Mehr als „Notre Dame“

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Der österreichische Komponist Franz Schmidt, geboren 1874 in Preßburg und gestorben 1939 in Perchtoldsdorf bei Wien, ist bis heute vor allem aufgrund seines Oratoriums Das Buch mit den sieben Siegeln und der Oper Notre Dame in Erinnerung geblieben. Sein Œuvre ist vergleichsweise überschaubar, doch durchgängig von hoher Qualität. Während sich seine erste Oper Notre Dame einer gewissen Beliebtheit erfreut (s. nachstehend), scheint die zweite namens Fredigundis vergessen.

Schmidts Sympathien für den Austrofaschismus und sein Eintreten für den „Anschluss“ haben seine Reputation nach 1945 nicht eben befördert (dafür mag auch sein unvollendetes letztes Werk, die Kantate Deutsche Auferstehung von 1938/39, stehen). Gleichwohl gibt es mittlerweile eine recht beachtliche Diskographie seiner Orchesterwerke, die sich primär aus den zwischen 1896 und 1933 entstandenen vier Sinfonien zusammensetzen.

Das Label Accentus legt nun in Kooperation mit BBC Radio 3 eine weitere Gesamteinspielung derselben vor (ACC80544). Verantwortlich zeichnet das BBC National Orchestra of Wales unter dem Dirigenten Jonathan Berman. Die Weltersteinspielung des Sinfonienzyklus besorgte zwischen 1989 und 1996 Neeme Järvi mit dem Detroit bzw. dem Chicago Symphony Orchestra (Chandos). Es folgten Fabio Luisi mit dem MDR Sinfonieorchester (Querstand), Wassili Sinaiski mit dem Sinfonieorchester Malmö (Naxos) und zuletzt Paavo Järvi mit dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt (DG). Im direkten Vergleich nimmt sich Berman überwiegend mehr Zeit, was kein Schaden sein muss. Besonders die zweite und die vierte Sinfonie, die zurecht als Höhepunkte der Schmidt’schen Sinfonik gelten, wurden freilich etwas häufiger aufgenommen, so die Zweite bereits 1958 unter Dimitri Mitropoulos und 1983 unter Erich Leinsdorf – beide Male live mit den Wiener Philharmonikern. Die Vierte erlebte schon 1971 ihre erste Studioproduktion mit demselben Spitzenorchester unter Zubin Mehta (Decca). Insgesamt ist die diskographische Situation als weit davon entfernt, als desaströs gelten zu müssen.

Die Neueinspielung aus der walisischen BBC Hoddinott Hall in Cardiff (entstanden zwischen Jänner 2020 und Oktober 2022) zeichnet sich durch ein klares, alle Instrumentengruppen natürlich abbildendes Klangbild aus. Als über die Maßen ausführlich darf auch das mehr als hundertseitige Booklet gelten, das dreisprachig daherkommt (Englisch, Deutsch, Französisch) und neben grundsätzlichen Ausführungen zu den eingespielten Werken, den Biographien der Beteiligten und Anmerkungen zur künstlerischen Gestaltung auch ein von Martin Hoffmeister geführtes informatives Interview mit dem musikalischen Leiter Jonathan Berman enthält. Selbst in ihren lautesten Momenten verfalle Schmidts Musik niemals der Gefahr des Bombasts und behalte ihre humane Ader, so der Dirigent, der auch die einseitige Charakterisierung des Komponisten als „Organist-Komponisten“ zu relativieren sucht und von einer hörbaren „Wiener Eleganz“ spricht, welche Schmidts Musik auszeichne. Berman zufolge dachte Schmidt auch dann sinfonisch, wenn er keine Sinfonien schrieb. Dies ist gewiss nicht zuletzt der Grund, wieso man auch das Zwischenspiel und die Karnevalsmusik aus der besagten Oper Notre Dame mitberücksichtige. Diese hörenswerte Instrumentalmusik entstand, wie der kundige Begleittext vermittelt, schon vor der Fertigstellung, womöglich sogar vor der Konzeption der Oper, stellt insofern also keine Art orchestrale Suite von Auszügen derselben dar.

Franz Schmidt-Denkmal: Wien-Ober Sankt Veit, Ghelengasse.
Die Büste schuf Hilde Uray 1954, (siehe das Bild mit ihrer Signatur); der Bronzeguss stammt aus der Kunstgießerei Alfred Zöttl, Wien.
Die Enthüllung fand am 16. Juni 2005 statt./ Wikipedia/ Foto Thomas Ledl

