Archiv für den Monat: März 2018

Jugendwerke zum Geburtstag

 

Manche Preise führen einen recht verwirrenden Titel – so wurde der renommierte Rom-Preis, einer der wichtigsten musikalischen Auszeichnungen des 19. Jahrhunderts, nicht etwa an italienische Komponisten vergeben, sondern an französische. In der Edition des Palazetto Bru Zane bei ediciones eingulares werden die interessantesten Preisträger vorgestellt. Dem jungen Charles Gounod ist zu seinem Jubiläum 2018 die 6. Folge gewidmet.

Der Prix de Rome: Das ist ein Musik-Preis des Pariser Konservatoriums, der seit 1803 vergeben wurde. Die Gewinner erhielten Italien-Stipendium und konnten dann in Rom Musik vor Ort studieren. Erhalten haben ihn zum Beispiel Berlioz, Dukas, Camille Saint-Saëns sowie Bizet. Und eben auch Charles Gounod, dessen opernhafte Kantate „Fernand“ 1839 den ersten Preis gewann. Beworben hat er sich dreimal – auch die beiden Kantaten die keinen ersten Preis gewannen, wurden hier eingespielt: „Maria Stuart et Rizzo“ (1837) und „La Vendetta“ (1838).

Die Idee, mit der raren Musik der Preisträger (diese Werke dienten nur akademischen Zwecken und wurden oft nur gelesen, nicht aufgeführt, so dass sie bis heute kaum jemand gehört hat) eine eigene CD-Edition zu bestücken, klingt erst einmal wieder nach einem Schreibtischeinfall. Musik von Studenten aus dem 19. Jahrhundert – so berühmt die Namen auch sein mögen – das muss nicht unbedingt spannend sein.

Aber weit gefehlt: Um den Rompreis zu gewinnen, brauchte es ein extrem hohes Niveau. Und das meiste, was hier auf mittlerweile sechs Alben zu hören ist, besticht durch enorme Qualität. Und oft, wie im Fall Gounod, ist es natürlich auch faszinierend herauszufinden, wie viel vom späteren berühmten Komponisten man schon erahnt.

Gounod wirkt schon in den drei Kantaten ganz als der feinsinnige, visionäre Opernkomponist der er später einmal sein wird. Manches ist vielleicht melodisch noch nicht so exquisit wie im Faust und der Mireille, aber die Szenen haben schon einen erstaunlichen dramatischen Drive. Und vor allem bestechen fast alle Nummern durch rhythmische Finessen.

Frühe Meisterwerke: Außergewöhnlich an Gounod war, dass er sich nie so recht entscheiden konnte, ob er nun Opern- oder Kirchenmusiker sein wollte. Er war leidenschaftlicher, schwärmerischer Katholik, und von Anfang an hat er sich in beiden Richtungen ausprobiert.

Die zweite CD des Albums dokumentiert die geistliche Musik, die Gounod während seines Rom-Aufenthalts komponiert hat bzw. die hier inspiriert wurde. Gounod war zutiefst bewegt von Orten wie der Sixtinischen Kapelle, aber auch von Palestrinas Musik, die er hier kennenlernte. Die Kirchenmusik auf dieser CD (zwei Messen und zwei kleinere Werke) ist der eigentliche Schatz, der hier gehoben wird, die wirkliche Entdeckung. Die Kantaten sind Übungsstücke, die Messen frühe Meisterwerke.

Prachtvoll und Luxuriös: Die Prix-de-Rome-Reihe des Labels ediciones singulares gehört zu den aufwändigsten und liebevollsten Klassik-Editionen der letzten Jahre. Schon allein die Aufmachung ist atemberaubend, sie ist gestaltet wie ein Buch mit vielen informativen Texten. Leider sind diese – einziger Wermutstropfen – nur in französischer und englischer Sprache.

Beeindruckend auch, was hier an Sängern aufgeboten wird, schon allein quantitativ. Man hätte an Solisten für die drei Kantaten und vier Kirchenwerke eigentlich nur vier bis fünf Interpreten gebraucht. Aufgeboten wurden neun, jede Kantate ist anders besetzt, in heutigen Zeiten der Sparzwänge wirklich verschwenderischer Luxus.

