Referenzträchtige „Waldnymphe“

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Der Sibelius-Zyklus unter Santtu-Matias Rouvali aus Göteborg schreitet seiner Vollendung entgegen. Die soeben erschienene jüngste Folge des Projekts (Alpha 1008) wartet mit der – gemäß Andrew Mellor im Bookleteinführungstext – „anspruchsvollsten“ unter den Sinfonien des großen finnischen Komponisten auf: der Vierten. Ihre düstere Grundstimmung geht zweifelsohne auf den seinerzeitigen Gesundheitszustand ihres Schöpfers zurück, hatte dieser doch die riskante Entfernung eines Tumors im Hals hinter sich und musste – zumindest zeitweilig – dem von ihm so geliebten Trinken und Rauchen eine völlige Absage erteilen. Zeitgenössisch stieß das Werk auf starke Widerstände. So weigerten sich die Wiener Philharmoniker 1912, die Partitur einzustudieren (sie sollten sie erst unter Lorin Maazel ein halbes Jahrhundert später erstmals spielen). Aber bereits die Uraufführung im Vorjahr in Helsinki verstörte die Kritiker. Aus heutiger Sicht ist dieses expressionistische Werk ohne Frage mit die kühnste Kreation von Jean Sibelius, weist sie doch bereits weit ins 20. Jahrhundert hinein. Mit seinen vorangegangenen drei Sinfonien hatte die Sinfonie Nr. 4 allerdings wenig gemein und so dauerte es lange, bis man sich ihres Stellenwertes wirklich bewusst wurde. Nie waren sich Sibelius und Mahler, die beiden Antipoden ihrer Zeit (deren einziges Treffen wohl nicht zufällig kurze Zeit zuvor stattgefunden hatte), in ihrer Tonsprache näher. Die Göteborger Symphoniker sind voll in ihrem Element und liefern, angespornt durch das energische Dirigat Rouvalis, eine vollauf überzeugende Lesart, die sich mit den besten in der Diskographie – darunter vor allem der hier maßgebliche Karajan (besonders in seiner früheren Stereoeinspielung für DG) – messen kann.

Aus gänzlich anderem Holz geschnitzt ist die anderthalb Jahrzehnte zuvor komponierte Tondichtung Die Waldnymphe von 1894/95. Sie steht in Nachbarschaft zu den ungleich berühmteren Werken En saga und den Lemminkäinen-Legenden. Tatsächlich lieferte in diesem Falle allerdings nicht die finnische, sondern die schwedische Folklore den Ausgangspunkt, nämlich das gleichnamige Gedicht von Viktor Rydberg (1882). Die Thematik um den Helden Björn, der den Reizen einer im Wald lebenden Sirene erliegt, ihr seine Seele überlässt und schließlich daran zugrunde geht, beschäftigte Sibelius bereits Ende der 1880er Jahre, als er den Stoff erstmals in Liedform vertonte. Es sollten noch ein Melodram für Erzähler, Klavier, zwei Hörner und Streichorchester sowie eine Fassung für Soloklavier folgen. So wagnerisch klang der Finne selten. Eine geradezu soghafte Wirkung, der man sich kaum entziehen kann, entfaltet sich vom ersten Takt an. Der Spannungsbogen wird in den vier Abschnitten bis zum überlebensgroßen Schluss gehalten. Indes distanzierte sich der Komponist später von diesem Jugendwerk. Nach einer einmaligen Wiederaufführung anlässlich seines 70. Geburtstages im Jahre 1935 verschwand es für sechs Jahrzehnte von der Bildfläche. Diskographisch ist die Waldnymphe bis zum heutigen Tage auch deswegen nur mäßig vertreten und fehlen bedauerlicherweise die großen Sibelius-Dirigenten der Vergangenheit unter den Interpreten, weswegen diese weitere Einspielung zum eigentlichen Highlight der Neuerscheinung gerät. Rouvali profitiert nicht zuletzt vom überlegenen Klang der Alpha-Tontechnik und lässt die sehr beachtlichen bisherigen offiziellen Einspielungen hinter sich, welche da wären: John Storgards mit den Helsinkier Philharmonikern (Ondine), Shuntaro Sato mit dem Sinfonieorchester Kuopio (Finlandia), Douglas Bostock mit der Philharmonie Göteborg-Aarhus (Classico) und Osmo Vänskä – mit dessen Namen freilich untrennbar die Wiederentdeckung der Waldnymphe Mitte der 1990er Jahre verbunden bleiben wird – mit der Sinfonia Lahti (gar zweimal bei BIS). Es bleibt die vage Hoffnung, dass andere Dirigenten durch diese ausgezeichnete Neuaufnahme ebenfalls angespornt werden.

Gleichsam als Zugabe gibt es eine inspirierte Darbietung der weltberühmten Valse triste (1904), was diese mit knapp 65 Minuten Spielzeit nicht allzu üppig bestückte CD gediegen abrundet. Das Booklet erfüllt seinen Zweck (Englisch, Französisch, Deutsch). Nun stehen nur mehr die Sinfonien Nr. 6 und 7 aus, um den Göteborger Zyklus zu seinem gebührenden Abschluss zu bringen (29. 02. 24). Daniel Hauser