Bereits in der zwischen 1896 und 1899 komponierten Sinfonie Nr. 1 zeigt sich eine bemerkenswerte Originalität. Anders als viele seiner anderen Jugendwerke, entkam sie der späteren eigenhändigen Vernichtung durch ihren Schöpfer, was nicht wundernimmt, erhielt Schmidt dafür doch den begehrten ersten Preis der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, wo 1902 dann auch die Uraufführung unter seiner Leitung stattfand. Das großangelegte viersätzige Werk von einer Dreiviertelstunde, welches der Erzherzogin Isabella gewidmet ist, tat Schmidt Jahre danach als „Schulstück“ ab, doch sind seine Qualitäten unbestreitbar vorhanden. Mit der noch ausladenderen dreisätzigen Sinfonie Nr. 2 (1911-13) legte er kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereits ein Opus magnum vor, das in seinen orchestralen Dimensionen an Mahlers Opulenz erinnert. Anfangs tatsächlich als Klaviersonate konzipiert, folgt auf den eher konventionellen Kopfsatz ein Allegretto mit nicht weniger als zehn Variationen, gewissermaßen ein Zwitter aus langsamem Satz und Scherzo. Im Finale gibt es neuerlich tönende Reminiszenzen an den ersten Satz. Beschlossen wird die zweite Sinfonie durch einen gewaltigen Choral, der in seinen Dimensionen entfernt an die Apotheose am Ende von Bruckners Fünfter erinnert, ohne diese auch nur ansatzweise kopieren zu wollen. Wesentlich später, nämlich erst 1927/28 komponierte Franz Schmidt seine Sinfonie Nr. 3. Sie konnte immerhin den zweiten Preis des Schubert-Wettbewerbs 1928 (100. Todestag) einheimsen (hinter Kurt Atterberg). Den Kriterien der Preisausschreibung folgend, ist sie „im Geiste Schuberts“ geschrieben, insofern also orchestertechnisch bewusst deutlich kleiner, geradezu pastoral angelegt und wiederum der klassischen Viersätzigkeit folgend. Aufgrund ihrer archaischen Konstruktion wirkt sie ein wenig anachronistisch, doch handelte es sich augenscheinlich um die vom Komponisten selbst favorisierte unter seinen Vierlingen. Mit der Sinfonie Nr. 4, 1932/33 kurz nach dem Tode seiner Tochter entstanden, kam Schmidts sinfonisches Schaffen an seinen Schlusspunkt. Fraglos hat er autobiographische Aspekte verarbeitet, wovon der darin enthaltene gewaltige Trauermarsch zeugt. Wiederum viersätzig entworfen, stellt das einstündige Werk den instrumentalen Gipfel seines Werkverzeichnisses dar. Ein Trompetensolo leitet den Kopfsatz ein und mit einem eben solchen klingt die Finalcoda aus. „Sterben in Schönheit, während das ganze Leben noch einmal vorbeizieht“, beschrieb der Komponist es selbst. Ihrem Widmungsträger Oswald Kabasta gegenüber – der 1934 auch die Erstaufführung verantwortete –, betonte Schmidt, dass es sich um sein wahrhaftigstes und innigstes Werk überhaupt handle.

Eine in allen Belangen überzeugende Neuerscheinung, die dem Sinfoniker Franz Schmidt hoffentlich noch mehr das Gehör verschafft, welches ihm gebührt, und zudem dazu anregen mag, eine seiner Sinfonien künftig öfter aufs Konzertprogramm zu setzen. Das anstehende Schmidt-Jubiläumsjahr 2024 (150. Geburtstag) böte dazu mannigfaltige Möglichkeiten. Daniel Hauser

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PS.: Es wäre eine arge Unterlassung, wiesen wir nicht etwas ausführlicher auf das Bekannteste in Sachen Franz Schmidt hin, nämlich seine hinreißende Oper Notre Dâme (in zwei Aufzügen, Text nach Victor Hugo von Franz Schmidt und Leopold Wilk; komponiert: 1902–1904, Uraufführung: Wien 1914, also auch noch Kriegsware!), die – heute kaum noch aufgeführt – seine eigentliche Berühmtheit ausmacht. Leider verstellt die ziemlich abscheuliche, einzige Studioeinspielung bei CAPRICCIO den Zugang, denn weder Gwyneth Jones oder James King noch der Rest machen Lust aufs Hören. Und die antike Einspielung vom Bayerischen Rundfunk 1949 unter Hans Altmann mit dem brüllenden Hans Hopf und der kullernden Hilde Scheppan hat ihre Dienste mehr als getan. Nein, man muss sich den Sammlern zuwenden, um den wirklich mitreißenden Mitschnitt aus der Wiener Volksoper 1975 unter Wolfgang Schneiderhahn mit der vor Sinnlichkeit fast berstenden Julia Migenes neben dem charismatischen, abgründigen Ernst Gutstein nebst Walter Berry und Joseph Opferwieser als Geliebter Phoebus zu ergattern. In gutem Stereo kam er kurzfristig auf grauen Labels heraus, aber Discogs hats mal wieder (gegen einen Preis!). Für mich die ideale Aufnahme – packend wie ein Hollywood-Reißer und extrem gut gesungen. Von 2001 gibt´s noch eine Radio-Aufnahme aus Montpellier mit einer lethargischen, aber stimmlich leuchtenden Brigitte Hahn neben einer soliden internationalen Besetzung. Aber die Migenes plus cast in Wien ist es.

Und in Sachen Fredigundis reisst eine alte Wiener Rundfunkaufnahme von 1979 unter dem verdienstvollen Ernst Märzendorfer mit der unterpowerten Dunja Vejzovic trotz des von vielen geliebten Werner Hollweg nicht viel heraus (auch diese nur noch bei Discogs und Sammlern). G. H.