Vielleicht ist nicht jeder Sänger eine absolute Idealbesetzung, aber kleine Schwächen verteilen sich eben gut auf den beiden CDs. Zusammengehalten wird alles sehr souverän vom Dirigenten Hervé Niquet, der die Werke wirklich jugendlich und mit Verve zelebriert und in jedem Takt den großen Respekt spüren lässt, den er vor diesen frühen Arbeiten des Komponisten hat. Ein mehr als nur würdiges Geburtstagsgeschenk an den 200 Jahre jungen Gounod (Preisträger Prix de Rome, Vol. 6: Charles Gounod; mit Gabrielle Philipponet, Sopran, Chantal Santon-Jeffery, Sopran, Sebastien Droy, Tenor, Alexandre Duhamel, Bass; Flämischer Radiochor; Brüsseler Philharmoniker; Hervé Niquet; Ediciones singulares 1030/ Foto oben „Marie Stuart“ – Illustration zu Niedermeyers gleichnamiger Oper bei Chocolat Guerrier). Matthias Käther

Die Leuchtende

 

Anlässlich ihres achtzigsten Geburtstags (am 11.02.2018) würdigt Deutsche Grammophon das Werk der schweizerischen Ausnahmesopranistin Edith Mathis mit dieser Ausgabe auf sieben CDs. Die Aufnahmen sind zwischen 1960 und 1984 entstanden und bieten einen Überblick über Mathis‘ Schaffen in den Bereichen Oper, Oratorium und Lied. Erstmals auf CD erscheint hier, neben Einspielungen zusammen mit Größen wie Christoph Eschenbach, Wolfgang Sawallisch, Karl Richter, Carlos Kleiber oder Seiji Ozawa, eine Auswahl aus Mathis‘ Interpretationen aus Wolfs Italienischem Liederbuch mit Karl Engel. Darüber hinaus sind Aufnahmen mit Karl Böhm enthalten, der für Mathis wohl künstlerisch prägendste Dirigent, der sie auch mit Deutsche Grammophon in Kontakt brachte. Ergänzt wird das Set durch ein 40-seitiges Booklet, in dem Peter Hagmann, aufbauend auf einem Interview mit Edith Mathis, speziell geführt für die Box, durch das Repertoire leitet. DG

 

Zum achtzigsten Geburtstag von Edith Mathis hat die Deutsche Grammophon eine Kassette mit sieben CDs mit Aufnahmen der Schweizer Sängerin auf den Markt gebracht, die den verzückten Hörer aus dem Staunen nicht herauskommen lässt. Dieses gilt gleichermaßen der schönen Sopranstimme wie dem auf drei der CDs festgehaltenen Liedrepertoire, das einmal mehr den Kopf darüber schütteln lässt, dass dieses kostbare Erbe im Musikleben von heute eine so geringe Rolle spielt, ist man doch geradezu berauscht von dem Melodienreichtum der Brahmsschen Volkslieder, Duette, Liebeslieder-Walzer, die dazu noch in einer nicht zu überbietenden Besetzung mit neben der Jubilarin Brigitte Fassbaender, Peter Schreier und Dietrich Fischer-Dieskau vorgestellt werden. Diese und die auf den CDs 5 und 6  festgehaltenen Lieder von Schumann, Mozart und Wolf zu hören, ist das reinste, kompletteste Vergnügen, dass man sich denken kann, und der Mathis gelingt es sogar, die Texte von Frauenliebe und -leben goutierbar zu gestalten. Die Frische, das hörbare Engagement, mit der, vor allem von Karl Engel oder Christoph Eschenbach am Klavier begleitet, u.a. das Italienische Liederbuch und die Gesänge aus Wilhelm Meister interpretiert werden, sind zutiefst berührend und eine reine Freunde.

Die ersten beiden CDs sind Geistlichem gewidmet, beginnend mit Bachs „Jauchzet Gott in allen Landen“, in denen die Reinheit und Klarheit des Soprans, die Präzision auch in den Prestoteilen besonders zur Geltung kommen. Die sanfte, runde Höhe, das Wissen um die Bedeutung von Rezitativen, die bruchlos durch alle Register geführte Stimme, die angemessen instrumental geführt wird, lassen keinen Wunsch offen. Für „Wie freudig ist mein Herz“ hat die Stimme einen schönen Jubelton, lieblich ist ihr Klang für „Lebens Sonnen“, und eine schöne Melancholie ohne Larmoyanz bringt „Seufzer, Tränen“ zur Geltung.

