fernando Lopes-Graça (1906-1994), nach dem Umbruch hofiert wie kein anderer, sorgten für eine pauschale Destruktion Coelhos und seines Werkes („Musik für Milchmänner, Fischhändler, Polizisten, Suppenköche, Karrenfahrer und Fado-Sänger“; immerhin gab derselbe Lopes-Graça etwas kleinlaut zu, als junger Mann selbst bei der Uraufführung der Inês de Castro begeistert applaudiert zu haben). Als Ruy Coelho am 5. Mai 1986 im biblischen Alter von 97 Jahren in Lissabon starb, war er längst zur persona non grata geworden.

Ruy Coelho schrieb auch die Film-Musik für „Rainha Santa“, eine portugiesisch-spanische Koproduktion (span. „Reina Santa“), 1947/Filmaffinity

Gewiss ist diese faktische damnatio memoriae – so sehr eine Distanzierung von Ruy Coelho nach dem Ende des Estado Novo seinerzeit auch geboten erschienen sein mag – aus künstlerischer Sicht bedauerlich und lässt sich zumal 50 Jahre nach dem demokratischen Umbruch in Portugal in dieser Schärfe auch nicht mehr nachvollziehen. Der von Coelho eingeschlagene Sonderweg, an dem er trotz Kenntnisnahme der musikalischen Hauptströmungen in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts festhielt, rechtfertigt, ihn nicht nur als den eigentlichen Initiator einer portugiesischen Nationaloper, sondern ihm auch auf dem Gebiet weiterer musikalischer Genres wie des Oratoriums, des Kunstlieds, der Ballettmusik, der Orchestermusik und nicht zuletzt der Filmmusik eine wichtige nationale Bedeutung zuzumessen.

Jüngste Entwicklungen wie die Coelho gewidmete, nüchtern-sachlich argumentierte Dissertation des Musikwissenschaftlers Edward Luiz Ayres de Abreu sind zumindest ein gewisser Hoffnungsschimmer, dass der Musiker Ruy Coelho doch noch eine späte künstlerische Rechtfertigung erhält. Daniel Hauser

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Quellen: Edward Luiz Ayres de Abreu, Ruy Coelho (1889-1986): o compositor da geração d’Orpheu, Lissabon 2014; Rui Ramos Pinto Coelho, Ruy Coelho: a personalidade e a obra, in: Glosas, Mai 2010deutschsprachiger Wikipedia-Artikel 

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Ruy Coelho: Szene aus „Ala-Arriba“, 1942/MUBI

Zum Hören gibt es bei YouTube einiges, hier eine Auswahl: „Am Quell von Inês‘ Liebe“ aus der Symphonia Camoneana Nr. 2; Ballettmusik „Dom Sebastião“; Finale des 1. Akts aus „Inês Pereira“; Luís de Camões zitiert vor König Sebastião aus den „Lusiaden“ (Spielfilm „Camões“); den Spielfilm „Ala-Arriba“ von 1942; ebenfalls den Film „Camões“ von 1946 und vieles mehr.

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Diskographie (wenn nicht anders angegeben, unter musikalischer Leitung des Komponisten): A bela dama sem pecado, Parabel (Archiv RTP) A Princesa dos sapatos de ferro, Ballettmusik, Dir.: Silva Pereira (CD Portugalsom PS 5012) Álbum para a Juventude Portugueza, Klavier: Bernardo Santos ( Digital MPMP Melographia Portugueza 29) Alcácer, Tondichtung (Archiv RTP) Alfama, Ballettmusik (Archiv RTP) Auto da barca do inferno, Oper (Archiv RTP) Auto da barca da glória, Oper (Archiv RTP) Belkiss, Oper: Arie der Belkiss, Der Einzug der Belkiss in Jerusalem (LP Ruysta RU 012) Canções de concerto, Sopran: Maria Justina de Aldrey (LP Aldrey 6806 001) Canções folclóricas portugesas, Sopran: Maria Justina de Aldrey (LP Aldrey 6806 001) Canções populares portugesas, Sopran: Maria Justina de Aldrey (Archiv RTP) Chegada dos portugueses à Índia, Festouvertüre (Archiv RTP) Crisfal, Oper: Maria und die Novizinnen im Garten des Klosters Lorvão (LP Ruysta RU 012) D. João IV, Oper: Die Glocken von Lissabon (LP Ruysta RU 012) D. Sebastião, Ballettmusik (Archiv RTP) Fantasia portuguesa für Violine und Orchester, Violine: Vasco Barbosa, Dir.: Frederico de Freitas (Archiv RTP) Fátima, Oratorium: Unsere Liebe Frau erschien, Die Pilger (LP Ruysta RU 012)

Zu Ruy Coelho: Pierre-Charles Comte, „Die Krönung der Inês de Castro“, 1849/Wikipedia

Inês da Castro, Oper: Die Krönung der Inês de Castro im Kloster Alcobaça (LP Ruysta RU 012) Inês Pereira, Oper: Vorspiel, Hochzeitstanz der Inês Pereira, Finale des ersten Akts (LP Ruysta RU 012) Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1, Klavier: Lourenço Varela Cid (Archiv RTP) Largo für 2 Violettas, 2 Celli und Klavier, Ensemble MPMP (Digital MPMP Melographia Portugueza 12) Missa breve a Santa Teresinha (Archiv RTP) No jardim quimérico, Tondichtung (Archiv RTP) Noites na ruas da Mouraria für Klavier und Orchester, Klavier: Lourenço Varela Cid (Archiv RTP) Nuno Alvares, Tondichtung (Archiv RTP) O cavaleiro das mãos irresistíveis, Oper (Archiv RTP) O castelo de Lisboa, Tondichtung (Archiv RTP) Oratória da Paz, Oratorium: Der Einzug Jesu in Jerusalem (LP Ruysta RU 012) Orfeu em Lisboa, Oper (Archiv RTP) Passeios de estio, Suite, Dir.: Silva Pereira (CD Portugalsom PS 5012) Pequena Sinfonia Nr. 2 (Archiv RTP) Promenades Enfantines à Paris, Klavier: Bernardo Santos ( Digital MPMP Melographia Portugueza 29) Rainha Santa, mystische Legende (Archiv RTP) Rapsódia de Águeda, Dir.: Costa Santos (Archiv RTP) Rapsódia de Lisboa (Archiv RTP) Rapsódia Portuguesa für Klavier und Orchester, Klavier: Lourenço Varela Cid (Archiv RTP) Rosas de todo o ano, Oper: Arie der Suzana (LP Ruysta RU 012) Sinfonia Clássica Nr. 2 (Archiv RTP) Sinfonia de Além-mar (Archiv RTP) Sinfonia Henriquina (Archiv RTP) Sinfonie Nr. 2 (Archiv RTP) Sinfonie Nr. 3 (Archiv RTP) Sonatina, Klavier: Bernardo Santos ( Digital MPMP Melographia Portugueza 29)

„Endechas do Choupal, Música de Ruy Coelho sobre os versos de Luiz de Camões para do filme de Leitão de Barros ‚Camões'“, Sassetti & C.ª Editores“/Museu do Fado

Symphonia Camoneana [Sinfonia Camoniana] Nr. 1 (Archiv RTP) Symphonia Camoneana [Sinfonia Camoniana] Nr. 2 (LP Ruysta R 001) Symphonia Camoneana [Sinfonia Camoniana] Nr. 4 (Archiv RTP) Symphonia Camoneana [Sinfonia Camoniana] Nr. 5 de São Paulo (Archiv RTP) Sonate für Violine und Klavier Nr. 1, Vasco u. Grazi Barbosa (CD Portugalsom PS 5012), Alexander Stewart u. Philippe Marques (Digital MPMP Melographia Portugueza 12) Sonate für Violine und Klavier Nr. 2, Vasco u. Grazi Barbosa (CD Portugalsom PS 5012), Alexander Stewart u. Philippe Marques (Digital MPMP Melographia Portugueza 12) Suites Portuguesas Nr. 1-4 (LP Parlophone CPMC 22) Suites Portuguesas Nr. 1-3, Dir.: Jorge Machado (LP Decca SLPDX 533) Tá-mar, Oper: Quartett, Arie der Maria Bem, Ballett der Fischer von Nazaré (LP Ruysta RU 012) Três Prelúdios, Klavier: Bernardo Santos ( Digital MPMP Melographia Portugueza 29) Três Prelúdios Peninsulares, Klavier: Bernardo Santos ( Digital MPMP Melographia Portugueza 29) Trio für Violine, Cello und Klavier op. 3, Ensemble MPMP (Digital MPMP Melographia Portugueza 12) – Triptico de Coimbra, Suite (Archiv RTP) Triptico de Lisboa, Suite (Archiv RTP) (Zusammenstellung Daniel Hauser)

Lando Bartolini

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Am 11. April 1937 in Prato in der Toskana in eine Familie mit fünf Geschwistern geboren, lernte der spätere Tenor Lando Bartolini Akkordeon und arbeitete zunächst im elterlichen Textilbetrieb. Nach seiner Heirat 1966 und seinen Umzug in die Vereinigten Staaten verdingte er sich als Mechaniker, bevor er, relativ spät berufen, 1967 an die Music School of Philadelphia ging. Nach bereits einem Jahr gewann Bartolini den Mario-Lanza-Wettbewerb und bewies trotz kurzer Studienzeit seine angeborene Gesangstechnik. Eine Aufnahme in die Academy of Vocal Arts unterstrich dies. Sein Operndebüt erfolte sodann am 17. Oktober 1968 am St. Joseph Theatre in Philadelphia in Il tabarro. Binnen weniger Jahre war er an vielen prestigeträchtigen Bühnen gefragt. Den Beginn machte ein Auftritt am Gran Teatre del Liceu in Barcelona (1973). Sein erster fester Vertrag führte ihn nach St. Gallen in die Schweiz, bevor er an die New York City Opera wechselte. 1982 schließlich debütierte er in seinem Heimatland Italien und zwar gleich an der Mailänder Scala in Ernani. Nun ging es Schlag auf Schlag. Weitere Debüts folgten: Teatro Colón in Buenos Aires (1983), Arena di Verona (1983), Teatro di San Carlo in Neapel (1986), Lyric Opera of Chicago – als Einspringer für Pavarotti – (1986), Teatro Nacional de São Carlos in Lissabon (1987), Opéra National in Paris (1987) und Metropolitan Opera in New York (1988). In den frühen 1990er Jahren konzentrierte sich Bartolini auf Italien (Parma, Turin, Florenz, Rom), sang aber auch in San Francisco (1992), Washington (1993), Sydney (1994) und abermals in New York (1995). Weitere Gastspiele führten ihn u. a. nach London, Wien, München, Hamburg, Berlin, Tokio, Warschau und Athen. Zu seinen Paraderollen zählten der Radames (240 Vorstellungen), der Calaf (179 Vorstellungen) und der Manrico (160 Vorstellungen). Insgesamt hatte er nicht weniger als 49 Rollen im Repertoire, besonders von Puccini und Verdi. Am 28. Juni 2024 ist Lando Bartolini im Alter von 87 Jahren in Pistoia, Toskana, verstorben. Daniel Hauser

