Noch eine „Romantische“

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Bruckner-Zyklen gibt es viele, darunter nicht wenige gute, und ihre Zahl hat sich zumal in letzter Zeit noch einmal gesteigert (Jubiläumsjahr). Und doch stechen einige besonders heraus. Die Akribie, mit der sich Gerd Schaller und „sein“ Label Profil/Hänssler der diskographischen Erschließung des sinfonischen Schaffens Anton Bruckners widmen, ist in seiner Breite ohne Frage bewundernswert. Oberflächlich mag man sich bei der jetzigen Neuerscheinung (PH23086) fragen: Schon wieder die Vierte? Gab es die nicht bereits? Und die Antwort lautet sowohl ja als auch nein. Zum einen ja, denn tatsächlich spielte Schaller mit der Philharmonie Festiva besagte Sinfonie Nr. 4 alias die Romantische, bis heute eine der beliebtesten und vermutlich auch die am häufigsten aufgeführte, schon mehrfach ein: Bereits 2007 in der gängigen Fassung von 1878/80/Edition Nowak (PH11028), sodann 2013 wiederum in dieser Fassung, allerdings mit dem sogenannten „Volksfest-Finale“ (PH13049), und zuletzt 2021 in der Erstfassung von 1874/Edition Nowak (PH22010). Allerdings auch nein, weil die jetzige Neuaufnahme die Letztfassung von 1888 enthält, editiert von Benjamin Korstvedt. Nichtbrucknerianer werden sich nun vielleicht denken: Braucht’s das? Und sogar manch ein Bruckner-Enthusiast mag darob insgeheim schmunzeln. Fakt ist allerdings schon, dass diese Korstvedt-Edition, die vor 20 Jahren entstand, bis heute relativ selten eingespielt wurde. Den Anfang machte 2005 der Japaner Akira Naito (Delta Classics), gefolgt von Osmo Vänskä (BIS, 2009), Franz Welser-Möst (Arthaus, 2012), Jakub Hrusa (Accentus, 2020), Remy Ballot (Gramola, 2021) und Markus Poschner (Capriccio, 2021). Wie man sieht, erst in jüngster Zeit eine gewisse Häufung. Und in der Tat, Gerd Schallers Lesart liefert neue Aspekte. Das liegt schon einmal an den vergleichsweise flotten Tempi. Mit 59 Minuten Gesamtspielzeit unterbietet er den bisherigen Rekordhalter Poschner noch einmal um zwei Minuten. Ballot benötigt, gleichsam „celibidachesk“, sage und schreibe über 19 Minuten mehr als Schaller. Gerade im langsamen Satz nimmt Schaller die Tempobezeichnung Andante genauer als alle anderen, denn es ist eben kein Bruckner-typisches Adagio. Ein frischer Zugang, der sich in den übrigen Sätzen nicht weniger widerspiegelt. Naturgemäß fällt der Tempounterschied im Scherzo zwischen den verschiedenen Interpretationen am geringsten aus, stets zwischen neun- und knapp zehnminütig; einzig Ballot kommt auch hier auf elf. Im Booklet (auf Deutsch und Englisch) einmal mehr ein informatives Interview mit dem Dirigenten. Keiner der vielen Fassungen will Schaller einen eindeutigen Vorzug geben. Da spricht der profunde Kenner. Die schon traditionell sehr gut eingefangenen Produktionen des Bayerischen Rundfunks – Studio Franken lassen klanglich kaum zu wünschen übrig, was auch am erwiesenermaßen adäquaten Aufnahmeort, der Klosterkirche Ebrach, liegt (Aufnahme: 20. August 2023). Die Philharmonie Festiva kann es in Sachen Bruckner-Exegese problemlos mit berühmteren Klangkörpern aufnehmen und brilliert in allen Gruppen. Kurzum: Empfehlung obligatorisch. Daniel Hauser