Edith Mathis: Mozarts Susanna vom Dienst, nicht nur in Berlin, Wien und München/ Foto Buhs/DG

Noch leuchtender und energischer scheint der Sopran in den Stücken aus Händels Messias zu sein, und frischer als in den Arien aus Haydns Jahreszeiten ( gemeinsam mit Siegfried Jerusalem) kann ein Sopran nicht klingen. So altmodische Vokabeln wie lieblich oder anmutig drängen sich beim Hören von den Ausschnitten aus der Schöpfung auf, große Bögen sind dem Adler gewidmet und feine Schwelltöne wetteifern mit denen von Fischer-Dieskau.

Klar führt der Sopran in Mozarts Requiem, aufblühen kann er bei Dvorák, und eine tröstende Engelsstimme scheint der Hörer in Brahms‘ Deutschem Requiem zu vernehmen.

Die dritte CD ist ganz Mozarts Opernpartien gewidmet, allerdings fehlen leider Pamina (Welch schöne Erinnerungen knüpfen sich daran!) und Contessa, stattdessen sind es die „leichteren“ Damen, die sie hier verkörpert. So ist die Mathis eine Zaide voller vokaler Anmut, eine innige, verletzliche Ilia von sanfter Melancholie und eine Susanna kapriziöser Zärtlichkeit. Auch ihre Zerlina ist keine Soubrette, hat eine ausgesprochen gute Mittellage. Das gilt auch für Marzelline aus Fidelio, die sehnsüchtig und doch auch energisch klingt und einen wunderbar poetischen Beginn des „Mir ist so wunderbar“ hören lässt. Unter Carlos Kleiber war die Mathis das Ännchen mit komischer Dramatik für den Kettenhund und mädchenhafter Frische für den Schelm und den schlanken Burschen. Dass Edith Mathis auch Mezzopartien sang (Sie war ein begehrter Cherubino.) kann man an der Marguerite aus Berlioz‘ Faust-Vertonung nachvollziehen. Wunderschön leuchtet „D’amour l’ardente flamme“, während die Stimme ihrer Sophie mit dem silbernen Glanz der Rose wetteifert.

Also: ein würdiges Geburtstagsgeschenk und für den Hörer Quell des Entzückens für eine wunderschöne Stimme und ein größerer Beachtung würdiges Repertoire (Lieder!) (DG 7 CD 479 8337). Ingrid Wanja  

Anschluss und Ausschluss

 

„Barbara Denschers Buch ist eine Fundgrube für Informationen zu einem halben Jahrhundert Operetten- und Theatergeschichte, und zugleich ein bewegendes Dokument jüdischen Lebens in Wien.“ Das schreibt der Librettologe und Romanist Albert Gier im nachstehenden Artikel zum neuerschienenen Buch von Barbara Denscher im transcript Verlag über den Librettisten von Johann Strauss und Franz Léhar, Victor Leon. Dieses hervorragend recherchierte Buch lässt eine vergangene Welt neu erstehen und hat über das Sujet der Operette hinaus eine enorme Wichtigkeit für die Wissens- und Erfahrungsvermittlung. Kevin Clarke vom Operetta Research Center Archive, auf deren Seite dieser Artikel, erstmals erschien,  stellte uns Albert Giers Artikel mit sehr freundlicher Genehmigung des Autors zur Verfügung. G. H.

 

Victor Léon (1858-1940, hier links neben seinem langjährigen Komponistenpartner Franz Léhar/ Dank an ORCA) hat im Lauf seiner mehr als fünfzigjährigen Theater-Karriere über hundert Bühnenstücke geschrieben, knapp die Hälfte davon wird auf dem Titelblatt als „Operette“ bezeichnet (die Grenzen zu eng verwandten Gattungen wie „Singspiel“ oder „Vaudeville“ sind fließend). Er verfasste (oft gemeinsam mit Partnern) die Bücher zu bis heute vielgespielten Werken wie Der Opernball (Richard Heuberger), Der Rastelbinder und Die lustige Witwe (Franz Lehár), Der fidele Bauer und Die geschiedene Frau (Leo Fall). Léon war eine Schlüsselfigur der Wiener Operettenszene von den 1880ern bis in die 1920er Jahre. Dennoch hat ihn die (insgesamt überschaubare) Forschung zur Operette bisher ebenso vernachlässigt wie die meisten seiner Librettisten-Kollegen. Zum einen wirkt hier die Diffamierung der meist jüdischen Textdichter durch die nationalsozialistische Hetzpresse nach, zum anderen bildungsbürgerliche Vorurteile gegenüber angeblich minderwertigen Libretti: Das Libretto sei „derjenige Teil der Oper, auf den einzugehen nicht lohnt“, schrieb sarkastisch Peter Hacks[1], als Verfasser mehrerer Libretti ein Betroffener. Wenn aber schon die Opernbücher durchweg schlecht sind, was soll man dann von den Texten der mit hochnäsiger Ignoranz verachteten Operette erwarten?