„Bruckners Welt“

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Abseits der großen Sinfonik wird auch ein Gigant wie Anton Bruckner unzureichend beachtet, sieht man einmal vom relativ häufig aufgeführten Te Deum ab. Das heurige Jubiläumsjahr bietet insofern einen zweckdienlichen Anlass, den „anderen Bruckner“ mehr zur Geltung zu bringen. BR-Klassik (Bestellnummer 900940) legt eine wirklich nagelneue Studioproduktion vor (aufgenommen erst Anfang dieses Jahres im Münchner BR-Studio). Es zeichnen verantwortlich der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Rundfunkorchester unter Peter Dijkstra. Im Mittelpunkt steht dabei die Messe Nr. 2 e-Moll WAB 27, 1866 als Auftragswerk des Linzer Bischofs von seinem seinerzeitigen Domorganisten komponiert und drei Jahre später im Dom zu Linz uraufgeführt. Sie ist, wie ihre Vorgängerin, für achtstimmigen gemischten Chor und Bläserensemble gesetzt. Dem Komponisten gelingt die Symbiose zwischen Anlehnung an den gestrengen palestrinischen Stil der Spätrenaissance und damals zeitgenössischer Romantik. Eingespielt wurde die 1882 revidierte und 1885 erstaufgeführte Zweitfassung der Messe. Ergänzt wird adäquat durch fünf Motetten: Ave Maria WAB 6 (1861), Locus iste WAB 23 (1869), Virga Jesse WAB 52 (1885), Os justi WAB 30 (1879) sowie Christus factus est WAB 11 (1884). Sie künden von der tiefen Verwurzelung Bruckners im katholischen Glauben und sind in den Kontext der Wiedererstarkung der katholischen Kirche im Österreich der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts einzuordnen, als die josephinischen Reformen durch das Konkordat von 1855 endgültig ad acta gelegt wurden. Abgerundet wird die einstündige Spielzeit der ersten CD durch die äußerst selten eingespielten zwei knappen Posaunenchoräle aus Bruckners Feder. Dieses als Aequale bezeichnete, beinahe vergessene Genre erlebte durch Bruckner 1847 einen wichtigen Beitrag. Die Stücke weisen schon auf die überlebensgroßen Choralpassagen in seinen monumentalen Sinfonien hin. Gleichsam als Bonus befindet sich auf der zweiten Disc eine fast 72-minütige, ausführliche Werkeinführung von Markus Vanhoefer. Diese widmet sich besagter e-Moll-Messe und ist in drei Teile untergliedert: 1. Herkunft und Selbstfindung, 2. Klangwelten sowie 3. Religion und Lebenskrisen. Als Musikbeispiele werden neben den auf CD 1 inkludierten Werken Ausschnitte aus der Romantischen Sinfonie (unter Mariss Jansons) sowie von Vorspiel und Fuge c-Moll WAB 131 (mit Martin Haselböck an der Orgel) beigesteuert. Der Neuerscheinung liegt ein informatives Booklet in deutscher und englischer Sprache bei, wobei leider auf die Gesangstexte verzichtet wurde. Künstlerisch und klanglich gibt es indes keine Einwände. Daniel Hauser

Tendenziell verhalten

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Gerade hat er bereits das 85. Lebensjahr vollendet und darf ohne Wenn und Aber zu den großen Alten unter den lebenden Dirigenten gezählt werden, doch ans Aufhören scheint Marek Janowski nicht zu denken. Zugegeben, im Vergleich mit Herbert Blomstedt, dem Nestor der heutigen Dirigentenzunft, wirkt er beinahe jung. Janowski ist gerade im deutsch-österreichischen Repertoire der Romantik zu Hause. Umso merkwürdiger, dass erst jetzt ein Zyklus der vier Sinfonien von Robert Schumann unter seinem Dirigat herauskommt (Pentatone PTC 5186 989). Auf den ersten Blick zumindest. Es bedurfte einer gewissen Rechercheleistung um herauszufinden, dass Janowski tatsächlich schon einmal einen Schumann-Zyklus einspielte, nämlich Mitte der 1980er Jahre mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra für das Label ASV (lange vergriffen und wohl nur kurzzeitig auf CD erschienen). Und dann gibt es da noch die 1994 entstandene Frühlingssinfonie mit dem SWF-Orchester auf einer in Vergessenheit geratenen Disc von Arte Nova, wo neben ihm noch Arnold Östmann und Hans Vonk weitere Schumann-Werke beisteuern. Und wenn wir schon dabei sind: Schon 1978 leitete Janowski die Eterna/EMI-Koproduktion der in Dresden gemachten Einspielung des Schumann-Violinkonzerts mit Ulf Hoelscher als Solisten (auch bis heute nicht auf CD übernommen). Auf den zweiten Blick also doch eine beachtliche Erfahrungen des Dirigenten in Sachen Schumann. Schaut man sich Janowskis Konzertprogramme der letzten Jahre an, so tauchten Schumanns Sinfonien folgerichtig durchaus ab und an auf.

Wie aber klingt Schumann á la Janowski denn nun? Die oben genannte Aufnahme des orchestral durchaus gewichtigen Violinkonzerts, die mir durch glückliche Umstände vorliegt, empfand ich seinerzeit dirigentisch unauffällig. Tatsächlich ist Janowskis Ansatz auch bei den Sinfonien kein euphorisch-ekstatischer wie weiland derjenige des unvergessenen Leonard Bernstein. Dies muss per se nichts grundsätzlich Verkehrtes sein. Fraglos trägt die unstrittige langjährige Erfahrung Janowskis dazu bei, dass er bei der nunmehrigen Neueinspielung durchaus den Schumann’schen Tonfall trifft und nicht versucht, dem Erzromantiker die Romantik auszutreiben, wie dies manche Vertreter der HIP-Bewegung ohne nachhaltigen Erfolg taten. Die Tempi, die Janowski anschlägt, vermeiden die Extreme; weder wird gehetzt noch verschleppt. Die zum Zuge kommende Dresdner Philharmonie erweist sich als zugleich voll tönender wie auch beweglicher Klangkörper. Detailfreudiges Hervorheben gerade lyrischer Momente ist eine Stärke dieser Lesart. Andererseits fehlen die orchestralen Ausbrüche, etwa im Kopfsatz und bei der Überleitung zum Finale der Vierten, wie sie einst Wilhelm Furtwängler in seiner legendären DG-Einspielung maßstäblich und wie in Stein gemeißelt vorlegte.

Zur Frühlingssinfonie hat Janowski offenbar – wie oben schon erwähnt – ein besonders enges Verhältnis. Seine geradlinige Lesart der Mitte bestätigt den allgemein vorherrschenden Eindruck, dass ein Bis-an-die-Grenzen-Gehen gar nicht beabsichtigt ist. Die Tiefgründigkeit eines Otto Klemperer (EMI), der zumal im Kopfsatz ein überlebensgroßes Klanggemälde entstehen lässt, bleibt unerreicht. Von der überschwänglichen Lebensfreude, die an Botticellis Primavera denken lässt und die musikalisch in der zu Unrecht vergessenen Einspielung Hans Swarowskys (Audio Fidelity) mustergültig umgesetzt scheint, ist Janowski ein gutes Stück entfernt. Am stärksten gelingt ihm das verinnerlichte Larghetto.

Mehr und mehr beschleicht einen das Gefühl, dass das etwas pauschal geratene Klangbild seinen Anteil daran hat, dass Verhaltenheit vorherrscht und der Funke nur stellenweise überspringen will (aufgenommen wurde zwischen Mai 2021 und Juni 2023 im Kulturpalast Dresden). Nahezu erwartbar, kann auch in der als schwierig geltenden Sinfonie Nr. 2 – laut Günter Wand „ein krankes Werk“ – der langsame Satz, das großartige Adagio espressivo, am ehesten punkten. Die unbändige Überzeugungskraft des genannten Bernstein (CBS und DG), aber auch diejenige des eigentlich als nüchtern geltenden Ernest Ansermet (Decca) wird zumal in den Ecksätzen nicht entfesselt.

Schließlich die Rheinische, anders als die Nummerierung glauben macht, Schumanns finale genuine sinfonische Schöpfung und ob ihrer Fünfsätzigkeit aus der Reihe tanzend. Sie zu einer Schumann’sche Eroica erhöhen zu wollen – wie weiland auf seine Art vortrefflich Carlo Maria Giulini (EMI und DG) –, ist mitnichten Janowskis Absicht. Rein tempomäßig nimmt er das Lebhaft im Kopfsatz ernst, ohne exaltiert zu werden. Ein Eindruck von der im Rheinland vorherrschenden Lebensbejahung gelingt im nachfolgenden Scherzo. Gleichzeitig wird die berühmte Feierlichkeit des langsamen Satzes nicht überbetont und ersteht der Kölner Dom vor dem geistigen Auge insofern tendenziell säkularisiert. Im Schlusssatz kehrt die Ausgelassenheit zurück. In summa womöglich das Highlight dieses neuen Zyklus.

