Orientalismus á la russe

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Die russische Musik des 19. und 20. Jahrhunderts erfreut sich anhaltender Beliebtheit, was als Hoffnungsschimmer in der aufgeheizten Stimmung der Jetztzeit gelten darf. SWR Classic legt nun als eine Neuerscheinung eine etwa zehn Jahre alte Eigenproduktion unter Dmitri Kitajenko vor, die dem Rechnung trägt (SWR19138CD). Das Herzstück bildet mit gut 51 Minuten Spieldauer die Sinfonische Suite Scheherazade von Nikolaj Rimski-Korsakow, gleichsam als Beigabe ergänzt um den Verzauberten See von Anatoli Ljadow, vom Komponisten selbst als Ein Märchenbild für Orchester bezeichnet. Zumindest gefühlt war die exotische Scheherazade vor einigen Jahrzehnten gleichwohl noch populärer, wovon zahlreiche berühmt gewordene Einspielungen zeugen, darunter so überzeugende Lesarten wie jene von Ernest Ansermet (Decca), Fritz Reiner (RCA Victor), Sir Thomas Beecham (EMI), Leopold Stokowski (Decca) und Kirill Kondraschin (Philips). Im Konzertsaal erklingt sie heutzutage nicht mehr ganz so häufig, was ihr von ihrem Rang indes nichts nimmt. Kitajenko genehmigt sich insgesamt mehr Zeit als andere Dirigenten, ein wenig an Sergiu Celibidache (EMI) gemahnend, aber doch im Zugriff zupackender. Mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR – mittlerweile im SWR Symphonieorchester aufgegangen – steht ein hervorragendes Ensemble zur Verfügung, dessen Stärken man ausgerechnet in diesem Repertoire nicht unbedingt vermuten würde. Das Orchester ist fabelhaft aufgestellt und bildet die volle Bandbreite der farbigen Partitur ab. Die Hintergrundgeschichte beruht auf der berühmten Erzählung Tausendundeine Nacht und verbindet die meisterhafte Orchestrationskunst, für welche Rimski-Korsakow zurecht berühmt war, mit der orientalischen Exotik, die im zeitlichen Rahmen des Ausgreifens des russländischen Zarenreiches in den muslimisch geprägten zentralasiatischen Raum um 1880 gleichsam ihren natürlichen Platz hat. Innerhalb der vierteiligen Tondichtung nimmt die Solovioline eine wichtige Rolle ein und das Ganze gerät stellenweise beinahe wie ein Konzert für Violine und Orchester. Mit der Australierin Natalie Chee hat die Einspielung eine vorzügliche Vertreterin ihrer Zunft vorzuweisen, die gerade die lyrischen Momente auskostet. Der verzauberte See, hier etwa achtminütig, gerät zur adäquaten Zugabe und zeigt besagten Ljadow als würdigen Nachfolger Rimskis, wiewohl der Jüngere viel weniger Orchesterwerke hinterließ. Christoph Schlüren hebt in seinem lesenswerten Einführungstext (Deutsch, Englisch) zurecht die verfeinerte Orchestrierung Ljadows hervor. Der 1940 im damaligen Leningrad geborene Kitajenko ist in beiden Werken hörbar „zu Hause“. Glücklicherweise darf auch der klangliche Aspekt der Produktion als überaus überzeugend bezeichnet werden (Aufnahme: Stuttgarter Liederhalle und Mannheimer Rosengarten, Juni 2013 und November 2014). Daniel Hauser