Umso erfreulicher ist es, dass  Barbara Denscher Victor León eine mehr als 500 Seiten umfassende, ungemein detaillierte „Werkbiographie“ gewidmet hat (sie ist aus ihrer Wiener Dissertation hervorgegangen, vgl. S. 14). Die Quellenlage zu Léons Karriere ist hervorragend: Sein Nachlass, „48 große Boxen mit 894 Mappen und mehreren tausend Einzeldokumenten“ (S. 13), wurde von seiner langjährigen Geliebten und Freundin Anna Stift durch die Wirren des Krieges gerettet und gelangte nach ihrem Tod (1994) in die Wienbibliothek im Rathaus. Barbara Denscher hat aber nicht nur Léons Nachlass vollständig ausgewertet, sondern z.B. zur Karriere seines Vaters, der Rabbiner in Senica (Slowakei), Pécs (Ungarn), Augsburg und möglicherweise München war, ehe er Anfang der 1870er Jahre nach Wien zog, wo er als Journalist und Chefredakteur verschiedener Zeitschriften tätig war, und zu Victors frühen Jahren auch andere Archive konsultiert; für die Uraufführungen seiner Bühnenwerke und den Erfolg beim Publikum werden häufig Presseberichte herangezogen. Das Buch ist hervorragend dokumentiert und dürfte das, was sich über Victor Léons Karriere noch in Erfahrung bringen lässt, weitgehend vollständig zusammenfassen.

Dabei stellt sich die Verfasserin auch die Frage, inwieweit Léons individuelle Biographie und Karriere repräsentativ sind für seine „historischen Lebenswelten“, die „Sozialgruppe“, der er angehört (S. 13). Als sehr erfolgreicher Vertreter des assimilierten Judentums war Léon immer wieder mehr oder weniger versteckten antisemitischen Anwürfen ausgesetzt. Als vielbeschäftigter Librettist interagierte er mit Koautoren, Komponisten, Theaterdirektoren und Sängern, daher gibt das Buch auch Einblick in den Operettenbetrieb vor und nach dem Ersten Weltkrieg.

„Vilja, oh Vilja“: Victor Léons und Franz Léhars Dauerbrenner im Frontespiece des Klavierauszugs/ ORCA

Nachdem er das Gymnasium abgeschlossen hatte, wurde Léon 1877 in die Schauspielschule des Konservatoriums aufgenommen. Etwa gleichzeitig begann er, für von seinem Vater herausgegebene Zeitschriften Erzählungen, Gedichte und auch „Theater-Causerien“ zu verfassen (Barbara Denscher informiert ausführlich über diese frühen Arbeiten). 1877 schrieb er für einen befreundeten Komponisten sein erstes (verlorenes) Operettenlibretto Nausikaa im Stil der Antike-Travestien Jacques Offenbachs, das das Interesse F. Zells (eig. Camillo Walzel) erregte, der damals mit Richard Genée das produktivste und erfolgreichste Librettisten-Tandem bildete. Einen ersten großen Erfolg erzielte Léon 1881 mit der abendfüllenden Operette D’Artagnan und die drei Musketiere nach dem Roman von Dumas, die u.a. in Lemberg, Hamburg, Budapest, Linz und Prag gegeben wurde; der Komponist Rudolf  Raimann ist heute völlig vergessen, wie die meisten Musiker, mit denen Léon in diesen frühen Jahren zusammenarbeitete.

Nicht alles, was der junge Dichter zur Aufführung brachte , war originell: Der Einakter Tao-Ti-Ti (Musik von Franz Rumpel, 1884, Ronacher-Theater im Prater) ist der Inhaltsangabe (S. 51) zufolge ein Plagiat von Offenbachs Île de Tulipatan, nur wurde der Schauplatz (zweifellos zwecks Verschleierung) nach China verlegt.