Das nicht allzu umfangreiche Beiheft mit Einleitungstext von Jörg Peter Urbach (auf Deutsch und Englisch) ist grundsolide, befasst sich allerdings allein mit den vier Sinfonien selbst. Kein Wort darüber, wieso sich Marek Janowski im hohen Alter nun abermals diesen Werken Schumanns widmet und welche Gedanken der Dirigent selbst dazu haben mag. Daniel Hauser

Beglückende „Pausensinfonie“

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Bruckner und kein Ende in Sicht. Das Jubiläumsjahr trägt diesem Umstand anhaltend Rechnung. Konkret nähert sich auch der Sinfonien-Zyklus von Gerd Schaller und der Philharmonie Festiva seiner Vollendung. Profil Hänssler bringt als neuesten Streich die 1877er Fassung der Sinfonie Nr. 2, also gleichsam die Letztfassung dieses Werkes (PH23085). Einmal mehr handelt es sich um eine Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk. Denjenigen, welche die seit 2011 erscheinende Serie verfolgen, ist das Kloster Ebrach in Oberfranken, mittlerweile zum vertrauten Aufnahmeort geworden (Einspielung am 1. Oktober 2023). Bruckners Zweiter widmete sich Schaller in ihrer Urfassung bereits ganz zu Beginn seines Aufnahmenmarathons (PH12022). Mit 70 Minuten Spielzeit ist diese Fassung von 1872 eine Viertelstunde länger als die nun vorgelegte 55-minütige Fassung von 1877 aus letzter Hand, wobei hierzu die Nowak-Edition von 1965 zurate gezogen wurde. Im Gespräch mit Rainer Aschemeier, das im Booklet abgedruckt ist, erläutert der Dirigent profund, dass der typische „weihevoll-erhabene Charakter, das Mystische“ der Bruckner-Sinfonien eigentlich erst mit der Dritten begänne und die Werke davor noch deutlich in der Beethoven-Nachfolge stünden. Vielleicht haben auch deswegen Dirigenten wie Sergiu Celibidache, Hans Knappertsbusch und Wilhelm Furtwängler die frühen Sinfonien nie berücksichtigt. Die Zweite, die zunächst als Sinfonie Nr. 3 konzipiert war (die eigentlich an zweiter Stelle stehende sogenannte „Nullte“ widerrief der Komponist erst später), erlebte in der Erstfassung von 1872 nach einigem Problemen ihre Uraufführung durch die Wiener Philharmoniker und selbst der berüchtigte Kritiker Eduard Hanslick fand anerkennende Worte. Gleichwohl kam es danach zur Umarbeitung, die in der 1877er Fassung mündete. Schaller sieht das Werk gerade in dieser als „sehr kompakt“ und „gut durchhörbar“ an. Gleichzeitig handle es sich um ein sehr kontrastreiches Stück, das neben Beethoven auch eine „Seelenverwandtschaft mit Schubert“ aufweise. Insgesamt kann man des Dirigenten Unverständnis, wieso die Zweite nicht öfter gespielt werde, durchaus nachvollziehen. Es nimmt nicht wunder, dass die berühmten Bruckner-Dirigenten der Vergangenheit fast durch die Bank der 1877er Fassung den Vorzug gaben, ob nun in der genannten Nowak-Edition (so etwa Carlo Maria Giulini – ein besonderer Verfechter dieser Sinfonie -, Eugen Jochum, Herbert von Karajan, Stanislaw Skrowaczewski und Sir Georg Solti) oder in der älteren, schon 1938 vorliegenden Haas-Edition (so unter anderem Volkmar Andreae, Günter Wand, Horst Stein, Bernard Haitink und Daniel Barenboim). Fast erwartbar, legt Gerd Schaller eine bemerkenswerte Lesart vor, die seinen Ruf als einer der führenden Bruckner-Interpreten unserer Tage abermals unterstreicht. Auf einseitigen Bombast verzichtend, kommt bei Schallers wohl akzentuiertem Ansatz gerade auch der lyrische Charakter der 2. Sinfonie zum Tragen. Auch die Pausen der sogenannten „Pausensinfonie“ weiß er mit Leben zu füllen. Unterstützt von der überlegenen Leistung der Tontechniker, braucht das Ergebnis keine Vergleiche scheuen und darf zu den beglückendsten Darbietungen der jüngeren Zeit gerechnet werden. Daniel Hauser

Referenzträchtige „Waldnymphe“

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Der Sibelius-Zyklus unter Santtu-Matias Rouvali aus Göteborg schreitet seiner Vollendung entgegen. Die soeben erschienene jüngste Folge des Projekts (Alpha 1008) wartet mit der – gemäß Andrew Mellor im Bookleteinführungstext – „anspruchsvollsten“ unter den Sinfonien des großen finnischen Komponisten auf: der Vierten. Ihre düstere Grundstimmung geht zweifelsohne auf den seinerzeitigen Gesundheitszustand ihres Schöpfers zurück, hatte dieser doch die riskante Entfernung eines Tumors im Hals hinter sich und musste – zumindest zeitweilig – dem von ihm so geliebten Trinken und Rauchen eine völlige Absage erteilen. Zeitgenössisch stieß das Werk auf starke Widerstände. So weigerten sich die Wiener Philharmoniker 1912, die Partitur einzustudieren (sie sollten sie erst unter Lorin Maazel ein halbes Jahrhundert später erstmals spielen). Aber bereits die Uraufführung im Vorjahr in Helsinki verstörte die Kritiker. Aus heutiger Sicht ist dieses expressionistische Werk ohne Frage mit die kühnste Kreation von Jean Sibelius, weist sie doch bereits weit ins 20. Jahrhundert hinein. Mit seinen vorangegangenen drei Sinfonien hatte die Sinfonie Nr. 4 allerdings wenig gemein und so dauerte es lange, bis man sich ihres Stellenwertes wirklich bewusst wurde. Nie waren sich Sibelius und Mahler, die beiden Antipoden ihrer Zeit (deren einziges Treffen wohl nicht zufällig kurze Zeit zuvor stattgefunden hatte), in ihrer Tonsprache näher. Die Göteborger Symphoniker sind voll in ihrem Element und liefern, angespornt durch das energische Dirigat Rouvalis, eine vollauf überzeugende Lesart, die sich mit den besten in der Diskographie – darunter vor allem der hier maßgebliche Karajan (besonders in seiner früheren Stereoeinspielung für DG) – messen kann.

Aus gänzlich anderem Holz geschnitzt ist die anderthalb Jahrzehnte zuvor komponierte Tondichtung Die Waldnymphe von 1894/95. Sie steht in Nachbarschaft zu den ungleich berühmteren Werken En saga und den Lemminkäinen-Legenden. Tatsächlich lieferte in diesem Falle allerdings nicht die finnische, sondern die schwedische Folklore den Ausgangspunkt, nämlich das gleichnamige Gedicht von Viktor Rydberg (1882). Die Thematik um den Helden Björn, der den Reizen einer im Wald lebenden Sirene erliegt, ihr seine Seele überlässt und schließlich daran zugrunde geht, beschäftigte Sibelius bereits Ende der 1880er Jahre, als er den Stoff erstmals in Liedform vertonte. Es sollten noch ein Melodram für Erzähler, Klavier, zwei Hörner und Streichorchester sowie eine Fassung für Soloklavier folgen. So wagnerisch klang der Finne selten. Eine geradezu soghafte Wirkung, der man sich kaum entziehen kann, entfaltet sich vom ersten Takt an. Der Spannungsbogen wird in den vier Abschnitten bis zum überlebensgroßen Schluss gehalten. Indes distanzierte sich der Komponist später von diesem Jugendwerk. Nach einer einmaligen Wiederaufführung anlässlich seines 70. Geburtstages im Jahre 1935 verschwand es für sechs Jahrzehnte von der Bildfläche. Diskographisch ist die Waldnymphe bis zum heutigen Tage auch deswegen nur mäßig vertreten und fehlen bedauerlicherweise die großen Sibelius-Dirigenten der Vergangenheit unter den Interpreten, weswegen diese weitere Einspielung zum eigentlichen Highlight der Neuerscheinung gerät. Rouvali profitiert nicht zuletzt vom überlegenen Klang der Alpha-Tontechnik und lässt die sehr beachtlichen bisherigen offiziellen Einspielungen hinter sich, welche da wären: John Storgards mit den Helsinkier Philharmonikern (Ondine), Shuntaro Sato mit dem Sinfonieorchester Kuopio (Finlandia), Douglas Bostock mit der Philharmonie Göteborg-Aarhus (Classico) und Osmo Vänskä – mit dessen Namen freilich untrennbar die Wiederentdeckung der Waldnymphe Mitte der 1990er Jahre verbunden bleiben wird – mit der Sinfonia Lahti (gar zweimal bei BIS). Es bleibt die vage Hoffnung, dass andere Dirigenten durch diese ausgezeichnete Neuaufnahme ebenfalls angespornt werden.

Gleichsam als Zugabe gibt es eine inspirierte Darbietung der weltberühmten Valse triste (1904), was diese mit knapp 65 Minuten Spielzeit nicht allzu üppig bestückte CD gediegen abrundet. Das Booklet erfüllt seinen Zweck (Englisch, Französisch, Deutsch). Nun stehen nur mehr die Sinfonien Nr. 6 und 7 aus, um den Göteborger Zyklus zu seinem gebührenden Abschluss zu bringen (29. 02. 24). Daniel Hauser

Aribert Reimann

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Als Sohn des Kirchenmusikers Wolfgang Reimann und der Altistin Irmgard Rühle wurden dem am 4. März 1936 in Berlin geborenen Aribert Reimann die musikalischen Gene gleichsam von Anfang an mitgegeben. Erste Kompositionen schrieb er bereits mit zehn und fungierte nach dem Abitur als Korrepetitor an der damaligen Städtischen Oper Berlin. Es folgte ein Klavier-, Kompositions- und Musikwissenschaftsstudium, zunächst in Berlin, später in Wien. Reimanns Repertoire als Komponist war breit gefächert und ging von der Kammermusik über Orchesterwerke bis hin zur Oper. Zu Beginn seiner Karriere erfolgte mehrfach eine Zusammenarbeit mit Günter Grass für das Ballett. Besonders mit der Oper Lear, durch Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle geadelt, schuf er 1978 zum Libretto von Claus H. Henneberg einen Klassiker der Avantgarde (die von Gerd Albrecht dirigierte Einspielung erschien bei der Deutschen Grammophon). Noch 2010 schuf er mit Medea nach der Vorlage von Franz Werfel ein bedeutendes zeitgenössisches Musikdrama. Anfang der 1970er Jahre zum Mitglied der Berliner Akademie der Künste ernannt, hatte Reimann zwischen 1974 und 1983 zunächst eine Professur für Zeitgenössisches Lied zunächst an der Hamburger Musikhochschule inne, anschließend von 1983 und 1998 an der Hochschule der Künste Berlin. Mannigfaltig ausgezeichnet, trug er u.a. das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern sowie den Pour le mérite für Wissenschaften und Künste und erhielt für sein Lebenswerk den Ernst-von-Siemens-Musikpreis. 1988 stiftete Reimann den Busoni-Kompositionspreis zur Förderung des kompositorischen Nachwuchses. Aribert Reimann, dessen Bedeutung gerade in der Vokalmusik immens war, ist am 13. März 2024 kurz nach seinem 88. Geburtstag in seiner Heimatstadt Berlin verstorben (Foto Wikipedia). Daniel Hauser

