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Stellt man die Frage, welches das älteste noch existierende Orchester der Welt ist, bedarf es schon fortgeschrittener Kenntnisse der Materie, um korrekterweise die Königliche Kapelle Kopenhagen – dänisch kurzum Det Kongelige Kapel und international The Royal Danish Orchestra – zu benennen. Bis auf das Jahr 1448 gehen ihre Wurzeln zurück und sind in den Kontext der sogenannten Kalmarer Union (Dänemark-Norwegen-Schweden) einzuordnen. So kommt es, dass man im vorigen Jahr das bereits 575. Jubiläum begehen konnte. Anlass genug für Naxos Denmark (das bisher wenig sichtbar in Erscheinung getreten ist), eine Jubiläumsbox auf den Markt zu bringen (8.574650-53).
Gewidmet ist die Kassette – wen sollte es groß wundern – Dänemarks berühmtesten und angesehensten Komponisten, nämlich Carl Nielsen (1865-1931). Dieselbe Generation wie Jean Sibelius und Gustav Mahler, genießt Nielsen in seinem Heimatland bis heute anhaltende Verehrung. Konkret hat sich Naxos sinnigerweise seiner sechs Sinfonien angenommen, die in Einspielungen zwischen 1965 und 2022 inkludiert wurden.
Zumindest zwei dieser Aufnahmen waren zumindest dem Nielsen-Sammler bereits geläufig: Die Dritte (Sinfonia espansiva) von 1965, somit die älteste der Produktionen (und gleichwohl glücklicherweise in klanglich schon sehr brauchbarem Stereo), wird von niemandem Geringeren als Leonard Bernstein dirigiert. Als Solisten fungieren die Sopranistin Ruth Guldbæk und der Tenor Niels Møller. Es hieße Eulen nach Athen tragen, lobte man Bernsteins künstlerische Leistung. Er war einer der ersten Dirigenten von Weltrang, die eine erkennbare Faszination für den dänischen Komponisten aufbrachten und spielte zumindest die Sinfonien Nr. 2 bis 5 für CBS ein. Eben diese CBS-Platte wurde für die neue Box lizenziert, eine gute Wahl. Ebenfalls ein alter Bekannter ist die Einspielung der sechsten Sinfonie (Sinfonia semplice) unter dem Dirigat von Paavo Berglund. Sie ist dessen ein wenig unter Wert gehandeltem Zyklus von 1988/89 entnommen, der seinerzeit bei RCA herauskam und folglich nun ebenfalls in Lizenz neu aufgelegt wird. Ein paar Jahre nach dieser Einspielung wurde Berglund zum Chefdirigenten der Königlichen Kapelle berufen und sollte es fünf Jahre, bis 1998, bleiben.
Dass man für zwei der weiteren Sinfonien wiederum auf ehemalige Chefdirigenten des Orchesters setzte, ist gewiss eine sinnige Entscheidung des Labels. Erfreulich zudem, dass hierfür bis dato unveröffentlichte Tondokumente zum Zuge kamen. Zunächst die Fünfte (Aufnahme: 2015) unter Michael Boder, Orchesterchef von 2012 bis 2016 und tragischerweise völlig unerwartet im April 2024 verstorben. Trotz bedeutsamer Konkurrenz – diese Sinfonie wurde häufig eingespielt – kann sie sich problemlos im Spitzenfeld behaupten. Die zweite Sinfonie (Die vier Temperamente), welche zu Nielsens ausgefallensten Schöpfungen gehört, steuert Alexander Vedernikov, Chefdirigent von 2018 bis zu seinem Covid-bedingten Ableben im Oktober 2020, bei. Tatsächlich handelt es sich um Vedernikovs letztes Konzert, keine zwei Monate zuvor. Die Lesart ist, aus heutiger Sicht beinahe unheimlich, auch im melancholischen dritten Satz erstaunlich lebensbejahend.
Mit Thomas Søndergård setzte man bei der Sinfonie Nr. 1, aufgenommen 2022, auf einen profunden Kenner der nordeuropäischen Sinfonik. Die vielleicht größte Überraschung und sozusagen das Highlight dieses dänischen Zyklus stellt allerdings die Interpretation der Vierten (Das Unauslöschliche) dar. Als Gastdirigent konnte, man höre und staune, Sir Simon Rattle, zum Zeitpunkt dieses Live-Mitschnitts des Dänischen Rundfunks (2013) noch künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker, engagiert werden. Und ohne Frage, der sehr zupackende Zugriff, der sich hörbar auf das Orchester übertrug, förderte eine Höchstleistung zutage (man beachte das „Paukenduell“ im Schlusssatz).
Als Bonus deklariert, findet man auf einer weiteren CD noch das Klarinettenkonzert, Solist: John Kruse, das aus derselben Konzertaufführung wie Die vier Temperamente stammt und folglich ebenfalls von Vedernikov dirigiert wird. Beschlossen wird die Disc mit der Ouvertüre zur Oper Maskarade (2006) unter der Leitung von Michael Schønwandt, die Übernahme einer Dacapo-Einspielung; dergestalt kommt auch noch dieser ehemalige Chefdirigent der Königlichen Kapelle (2000 bis 2011) zum Zuge.
Das Beiheft ist umfangreich, beleuchtet die Geschichte des Klangkörpers und die Bedeutung Nielsens für denselben und ist, neben dem in diesem Zusammenhang naheliegenden Dänisch, zumindest auch in englischer Sprache abgedruckt. Zwar nicht die erste Wahl für einen Nielsen-Zyklus, aber insgesamt doch eine gelungene Erweiterung der mittlerweile recht breit aufgestellten Diskographie. Daniel Hauser