Einen Karrieresprung bedeutete 1887 Léons Zusammenarbeit mit Johann Strauss, obwohl Simplicius nach dem Roman von Grimmelshausen bestenfalls ein halber Erfolg war. Der Komponist, der sich (wie Léon sich später erinnerte) für den Stoff spontan begeisterte (S. 70), war mit dem Libretto (vor allem mit dem II. Akt) dann weniger zufrieden: „Dieser Kerl Léon lässt sich nichts sagen“, schrieb er an seinen Theateragenten Lewy (S. 78) – eine gewisse Halsstarrigkeit, gepaart mit Empfindlichkeit und der Neigung zu Temperamentsausbrüchen[2], scheint dem Librettisten in der Tat eigen gewesen zu sein, und er hat damit wohl sich und anderen gelegentlich das Leben schwer gemacht.

Barbara Denscher: Der Operettenlibrettist Victor Léon, transcript Verlag Bielefeld, 516 Seiten, ISBN-13: 9783837639766

Frau Denscher dokumentiert die Auseinandersetzungen um das Simplicius-Buch genauer, als das in der bisherigen Forschung geschehen ist. Sie zitiert auch einen Brief Léons an Strauss, in dem der Librettist sich das Ziel setzt, „wahre Menschen“ zu zeichnen und „eine Handlung […] mit menschlichen Conflicten, menschlichen Situationen“ zu entwerfen (S. 83). 1934 erinnerte er sich, ihm habe für Simplicius „der crasse Verismo“ vorgeschwebt, wie er wenig später die Opernbühne eroberte (S. 84). Die Frage sei gestattet: Hat das in der Operette jemals funktioniert? Rückt nach Wagner die regelmäßige Periodik der Operettenmusik Figuren und Geschehen nicht automatisch in eine Distanz, die ‚Wahrhaftigkeit‘ nicht zuläßt, weshalb auch der Text ein Distanz schaffendes Element – Karikatur oder Satire (Offenbach), Absurdität (Gilbert & Sullivan), Märchenhaftigkeit, Exotismus… – benötigt, wenn nicht ein inkohärentes Konglomerat entstehen soll? Max Kalbeck, der Simplicius als „eigenthümliches Misch- und Zwittergeschöpf“ aus komischer Oper und Operette bezeichnete (S. 89), hat das Dilemma zutreffend benannt.

1886-1900 entstanden nicht weniger als sechzehn Bühnenwerke in Zusammenarbeit mit Heinrich von Waldberg; die Presse sprach oft von ihrer „Firma“, oder auch von einer „Fabrik mit Dampfbetrieb zur Herstellung von Theaterstücken“ (S. 125f.). Spezialität der beiden war die Bearbeitung französischer Stücke (S. 136f.), in diesem Bereich traten sie die Nachfolge von Zell und Genée an. Auch als dramaturgischer Berater von Ignaz Wild, der 1894 die Leitung des Theaters in der Josefstadt übernahm, richtete Léon den Blick vor allem nach Frankreich. Bei der Eröffnungspremière (Operette Tata-Toto, Text Bilhaud/Barré, Musik Antoine Banès, 28.9.1894) führte er auch Regie (S. 140f.); seine Inszenierungen wurden in der Presse immer häufiger (und meist lobend) erwähnt.

Der Opernball (1898) für Richard Heuberger ist das erfolgreichste Libretto von Léon und Waldberg und das erste Werk Léons, das heute noch regelmäßig auf den Spielplänen steht. Frau Denscher geht auf die Umstände der Entstehung und auf die Uraufführung der Operette ein (S. 151-158) und konzentriert sich dann auf die Figur des Stubenmädchens Hortense (S. 159-162), das im Opernball „eine größere und vor allem auch wesentlich selbstbewusstere Rolle“ habe als in der französischen Vorlage (Ernst Marischka machte diese Änderung im Drehbuch zum Opernball-Film von 1939 wieder rückgängig, S. 162-164).