Bruckner in St. Florian

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Das Bruckner-Gedenkjahr 2024 fördert nicht nur eine Vielzahl an Neueinspielungen seines mannigfaltigen sinfonischen Schaffens, sondern jetzt auch eine weitere sehr löbliche, mit Erinnerung betitelte Ausgrabung zutage. Verantwortlich zeichnet das Label Solo Musica (SM 450) in Zusammenarbeit mit den St. Florianer Sängerknaben, einem seit bald einem Jahrtausend bestehenden Knabenchor aus Oberösterreich (belegt ab 1071). Anton Bruckner, der heuer 200 Jahre alt würde, war nicht nur zwischen 1838 und 1840 selbst Mitglied des besagten Knabenchors, sondern komponierte auch geistliche Werke, die in enger Verbindung mit diesem berühmten Augustiner-Chorherren-Stift stehen. Vier Motetten sind auf der CD inkludiert: Locus iste (1869), Os justi (1879), Ave Maria (1861) und Tota pulchra es (1878). Zurecht betont der kundige Booklettext, dass die genannten Stücke weltweit zum Standardrepertoire der großen Chöre gehören, allerdings nur wenige Einspielungen mit Knabenchören vorlägen. Diesem Manko wird mit der Neuveröffentlichung mustergültig entgegengesteuert, ist das künstlerische Niveau der Solisten und des Chors der St. Florianer Sängerknaben doch unstrittig, zu welchen sich noch der nicht minder hochrangige Männerchor derselben gesellt. Die beseelte Chorleitung hat der Tenor Markus Stumpner inne. Dazu gesellt sich Pange lingua C-Dur, welches Bruckner im Alter von gerade elf oder zwölf komponierte und 1891 im hohen Alter gar noch einmal überarbeitete. Mit dem Psalm 22 (1852) wird die einzige Bruckner’sche Psalmvertonung, die für Klavierbegleitung gesetzt ist, beigesteuert. Ein außerordentlich berührendes weiteres Ave Maria für Altsolo und Orgel (1882) komplettiert die geistlichen Werke und wird hier solistisch vom großartigen Countertenor Alois Mühlbacher vorgetragen, der tatsächlich in der Lage ist, die vom Komponisten gestellten hohen Anforderungen scheinbar mühelos umzusetzen. Die Begleitung an der St. Florianer Brucknerorgel steuert Klaus Sonnleitner bei, der auch mit Vorspiel und Fuge c-Moll (1847) eine selbständige Orgelkomposition Bruckners (eine von lediglich fünf zu Papier gebrachten) verantwortet. Ansonsten improvisierte Bruckner als Organist ganz überwiegend.

Dem nicht genug, wurden bei dieser Veröffentlichung erfreulicherweise auch säkulare Werke inkludiert. Lieder mit Klavierbegleitung nehmen in Bruckners Œuvre bekanntlich einen winzigen Raum ein, wozu sich der Tonsetzer folgendermaßen geäußert haben soll: „I könnt’s schon, wenn i woll’t, aber i will nicht“. Dabei führen Mein Herz und deine Stimme (nach August von Platen, 1868) und Im April (nach Emanuel Geibel, 1865) die Meisterschaft Bruckners auch in diesem Genre vor Augen. Wiederum agiert Mühlbacher als Solist, einfühlsam begleitet von Franz Farnberger am 2021 restaurierten Brucknerflügel, demjenigen Bösendorfer-Instrument, an welchem Bruckner zwischen 1848 und 1896 selbst spielte. Das ebenfalls von Farnberger intonierte fünfminütige Charakterstück Erinnerung (um 1868) stellt eines der raren Klavierwerke des Komponisten dar und ist mit einiger Wahrscheinlichkeit derer auch das anspruchsvollste.

Abgerundet wird das Ganze durch das Männerquartett Herbstlied (1864), welches für vier Männerstimmen, zwei Soprane und Klavier gesetzt ist, und die Männerchöre Um Mitternacht (1864) – mit Klavier und Altsolo –, Trösterin Musik (1877) – wiederum mit Orgelbegleitung – sowie Der Lehrerstand (1847).

Künstlerisch wie klanglich eine herausragende Repertoireerweiterung (Aufnahme: Spätsommer 2023 in den Räumlichkeiten des Stifts St. Florian bzw. in der Stiftsbasilika). Uneingeschränkte Empfehlung, nicht nur für eingeweihte Brucknerianer. Daniel Hauser

Seiji Ozawa

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Am 1. September 1935 in Shenyang im seinerzeitigen japanischen Marionettenstaat Mandschukuo im Nordosten Chinas geboren, visierte Seiji Ozawa zunächst eine Karriere als Pianist an, bevor er sich der Komposition und dem Dirigat zuwandte und sein Studium 1958 beschloss. Bereits früh wurde man auf sein Talent aufmerksam. Er erfreute sich der Förderung durch Charles Munch, damals Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, und Herbert von Karajan, künstlerischen Leiter der Berliner Philharmoniker. 1961 wechselte er als Assistenzdirigent von Leonard Bernstein zum New York Philharmonic und wurde bereits 1964 Musikdirektor des Ravinia Festival, der Sommerresidenz des Chicago Symphony Orchestra. Zwischen 1965 und 1969 übernahm er das kanadische Toronto Symphony Orchestra und 1970 das San Francisco Symphony (bis 1977). Wenig später wählte man ihn in Boston zum designierten Nachfolger des gesundheitlich angeschlagenen William Steinberg, die er 1972 zunächst als musikalischer Berater und 1973 schließlich als Musikdirektor antrat. Dieses Amt sollte Ozawa drei Jahrzehnte innehaben und die Geschichte des BSO nachhaltig prägen. Als erster Japaner übernahm er insofern die Leitung bedeutender US-Orchester, was auch ein Vierteljahrhundert nach Hiroshima und Nagasaki keineswegs selbstverständlich war. In seiner Heimat Japan gründete er 1984 das Saito Kinen Orchestra und 1992 das Saito Kinen Festival. Daneben war er als Gastdirigent u. a. bei den Berliner und Wiener Philharmonikern, beim London Symphony Orchestra und beim Orchestre National de France über Jahrzehnte hochgeschätzt. Das Jahr 2002 begann mit dem von Ozawa geleiteten Neujahrskonzert in Wien, sah seinen Rückzug in Boston (wo seine letzten Jahre mitunter schwierig verlaufen waren) und seinen Amtsantritt als Musikdirektor der Wiener Staatsoper. Ab dieser Zeit wandte er sich verstärkt der Oper zu (Debüt an der Met bereits 1992), ehe ihn eine Speiseröhrenkrebserkrankung 2010 zum Rückzug zwang. Nach seiner Genesung kehrte er 2013 aufs Podium zurück, doch konzentrierten sich die Auftritte in seinen späten Jahren primär auf Japan. Mit über 400 Einspielungen, hauptsächlich für RCA, Philips und Deutsche Grammophon, gehört er zu den am besten dokumentierten Dirigenten überhaupt. Zu seinen künstlerisch nachhaltigsten Interpretationen gehören Aufnahmen der Werke von Hector Berlioz, Gustav Mahler und Carl Orff. Daneben trat er bis ins hohe Alter pädagogisch in Erscheinung und erhielt zahllose Ehrungen und Auszeichnungen. Am 6. Februar 2024 ist Seiji Ozawa im Alter von 88 Jahren in seinem Haus in Tokio einem Herzversagen erlegen (Foto Wikipedia). Daniel Hauser

Orientalismus á la russe

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Die russische Musik des 19. und 20. Jahrhunderts erfreut sich anhaltender Beliebtheit, was als Hoffnungsschimmer in der aufgeheizten Stimmung der Jetztzeit gelten darf. SWR Classic legt nun als eine Neuerscheinung eine etwa zehn Jahre alte Eigenproduktion unter Dmitri Kitajenko vor, die dem Rechnung trägt (SWR19138CD). Das Herzstück bildet mit gut 51 Minuten Spieldauer die Sinfonische Suite Scheherazade von Nikolaj Rimski-Korsakow, gleichsam als Beigabe ergänzt um den Verzauberten See von Anatoli Ljadow, vom Komponisten selbst als Ein Märchenbild für Orchester bezeichnet. Zumindest gefühlt war die exotische Scheherazade vor einigen Jahrzehnten gleichwohl noch populärer, wovon zahlreiche berühmt gewordene Einspielungen zeugen, darunter so überzeugende Lesarten wie jene von Ernest Ansermet (Decca), Fritz Reiner (RCA Victor), Sir Thomas Beecham (EMI), Leopold Stokowski (Decca) und Kirill Kondraschin (Philips). Im Konzertsaal erklingt sie heutzutage nicht mehr ganz so häufig, was ihr von ihrem Rang indes nichts nimmt. Kitajenko genehmigt sich insgesamt mehr Zeit als andere Dirigenten, ein wenig an Sergiu Celibidache (EMI) gemahnend, aber doch im Zugriff zupackender. Mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR – mittlerweile im SWR Symphonieorchester aufgegangen – steht ein hervorragendes Ensemble zur Verfügung, dessen Stärken man ausgerechnet in diesem Repertoire nicht unbedingt vermuten würde. Das Orchester ist fabelhaft aufgestellt und bildet die volle Bandbreite der farbigen Partitur ab. Die Hintergrundgeschichte beruht auf der berühmten Erzählung Tausendundeine Nacht und verbindet die meisterhafte Orchestrationskunst, für welche Rimski-Korsakow zurecht berühmt war, mit der orientalischen Exotik, die im zeitlichen Rahmen des Ausgreifens des russländischen Zarenreiches in den muslimisch geprägten zentralasiatischen Raum um 1880 gleichsam ihren natürlichen Platz hat. Innerhalb der vierteiligen Tondichtung nimmt die Solovioline eine wichtige Rolle ein und das Ganze gerät stellenweise beinahe wie ein Konzert für Violine und Orchester. Mit der Australierin Natalie Chee hat die Einspielung eine vorzügliche Vertreterin ihrer Zunft vorzuweisen, die gerade die lyrischen Momente auskostet. Der verzauberte See, hier etwa achtminütig, gerät zur adäquaten Zugabe und zeigt besagten Ljadow als würdigen Nachfolger Rimskis, wiewohl der Jüngere viel weniger Orchesterwerke hinterließ. Christoph Schlüren hebt in seinem lesenswerten Einführungstext (Deutsch, Englisch) zurecht die verfeinerte Orchestrierung Ljadows hervor. Der 1940 im damaligen Leningrad geborene Kitajenko ist in beiden Werken hörbar „zu Hause“. Glücklicherweise darf auch der klangliche Aspekt der Produktion als überaus überzeugend bezeichnet werden (Aufnahme: Stuttgarter Liederhalle und Mannheimer Rosengarten, Juni 2013 und November 2014). Daniel Hauser

Mehr als „Notre Dame“

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Der österreichische Komponist Franz Schmidt, geboren 1874 in Preßburg und gestorben 1939 in Perchtoldsdorf bei Wien, ist bis heute vor allem aufgrund seines Oratoriums Das Buch mit den sieben Siegeln und der Oper Notre Dame in Erinnerung geblieben. Sein Œuvre ist vergleichsweise überschaubar, doch durchgängig von hoher Qualität. Während sich seine erste Oper Notre Dame einer gewissen Beliebtheit erfreut (s. nachstehend), scheint die zweite namens Fredigundis vergessen.

Schmidts Sympathien für den Austrofaschismus und sein Eintreten für den „Anschluss“ haben seine Reputation nach 1945 nicht eben befördert (dafür mag auch sein unvollendetes letztes Werk, die Kantate Deutsche Auferstehung von 1938/39, stehen). Gleichwohl gibt es mittlerweile eine recht beachtliche Diskographie seiner Orchesterwerke, die sich primär aus den zwischen 1896 und 1933 entstandenen vier Sinfonien zusammensetzen.

Das Label Accentus legt nun in Kooperation mit BBC Radio 3 eine weitere Gesamteinspielung derselben vor (ACC80544). Verantwortlich zeichnet das BBC National Orchestra of Wales unter dem Dirigenten Jonathan Berman. Die Weltersteinspielung des Sinfonienzyklus besorgte zwischen 1989 und 1996 Neeme Järvi mit dem Detroit bzw. dem Chicago Symphony Orchestra (Chandos). Es folgten Fabio Luisi mit dem MDR Sinfonieorchester (Querstand), Wassili Sinaiski mit dem Sinfonieorchester Malmö (Naxos) und zuletzt Paavo Järvi mit dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt (DG). Im direkten Vergleich nimmt sich Berman überwiegend mehr Zeit, was kein Schaden sein muss. Besonders die zweite und die vierte Sinfonie, die zurecht als Höhepunkte der Schmidt’schen Sinfonik gelten, wurden freilich etwas häufiger aufgenommen, so die Zweite bereits 1958 unter Dimitri Mitropoulos und 1983 unter Erich Leinsdorf – beide Male live mit den Wiener Philharmonikern. Die Vierte erlebte schon 1971 ihre erste Studioproduktion mit demselben Spitzenorchester unter Zubin Mehta (Decca). Insgesamt ist die diskographische Situation als weit davon entfernt, als desaströs gelten zu müssen.

Die Neueinspielung aus der walisischen BBC Hoddinott Hall in Cardiff (entstanden zwischen Jänner 2020 und Oktober 2022) zeichnet sich durch ein klares, alle Instrumentengruppen natürlich abbildendes Klangbild aus. Als über die Maßen ausführlich darf auch das mehr als hundertseitige Booklet gelten, das dreisprachig daherkommt (Englisch, Deutsch, Französisch) und neben grundsätzlichen Ausführungen zu den eingespielten Werken, den Biographien der Beteiligten und Anmerkungen zur künstlerischen Gestaltung auch ein von Martin Hoffmeister geführtes informatives Interview mit dem musikalischen Leiter Jonathan Berman enthält. Selbst in ihren lautesten Momenten verfalle Schmidts Musik niemals der Gefahr des Bombasts und behalte ihre humane Ader, so der Dirigent, der auch die einseitige Charakterisierung des Komponisten als „Organist-Komponisten“ zu relativieren sucht und von einer hörbaren „Wiener Eleganz“ spricht, welche Schmidts Musik auszeichne. Berman zufolge dachte Schmidt auch dann sinfonisch, wenn er keine Sinfonien schrieb. Dies ist gewiss nicht zuletzt der Grund, wieso man auch das Zwischenspiel und die Karnevalsmusik aus der besagten Oper Notre Dame mitberücksichtige. Diese hörenswerte Instrumentalmusik entstand, wie der kundige Begleittext vermittelt, schon vor der Fertigstellung, womöglich sogar vor der Konzeption der Oper, stellt insofern also keine Art orchestrale Suite von Auszügen derselben dar.

Franz Schmidt-Denkmal: Wien-Ober Sankt Veit, Ghelengasse.
Die Büste schuf Hilde Uray 1954, (siehe das Bild mit ihrer Signatur); der Bronzeguss stammt aus der Kunstgießerei Alfred Zöttl, Wien.
Die Enthüllung fand am 16. Juni 2005 statt./ Wikipedia/ Foto Thomas Ledl

Bereits in der zwischen 1896 und 1899 komponierten Sinfonie Nr. 1 zeigt sich eine bemerkenswerte Originalität. Anders als viele seiner anderen Jugendwerke, entkam sie der späteren eigenhändigen Vernichtung durch ihren Schöpfer, was nicht wundernimmt, erhielt Schmidt dafür doch den begehrten ersten Preis der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, wo 1902 dann auch die Uraufführung unter seiner Leitung stattfand. Das großangelegte viersätzige Werk von einer Dreiviertelstunde, welches der Erzherzogin Isabella gewidmet ist, tat Schmidt Jahre danach als „Schulstück“ ab, doch sind seine Qualitäten unbestreitbar vorhanden. Mit der noch ausladenderen dreisätzigen Sinfonie Nr. 2 (1911-13) legte er kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereits ein Opus magnum vor, das in seinen orchestralen Dimensionen an Mahlers Opulenz erinnert. Anfangs tatsächlich als Klaviersonate konzipiert, folgt auf den eher konventionellen Kopfsatz ein Allegretto mit nicht weniger als zehn Variationen, gewissermaßen ein Zwitter aus langsamem Satz und Scherzo. Im Finale gibt es neuerlich tönende Reminiszenzen an den ersten Satz. Beschlossen wird die zweite Sinfonie durch einen gewaltigen Choral, der in seinen Dimensionen entfernt an die Apotheose am Ende von Bruckners Fünfter erinnert, ohne diese auch nur ansatzweise kopieren zu wollen. Wesentlich später, nämlich erst 1927/28 komponierte Franz Schmidt seine Sinfonie Nr. 3. Sie konnte immerhin den zweiten Preis des Schubert-Wettbewerbs 1928 (100. Todestag) einheimsen (hinter Kurt Atterberg). Den Kriterien der Preisausschreibung folgend, ist sie „im Geiste Schuberts“ geschrieben, insofern also orchestertechnisch bewusst deutlich kleiner, geradezu pastoral angelegt und wiederum der klassischen Viersätzigkeit folgend. Aufgrund ihrer archaischen Konstruktion wirkt sie ein wenig anachronistisch, doch handelte es sich augenscheinlich um die vom Komponisten selbst favorisierte unter seinen Vierlingen. Mit der Sinfonie Nr. 4, 1932/33 kurz nach dem Tode seiner Tochter entstanden, kam Schmidts sinfonisches Schaffen an seinen Schlusspunkt. Fraglos hat er autobiographische Aspekte verarbeitet, wovon der darin enthaltene gewaltige Trauermarsch zeugt. Wiederum viersätzig entworfen, stellt das einstündige Werk den instrumentalen Gipfel seines Werkverzeichnisses dar. Ein Trompetensolo leitet den Kopfsatz ein und mit einem eben solchen klingt die Finalcoda aus. „Sterben in Schönheit, während das ganze Leben noch einmal vorbeizieht“, beschrieb der Komponist es selbst. Ihrem Widmungsträger Oswald Kabasta gegenüber – der 1934 auch die Erstaufführung verantwortete –, betonte Schmidt, dass es sich um sein wahrhaftigstes und innigstes Werk überhaupt handle.

Eine in allen Belangen überzeugende Neuerscheinung, die dem Sinfoniker Franz Schmidt hoffentlich noch mehr das Gehör verschafft, welches ihm gebührt, und zudem dazu anregen mag, eine seiner Sinfonien künftig öfter aufs Konzertprogramm zu setzen. Das anstehende Schmidt-Jubiläumsjahr 2024 (150. Geburtstag) böte dazu mannigfaltige Möglichkeiten. Daniel Hauser

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PS.: Es wäre eine arge Unterlassung, wiesen wir nicht etwas ausführlicher auf das Bekannteste in Sachen Franz Schmidt hin, nämlich seine hinreißende Oper Notre Dâme (in zwei Aufzügen, Text nach Victor Hugo von Franz Schmidt und Leopold Wilk; komponiert: 1902–1904, Uraufführung: Wien 1914, also auch noch Kriegsware!), die – heute kaum noch aufgeführt – seine eigentliche Berühmtheit ausmacht. Leider verstellt die ziemlich abscheuliche, einzige Studioeinspielung bei CAPRICCIO den Zugang, denn weder Gwyneth Jones oder James King noch der Rest machen Lust aufs Hören. Und die antike Einspielung vom Bayerischen Rundfunk 1949 unter Hans Altmann mit dem brüllenden Hans Hopf und der kullernden Hilde Scheppan hat ihre Dienste mehr als getan. Nein, man muss sich den Sammlern zuwenden, um den wirklich mitreißenden Mitschnitt aus der Wiener Volksoper 1975 unter Wolfgang Schneiderhahn mit der vor Sinnlichkeit fast berstenden Julia Migenes neben dem charismatischen, abgründigen Ernst Gutstein nebst Walter Berry und Joseph Opferwieser als Geliebter Phoebus zu ergattern. In gutem Stereo kam er kurzfristig auf grauen Labels heraus, aber Discogs hats mal wieder (gegen einen Preis!). Für mich die ideale Aufnahme – packend wie ein Hollywood-Reißer und extrem gut gesungen. Von 2001 gibt´s noch eine Radio-Aufnahme aus Montpellier mit einer lethargischen, aber stimmlich leuchtenden Brigitte Hahn neben einer soliden internationalen Besetzung. Aber die Migenes plus cast in Wien ist es.

Und in Sachen Fredigundis reisst eine alte Wiener Rundfunkaufnahme von 1979 unter dem verdienstvollen Ernst Märzendorfer mit der unterpowerten Dunja Vejzovic trotz des von vielen geliebten Werner Hollweg nicht viel heraus (auch diese nur noch bei Discogs und Sammlern). G. H.

Nicht nur Radetzky-Marsch

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Seit über acht Jahrzehnten wird das neue Jahr traditionell mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker eingeleitet. Längst hat es sich zum internationalen Großereignis entwickelt, im Fernsehen und Rundfunk (und mittlerweile natürlich auch im Streaming) live übertragen in aller Herren Länder. Am 1. Jänner 2024 stand nach fünfjähriger Pause zum zweiten Male der gebürtige Berliner Christian Thielemann auf dem Dirigentenpult im Goldenen Musikvereinssaal in Wien. Wie üblich, liegt wenige Tage hernach die Compact Disc vor (Sony 19658858932). Filmisch verewigt, schließen sich Ende des Monats DVD und Blu-ray an, neuerdings komplettiert um die pseudo-nostalgische Langspielplatte.

Was stand heuer auf dem Programm? Von den insgesamt 15 Nummern des offiziellen Programms sind nicht weniger als neun davon Premieren beim Neujahrskonzert, zwar nicht ganz so viele wie voriges Jahr (14), aber doch ein Fortbeschreiten des eingeschlagenen Weges, wo neuerdings bewusst nicht mehr bloß die „Sträusse“ berücksichtigt werden. Den Auftakt macht der bereits geläufige Karl Komzák mit dem Erzherzog-Albrecht-Marsch, einem eher streitbaren Mitglied des österreichischen Erzhauses gewidmet. Johann Strauss Sohn folgt freilich gleich darauf doppelt mit dem Walzer Wiener Bonbons und der eingängigen Figaro-Polka. Tatsächlich tut sich der Eindruck auf, als ließe der sich anschließende und herrliche k. u. k. Romantik ausstrahlende Walzer Für die ganze Welt von Joseph Hellmesberger junior, eine der Erstaufführungen in diesem Zusammenhang, gar den zuvor gehörten des Walzerkönigs alt aussehen. Die furiose Schnellpolka Ohne Bremse von Eduard „Edi“ Strauss bildet einen passenden Kontrast hierzu und beschließt den ersten Teil des Konzerts. Altbekanntes folgt nach der Pause mit der Ouvertüre zur spät entstandenen Johann-Strauss-Operette Waldmeister auf den Fuß. Selbst von diesem berühmtesten Mitglied der Strauss-Dynastie gibt es nach wie vor Neues zu entdecken, wie der landläufig gewiss unbekannte Ischler Walzer aus seinem Nachlass (und ohne Opus-Zahl) beweist, eine Hommage an sein geliebtes Ischl (das erst 1906, sieben Jahre nach Strauss‘ Tod, den Beinamen Bad erhielt). Eine Reihe vierer unterschiedlicher Polkas setzt den Konzertverlauf fort, davon drei Premieren: Über die Nachtigall-Polka (abermals Johann Strauss Sohn), die Polka mazur Die Hochquelle (Eduards zweiter Konzertbeitrag) und die geläufige Neue Pizzicato-Polka (neuerlich Johann junior) gelangt schließlich der jüngere Hellmesberger mit der Estudiantina-Polka aus seinem Ballett Die Perle von Iberien noch einmal zu Gehör. Mit dem prachtvollen Konzertwalzer Wiener Bürger von Carl Michael Ziehrer wird schließlich der letzte k. u. k. Hofball-Musikdirektor der Donaumonarchie gewürdigt. Wie eigentlich alle Ziehrer-Walzer, will auch dieser, sein wohl berühmtester, den leicht militärischen Einschlag gar nicht verleugnen (der Komponist war schließlich langjähriger Kapellmeister des legendären Hoch-und-Deutschmeister-Infanterie-Regiments Nr. 4). Das soeben eingeleitete Anton-Bruckner-Jahr 2024 (200. Geburtstag) geht nicht einmal am Neujahrskonzert vorüber. Ein frühes, völlig „unbrucknerisches“ Klavierwerk, die gut fünfminütige Quadrille WAB 121, wurde eigens zu diesem Anlass von Wolfgang Dörner für Orchester gesetzt. Das Ergebnis kann sich hören lassen und komplettiert auf eine gewisse Weise Thielemanns Bruckner-Zyklus, den er mit den Wiener Philharmonikern kürzlich vollendet hat (ebenfalls bei Sony erschienen). Heuer ebenfalls abermals vertreten ist der Däne Hans Christian Lumbye, der „Strauss des Nordens“. Sein spritziger Galopp Glædeligt Nytaar! (Frohes neues Jahr!) fügt sich nahtlos in die Programmgestaltung ein. Jetzt erst, beim letzten Stück des offiziellen Konzertprogramms, tritt Josef Strauss hinzu, dessen Delirien-Walzer fraglos einen der einprägsamsten Vertreter dieser beliebten Gattung darstellt. Die Thielemann’sche Darbietung desselben ist gar ein Höhepunkt des heurigen Neujahrskonzerts. Josef Strauss ist es auch, der gleich danach die erste Zugabe, die einzige wirkliche Überraschung des Konzerts, beisteuert. Seine feurig dargebotene Jockey-Polka versöhnt diejenigen, die den womöglich genialsten der Strauss-Brüder heuer etwas vernachlässigt sahen. Nach einem wohltuend nüchternen Neujahrsgruß des Dirigenten geht man zu den weiteren Zugaben über. Den weltbekannten Donauwalzer alias An der schönen blauen Donau meint man schon lange nicht mehr so locker und doch voller Pläsier gehört zu haben. Freimütig heraus gesagt: Diese Interpretation darf sich ganz vorne einreihen, trotz solch illustrer und zurecht gerühmter Vorgänger wie Willi Boskovsky, Herbert von Karajan und Georges Prêtre. Ganz zum Schluss dann erwartbar Johann Strauss Vater mit seinem Radetzky-Marsch. Das (diesmal leider besonders unkoordinierte) Klatschen wird man dem Publikum in diesem Leben nicht mehr austreiben können, aber was wäre ein Neujahrskonzert auch ohne nicht zumindest einen kleinen Wermutstropfen.

In der Summe ein beglückendes Neujahrskonzert, durchaus eines der erinnerungswürdigsten der letzten Zeit. Der Berliner Christian Thielemann hat in diesem urwienerischen Repertoire weiter an Statur gewonnen und, nicht zuletzt dank der erkennbar auf Gegenseitigkeit beruhenden innigen Verbindung mit dem Orchester, womöglich seine letzten Kritiker überzeugen können. Chapeau also und Prosit Neujahr! Daniel Hauser

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Alle Jahre wieder wird das neue Jahr mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker eingeleitet. Standen die letzten beiden Konzerte noch unter dem Eindruck der Pandemie, so war dies diesmal, am 1. Jänner 2023, erfreulicherweise kaum mehr nennenswert der Fall. Zum bereits dritten Male (nach 2011 und 2013) wurde der österreichische Dirigent Franz Welser-Möst mit der musikalischen Leitung geehrt, wobei sein letzter Auftritt zu diesem Anlass vor haargenau einem Jahrzehnt stattfand. Traditionell liegt die CD bereits wenige Tage später vor, so auch heuer (Sony 19658717382).

Von den insgesamt 18 Stücken der Doppel-CD stellen nicht weniger als 14 Neujahrskonzert-Premieren da, wie ein roter Aufkleber auf der CD-Hülle verheißt. Das ist neuer Rekord und durchaus begrüßenswert. Sieht man sich die Namen der berücksichtigten Komponisten an, so ist Johann Strauss Sohn, fraglos der Spitzenreiter der Wiener Neujahrskonzerte insgesamt, diesmal gerade zweimal auf dem offiziellen Programm vertreten (Zigeunerbaron-Quadrille und die eingängige Schnellpolka Frisch heran!). Freilich, als Zugabe kommt noch der Banditen-Galopp sowie der unvermeidliche Donauwalzer hinzu. Die Tendenz ist gleichwohl eindeutig. Unstrittiger Gewinner ist diesmal sein Bruder Josef Strauss, mit sage und schreibe sieben Werken vertreten. Bereits der Auftakt mit dem großartigen, kaum geläufigen Walzer Heldengedichte spricht Bände über dessen Qualitäten. Von den drei weiteren Walzern aus Josefs Feder ist einzig Aquarellen zurecht berühmt, doch auch Perlen der Liebe und Zeisserln wissen für sich einzunehmen. Hinzu treten zwei Polkas françaises – eine Gattung, in der er besonders brilliert –, nämlich die Angelica-Polka sowie Heiterer Muth – letztere mit Chorbegleitung, heuer erstmals nicht nur durch die Wiener Sängerknaben, sondern auch die Wiener Chormädchen. Mit For ever, einer schnellen Polka, und dem Allegro fantastique wird der „josefinische“ Beitrag beschlossen. Der dritte, lange Zeit übersehene Strauss-Bruder Eduard erfährt auch langsam die Anerkennung, die ihm gebührt. Seine spritzige Schnellpolka Wer tanzt mit? eröffnet das Konzert. Zur selben Gattung gehört auch Auf und davon. Gerne würde man auch einmal einen Walzer Eduards auf dem Konzertprogramm sehen.

Eine andere schöne Entwicklung ist, dass Carl Michael Ziehrer, als Nachfolger der „Sträusse“ der letzte k. u. k. Hofball-Musikdirektor der Donaumonarchie und in Wien deren namhafteste Kontrahent, sich mittlerweile beim Jahrzehnte lang hinsichtlich der Programmgestaltung sehr konservativen Neujahrskonzert etabliert hat. Abermals wird ein großer Walzer aus seiner Feder beigesteuert: In lauschiger Nacht steht gegenüber seinen bekannteren Genrebeiträgen wie Wiener Bürger und Hereinspaziert! kaum nach und gibt wie diese gewisse Rückschlüsse auf Ziehrers langjährige Tätigkeit als Militärkapellmeister. Eine Freude auch, den Namen Joseph Hellmesbergers des Jüngeren abermals auf dem Programm in Form von Glocken-Polka und Galopp zu finden. Schließlich darf seit geraumer Zeit auch Franz von Suppè nicht mehr bei der Programmauswahl fehlen. Wie schon des Öfteren, ist es auch im heurigen Jahr eine Ouvertüre, nämlich diejenige zu seiner komischen Operette Isabella, welche die typischen Stärken dieses Komponisten unter Beweis stellt.

Bleiben die Zugaben als letztes Reservoir von Johann Strauss Vater und Sohn. An der schönen blauen Donau vom Junior hat ganz ohne Frage die längste Aufführungsgeschichte und ermöglicht insofern die breiteste Vergleichbarkeit. Tatsächlich reiht sich Welser-Möst trotz übermächtiger Konkurrenz (Karajan, Prêtre, Muti) durchaus in den vorderen Reihen ein. Überhaupt: Das Neujahrskonzert 2023 ist ohne Frage sein bisher bestes. Ein feuriger Abschluss der bisweilen zur Karikatur zu verkommen drohende Radetzky-Marsch des Seniors. Heuer durchaus mitnichten. Insgesamt eines der besseren unter den vielen Neujahrskonzerten. Daniel Hauser

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Seit nunmehr 80 Jahren beginnt das musikalische neue Jahr mit dem bekanntesten aller Neujahrskonzerte, demjenigen der Wiener Philharmoniker aus dem Goldenen Saal des Musikvereins in Wien (von Sony sind in Folge zwei Viel-CD-Boxen dazu erschienen, dazu nachstehend mehr). 1941 fand dieses Konzert zum ersten Male regulär in der bis heute üblichen Form statt, wenngleich seine Geschichte genaugenommen noch ein wenig weiter zurückgeht, fiel der eigentliche Startschuss doch bereits am 31. Dezember 1939 als Silvesterkonzert. Angesichts dieser Jahreszahlen stellt sich unweigerlich die Frage, in welchem Zusammenhang es überhaupt zu diesen musikalischen Veranstaltungen zur Begehung des Jahreswechsels kam. Ein zumindest mittelbarer Zusammenhang mit der ausgefeilten Propagandamaschinerie der nationalsozialistischen Machthaber lässt sich nach der heutigen Quellenlage nicht abstreiten. Der „Anschluss“ lag nicht lange zurück. Hitler und Goebbels verstanden es, den Nimbus der Musikstadt Wien für die eigenen Zwecke einzuspannen. Die ersten wirklichen Neujahrskonzerte von 1941 bis 1945 fanden dann auch als Benefizkonzerte zugunsten der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ statt.

31. Dezember 1939 – Erstes Neujahrskonzert (eigentlich Silvesterkonzert) der Wiener Philharmoniker. Seit Jahrzehnten präsentieren die Wiener Philharmoniker zum Jahreswechsel ein Programm aus dem Repertoire der Strauß-Dynastie und deren Zeitgenossen. Die Nachfrage für die Hauptdarbietung am Neujahrsvormittag und zwei Begleitkonzerte ist enorm: Karten werden ausschließlich über die Website der Wiener Philharmoniker verlost. Sie kosten für das Neujahrskonzert teilweise über 1.000 Euro. Die Veranstaltungen erreichen durch die weltweite Fernsehübertragung zudem Zuschauer in mittlerweile über 90 Ländern. Seinen Ursprung hat das Spektakel im Nationalsozialismus: Am 31. Dezember 1939, vier Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, geben die Wiener Philharmoniker unter der Leitung des Dirigenten Clemens Krauss ein Johann-Strauß-Konzert. Es wird im Radio übertragen. Die Walzerklänge passen bestens in die Strategie der Nazi-Propaganda. Die leichten Melodien sollen die Sorge um Angehörige an der Front zerstreuen. Die Einnahmen des Silvesterkonzerts stellen die Wiener Philharmoniker zur Gänze dem von Adolf Hitler kurz zuvor eröffneten ersten „Winterhilfswerk“ zur Verfügung. Im Jahr darauf wird das Konzert vom Silvester- auf den Neujahrsvormittag verlegt: Am 1. Januar 1941 spielen die Wiener Philharmoniker – wieder unter der Leitung von Krauss – „zum ersten Mal für die NS-Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude'“, wie es in der Konzertankündigung des „Neuigkeits-Welt-Blatts“ vom 22. Dezember 1940 heißt (… weiterlesen hier). (Quelle WDR)

Interessanterweise gab es beim Neujahrskonzert nach Kriegsende nur temporär einen dezenten Bruch: Leitete die Konzerte in Kriegstagen der ehemalige Wiener Staatsoperndirektor Clemens Krauss, wurde für die Neujahrskonzerte 1946 und 1947 der jüdischstämmige Dirigent Josef Krips dazu berufen. Es ist freilich bezeichnend, dass Krauss trotz seiner Verwicklungen in der NS-Zeit ab 1948 wieder die musikalische Leitung der Konzerte übernahm und diese bis 1954, seinem Todesjahr, ununterbrochen behielt. Für die Musik der Strauss-Dynastie hat Krauss ganz ohne Frage einen immensen Beitrag geleistet und ihr auch zum endgültigen Durchbruch bei den Wiener Philharmonikern verholfen. In der Krauss-Epoche kam es auch zur erstmals am 31. Dezember 1952 erfolgten Voraufführung als Silvesterkonzert.

Nach Krauss‘ unerwartetem Ableben erfolgte eine Art Behelfslösung, indem ab 1955 Willi Boskovsky, Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, einsprang. Diese womöglich zunächst als Provisorium angelegte Lösung führte zu einem Vierteljahrhundert Wiener Neujahrskonzert unter Boskovsky, welcher diesem folglich seinen Stempel fest aufdrückte. Seit dem 30. Dezember 1962 gab es eine zweite Voraufführung, welche bis 1997 als geschlossene Veranstaltung für Angehörige des Bundesheeres firmierte. In diese Ära fällt auch das allmählich immer stärker erwachende internationale Interesse an diesem Konzert, das seit 1959 vom ORF nicht mehr bloß im Rundfunk, sondern auch im Fernsehen ausgestrahlt wurde, ab 1969 schließlich auch in Farbe. Unter Boskovsky kam es auch zu den ersten kommerziellen Einspielungen des Neujahrskonzertes, wobei eine Decca-Platte anlässlich des 25. Jubiläums seines Dirigats 1979 den Anfang machte (das Konzert von 1975 erschien erst nachträglich, zumindest in Japan, ebenfalls).

Die nächsten Jahre ab 1980 dominierte mit dem US-Amerikaner Lorin Maazel wieder ein Dirigent von Weltformat. Dieses Verhältnis erreichte in der Berufung Maazels zum Direktor der Wiener Staatsoper im Jahre 1982 seinen Höhepunkt, doch endete seine Direktion nach nur zwei Jahren aufgrund unüberbrückbarer Konflikte mit der Bürokratie. Interessanterweise blieb sein Engagement beim Wiener Neujahrskonzert davon zunächst unberührt, welchem er noch bis 1986 ohne Unterbrechung vorstand. Die Deutsche Grammophon Gesellschaft brachte indes nur eine Kompilation der Jahre 1980 bis 1983 auf den Markt. Maazel sollte später noch viermal das Neujahrskonzert leiten (1994, 1996, 1999 und 2005).

Der nächste Paukenschlag, der zum absoluten Weltereignis führen sollte, war ohne Frage die Verpflichtung des beinahe 80-jährigen Herbert von Karajan für das Neujahrskonzert 1987. Dieses gilt zurecht bis auf den heutigen Tag als eines der legendärsten und unvergesslichsten aller Neujahrskonzerte. Es war dann auch das erste seit 1979, das einzeln auf Schallplatte und CD erschien (freilich um den herrlichen Kaiser-Walzer gekürzt, der erst in einer späteren Neuauflage ebenfalls inkludiert wurde).

Von 1987 an bürgerte sich eine alljährlich wechselnde musikalische Leitung der Konzerte ein, wobei die meisten Dirigenten mehrmals die Ehre hatten, zu diesem Anlass auf dem Podium zu stehen. Mit Claudio Abbado (1988 und 1991), Carlos Kleiber (1989 und 1992), Zubin Mehta (1990, 1995, 1998, 2007 und 2015), Riccardo Muti (1993, 1997, 2000, 2004, 2018 und 2021), Nikolaus Harnoncourt (2001 und 2003), Seiji Ozawa (2002), Mariss Jansons (2006, 2012 und 2016), Daniel Barenboim (2009 und 2014), Georges Prêtre (2008 und 2010), Franz Welser-Möst (2011 und 2013), Christian Thielemann (2019) und Andris Nelsons (2020) waren es weitere Dirigenten von Weltrang, die von den Wiener Philharmonikern eingeladen wurden. Für 2022 ist wiederum Barenboim, dann 79, designiert.

 

Bereits anlässlich des 75. Jubiläums erschien bei Sony Classical eine Gesamtausgabe sämtlicher bei den Neujahrskonzerten gespielten Werke auf 23 CDs, die nun in einer um drei Discs erweiterten Neuausgabe noch einmal zusätzlich um das gesamte Repertoire der letzten fünf Jahre bereichert wurde (Sony 19439764562). Berücksichtigt sind also Aufnahmen von 1941 bis 2019. Die ganze Bandbreite der Wiener Neujahrskonzerte erzeigt sich anhand des glücklicherweise inkludierten Index der Werke, denn neben der Strauss-Dynastie sind die Komponisten Beethoven, Berlioz, Brahms, Czibulka, Delibes, Haydn, Hellmesberger Vater und Sohn, Lanner, Lehár, Liszt, Lumbye, Mozart, Nicolai, Offenbach, Reznicek, Rossini, Schubert, Stolz, Richard Strauss, Suppé, Tschaikowski, Verdi, Wagner, Waldteufel, Weber und Ziehrer – freilich in unterschiedlicher Quantität – mit dabei. Der Anspruch, der hier erhoben wird, ist gewissermaßen der einer Anthologie der Wiener Musik von den Anfängen am Anfang des 19. Jahrhunderts bis hin zum Ende der Donaumonarchie, angereichert um kleine Ausflüge, die teils mit Komponistenjubiläen in Verbindung standen (so 2013 das große Verdi- und Wagner-Jahr). So tut sich ein Rückblick auf die zwischen 1966 und 1971 für Eurodisc entstandene Reihe Wiener Musik unter Robert Stolz auf, die mittlerweile in einer 12-CD-Box bei RCA neu aufgelegt wurde. Obwohl dort neben den Wiener Symphonikern hauptsächlich die Berliner Symphoniker zum Zuge kamen, erklangen die Werke von Lanner bis Ziehrer doch ungemein idiomatisch und stellen somit eine ernsthafte Alternative dar.

 

Hier wurde streng chronologisch vergangenen. Anders in der Sony-Neuerscheinung, welche die einzelnen CDs unter thematische Oberbegriffe wie An der schönen blauen Donau, Auf der Jagd oder Liebesgrüße stellt. Das ist eine mögliche Vorgangsweise, doch nötigt sie einem fast zwangsläufig den Blick in den erwähnten Index ab, sucht man ein ganz bestimmtes Werk. Wer ein solches unter diesem und jenem Neujahrskonzert-Dirigenten sucht, wird also mit relativ großer Wahrscheinlichkeit mit einem anderen vorlieb nehmen müssen. Und so herausgerissen aus dem abendlichen Kontext bliebt auch die Atmosphäre auf der Strecke – es ist eben nur noch eine (etwas lässliche und beliebige)  Anthologie, kein Miterleben. Hier bleibt dann letztlich bloß der Erwerb der (teilweise nur mehr gebraucht zu findenden) jeweiligen CD des entsprechenden konkreten Neujahrskonzerts.

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Bereits zum zweiten Mal fand das weltbekannte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker am 1. Jänner 2022 während der Corona-Pandemie statt, diesmal zumindest nicht völlig ohne Publikum – wie es Riccardo Muti im Vorjahr widerfahren war –, aber doch mit einer reduzierten Zahl an Zuschauern, sämtlich im Parkett versammelt. Gleichsam schon traditionell zeichnet Sony für die CD-Ausgabe verantwortlich (194399625026). Am Dirigentenpult der Wiener Philharmoniker durfte Daniel Barenboim nach 2009 und 2014 sein drittes Neujahrskonzert leiten.

Barenboim, der im achtzigsten Lebensjahr steht, debütierte schon 1965 bei den Philharmonikern, allerdings in seiner Eigenschaft als Pianist. Als Dirigenten luden ihn die Wiener 1989 erstmals ein. Man darf also mit Fug und Recht von einer sehr langjährigen und engen Partnerschaft sprechen, die den gebürtigen Argentinier mit diesem Klangkörper verbindet. Routine ist dieses Konzertereignis, mit dem stets das musikalische Jahr eröffnet wird, auch für einen Profi wie Barenboim mitnichten. Die gebotene Seriosität war stellenweise gar etwas zu deutlich spürbar. Freilich hat sich Barenboim eingehend mit den Eigenheiten der Wiener Musik auseinandergesetzt und ist besser als manch anderer im Stande, den adäquaten Walzertakt zu schlagen.

Überhaupt standen zwei Werke dieser Gattung im Mittelpunkt, nämlich die vom Dirigenten sehr geschätzten Sphärenklänge, die gemeinhin als Höhepunkt im Schaffen von Josef Strauss gelten und die diesmal den offiziellen Teil des Neujahrskonzerts beendeten, und zum anderen Nachtschwärmer, ein Paradestück des noch immer zu Unrecht im Schatten der „Sträusse“ stehenden Carl Michael Ziehrer, des letzten k. u. k. Hofballmusikdirektors, dessen Todestag sich heuer übrigens zum hundertsten Mal jährt. Bei diesem Walzer durften die Philharmoniker sogar selbst mitsingen und mitsummen. Hier kam dann doch etwas von der Heiterkeit herüber, welche frühere Neujahrskonzerte auszeichnete.

Der Ziehrer-Walzer war eine von nicht weniger als sechs Premieren, wobei allein drei davon auf den genannten Josef Strauss entfielen (der Phönix-Marsch, die Polka mazur Die Sirene und die Nymphen-Polka). Eduard Strauss war zwar auch diesmal der am wenigsten bedachte Strauss-Bruder, doch immerhin erklang seine Schnellpolka Kleine Chronik zum ersten Mal im Rahmen eines Neujahrskonzerts. Das andere Stück des „schönen Edi“ war die Polka française Gruß an Prag. Seit langem hat man den Eindruck, dass man seinen Walzern die Neujahrskonzert-Tauglichkeit nicht so wirklich zutraut. Ein Aufsteiger der letzten Jahre war Joseph Hellmesberger junior, der das letzte Premierenstück Heinzelmännchen beisteuerte – neben dem Galopp Kleiner Anzeiger.

Obwohl Johann Strauss Sohn mit acht von achtzehn Werken noch immer dominiert (darunter der Walzer Tausend und eine Nacht, die Fledermaus-Ouvertüre und der Persische Marsch), ist doch eine gewisse Entwicklung dahin spürbar, seine absolute Dominanz zu brechen, was zu begrüßen ist, hat doch gerade das in alle Welt übertragene Neujahrskonzert aus Wien das Potential, weniger präsente Stücke populärer zu machen. Mit dem Phönix-Schwingen-Walzer gleich zu Beginn nach dem genannten Phönix-Marsch wollte man gewiss ein Zeichen setzen: Wie Phönix aus der Asche. Als Zugabe erklang dann nochmal eine Schnellpolka des jüngeren Johann Strauss (Auf der Jagd), bevor Barenboim in seiner Neujahrsansprache (auf Englisch) seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass das gesellschaftliche Auseinanderbrechen gestoppt werden könne und eine Rückbesinnung auf die Einheit einsetze, wie es die Musiker im Orchester vorlebten.

Den Donauwalzer nahm Barenboim anschließend im eher breiten Zeitmaß – wie er das gesamte Konzert symphonisch auslegte –, bevor der abschließende Radetzky-Marsch (heuer das einzige Werk von Johann Strauss Vater) leider wie üblich vom Publikum zerklatscht wurde. Fast wünschte man sich zumindest an dieser Stelle die Ruhe im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins zurück, wie sie 2021 pandemiebedingt einmalig zustande gekommen war. Wie unlängst Usus, erscheint auch dieses Jahr zusätzlich eine DVD- und Blu-ray-Ausgabe des Konzerts. Für 2023 ist bereits der Österreicher Franz Welser-Möst, dann gleichfalls zum dritten Mal, zum Dirigenten des Neujahrskonzerts bestimmt worden. Daniel Hauser

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Das  Neujahrskonzert 2021 (auf CD als Sony 19439840162) stand im Vorfeld unter einem denkbar schlechten Stern, war seine Durchführung aufgrund der Pandemie doch alles andere als sicher und seine letztendliche Ermöglichung durchaus auch von kritischen Tönen begleitet. Nichtsdestoweniger sorgte das im Annus horribilis 2020 bewährte Krisenkonzept der Wiener Philharmoniker, die sogar eine Japan-Tournee bestreiten konnten, dafür, dass es am Ende unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen stattfinden konnte. Mit Riccardo Muti, im achtzigsten Lebensjahr stehend und gleichsam der Nestor unter den italienischen Dirigenten unserer Zeit, hatte man bereits vor Kenntnis des Jahresverlaufes glücklicherweise einen dem Orchester besonders eng verbundenen Maestro für 2021 vorgesehen, der bereit war, sich den nicht unerheblichen Strapazen und harte Restriktionen, an deren Einhaltung das ordnungsgemäße Procedere geknüpft war, zu unterwerfen.

Die Programmauswahl für 2021 war ohne Frage eine der vielversprechendsten seit langem, fanden doch erstmals drei Komponisten gebührende Beachtung, die zu Unrecht im Schatten der Strauss-Dynastie stehen. Die im selben Jahre 1842 geborenen Carl Millöcker und Carl Zeller gingen besonders als Operettenkomponisten in die Geschichte ein. So nimmt es nicht wunder, dass die dafür ausgewählten Stücke, der Galopp In Saus und Braus von Millöcker und der Walzer Grubenlichter von Zeller, auf Motiven aus zwei Operetten, Der Probekuss sowie Der Obersteiger, beruhen. Für den unbedarften Hörer dürfte vor allen Dingen der Walzer Bad’ner Mad’ln (bezogen auf Baden bei Wien) des österreichisch-tschechischen Komponisten Karl Komzák Sohn ein unerwarteter Höhepunkt des Konzerts gewesen sein. Freilich war dessen Aufnahme ins Neujahrskonzert seit Jahrzehnten überfällig und erstaunte sein bisheriges Fehlen den Kenner.

Kein Geringerer als der vor allem als Wagner-Dirigent unsterblich gewordene Hans Knappertsbusch hatte die Bad’ner Mad’ln zu seinem absoluten Lieblingswalzer erkoren und häufig seine Konzertprogramme damit gewürzt. Man muss bis ins Jahr 1970 zurückgehen, um diesen Konzertwalzer auf einem Programm der Wiener Philharmoniker zu finden (übrigens anlässlich eines Konzerts in Bern unter Boskovsky). Allzu viele Aufnahmen des Werkes gibt es seit Knappertsbusch nicht; Muti hat im Zuge dieses Neujahrskonzerts nun die überzeugendste Interpretation seither vorgelegt. Überhaupt betont dieser Dirigent, gebürtiger Neapolitaner, zurecht die Verbindung zwischen Wien und Italien. Die Walzerseligkeit liegt Muti folglich im Blute und er wurde mit jedem seiner Auftritte beim Wiener Neujahrskonzert idiomatischer.

Daher waren es wirklich gerade die betont sinfonisch angelegten großen Walzer, die die 2021er Veranstaltung zum musikalischen Highlight werden ließen. Neben einem weiteren Werkdebüt – Schallwellen von Johann Strauss Sohn – kam die Crème de la crème der Strauss-Walzer zum Zuge: Frühlingsstimmen (heuer ohne Gesang), der Kaiser-Walzer und natürlich An der schönen blauen Donau. Fürwahr: Breitere Zeitmaße dürfte man bei diesen Hits noch nicht vernommen haben. Den imperialen Kaiser-Walzer bringt Muti auf sage und schreibe 13 Minuten, ohne dass der Spannungsbogen abbräche. So überzeugend hat man dieses späte Glanzlicht im Œuvre des Walzerkönigs seit Karajan nicht gehört. Meisterlich der Einsatz der Rubati, die sich durch eine wahrlich wienerische Note auszeichnen. Muti wäre nicht Muti, käme nicht auch Franz von Suppè, einer seiner heimlichen Favoriten, vor. Mit dem einleitenden Fatinitza-Marsch aus der gleichnamigen Operette begann das Konzert mit dem nötigen Schwung, ohne ins Überschwängliche zu verfallen. Die großartige Ouvertüre zur Operette Dichter und Bauer leitete sodann den zweiten Teil des Konzerts ein. Mit der der ersten Königin des vereinten Italien gewidmeten Margherita-Polka von Josef Strauss setzte der Maestro ein weiteres Zeichen der austro-italienischen Verbundenheit. Dieser Strauss-Sprössling war sodann auch mit der schnellen Polka Ohne Sorgen vertreten. Auch wenn besonders in der zweiten Konzerthälfte die Dominanz des berühmteren Bruders Johann unübersehbar war, kam ihr gleichnamiger Vater neben dem traditionell als Zugabe gespielten Radetzky-Marsch (diesmal zum Glück ohne „Zerklatschen“, daher auch in seiner ganzen Detailfreudigkeit nachvollziehbar) noch mit dem flotten Venetianer-Galopp zu seinem Recht. Ohne Übertreibung darf sich dieses Neujahrskonzert von 2021 unter die herausragendsten einreihen und wurde insofern doch noch zu einem musikalischen Hoffnungsschimmer für das neue Jahr. Daniel Hauser