Zu Victor Léon: Das Traumpaar – Mizzi Günther and Louis Treumann, the original Viennese stars of ‚Die lustige Witwe.‘ (Operetta Research Center)

Eine andere Änderung der Librettisten, die die Aussage des Stücks nicht unwesentlich verändert, übergeht Frau Denscher allerdings: In der Komödie Les Dominos roses von Alfred Delacour und Alfred Hennequin sind Georges wie Paul Lebemänner; Georges ist ein eleganter Müßiggänger, seine Frau Marguerite akzeptiert stillschweigend, daß er ihr nicht absolut treu ist. Paul verbirgt seine kleinen Abenteuer geschickt vor seiner Angèle, die überzeugt ist, daß er ganz in seiner Arbeit (als Geschäftsführer einer Spinnerei) aufgeht. In Paris (wo Paul und Angèle bei ihren Freunden zu Gast sind) hat Paul bereits einige Damen ausgemacht, die näher kennenzulernen lohnend wäre. Beim Opernball werden beide Männer von ihren Frauen dupiert (und Angèle verliert die Illusionen, die sie sich über ihren Paul gemacht hat), aber diese Niederlage vermag der männliche Stolz zu verkraften.

In der Operette hat Paul, der in Orléans der Liebling der Damen ist, ein großes Ziel: Er will endlich eine echte Pariserin erobern! Dabei stellt er sich nun freilich entsetzlich ungeschickt an und scheitert auf der ganzen Linie: Wenn er zuletzt erfährt, daß Hortense, die einzige Frau, der er beim Opernball nähergekommen ist, aus seiner Heimatstadt Orléans stammt, kann er nur noch resignieren und seine Frau zur Heimreise auffordern. Das letzte Bild, das im Gedächtnis haftet, ist das eines reuigen Sünders, der an den heimischen Herd zurückkehrt – und das hat nun eine ganz andere Wirkung als der Schluss der Komödie, wo Angèle bereit scheint, ihrem Paul künftig mehr Freiheiten zuzugestehen.

Zu Victor Léon Postkartenszene aus „Der Rastelbinder“ von Franz Léhar/Sammlung Schneider

Auch Léons Opernlibretti (S. 181-202) und Sprechstücke („Zeitbilder“, S. 203-216), die häufig aktuelle Themen aufgreifen, werden detailliert besprochen, obwohl sich nichts davon im Repertoire gehalten hat. – Das Buch zu Wiener Blut, das Léon gemeinsam mit Leo Stein schrieb, hätte ursprünglich Richard Heuberger komponieren sollen, der allerdings mit den „wienerischen Urwüchsigkeiten“ (so Léon, zit. S. 222) nicht zurechtkam. Johann Strauss erklärte sich schließlich bereit, die Musik aus seinen Instumentalkompositionen zusammenzustellen (S. 219); nach dem Tod des Komponisten übernahm Adolf Müller, der, so Léon, von Strauss noch detaillierte Informationen über dessen Konzeption erhalten hatte, diese Aufgabe (S. 219f.). Die Uraufführung (26.10.1899) war nicht wirklich erfolgreich, erst mit einer Neuinszenierung im Theater an der Wien (1905) trat das Werk seinen Siegeszug über die Bühnen der Welt an (S. 230).

Zur „Entdeckung“ des jungen Militärkapellmeisters Franz Lehár durch Léons Tochter Felicitas kann Frau Denscher Irrtümer und Erfindungen früherer Biographen berichtigen (S. 249-254). – Das erste gemeinsame Werk von Léon und Lehár, Der Rastelbinder (1902, Ko-autor des Textbuchs Julius Wilhelm), wird überzeugend als Geschichte von „Migration und Assimilation“ (S. 263[3]) gedeutet.

Die lustige Witwe ist ohne jeden Zweifel die erfolgreichste Operette, zu der Léon das Libretto schrieb, insofern ist es folgerichtig, daß ihr nicht weniger als drei Kapitel gewidmet sind (S. 285-318). Die zitierten Quellen belegen eindeutig, daß Léon Heuberger das Buch entzog, weil dieser für das ‚Slavische‘ der Musik, das offensichtlich auch Louis Treumann, der erste Danilo, einforderte, kein Gespür hatte; der Komponist brachte dafür offensichtlich kein Verständnis auf und wollte das Buch trotzdem komponieren (S. 286-288). Unterschiede zwischen der Vorlage, Meilhacs Komödie L’Attaché d’ambassade, und dem Libretto werden herausgearbeitet (S. 294-304): Daß Meilhacs deutsches „Birkenfeld“ durch „Pontevedro“ (= Montenegro) ersetzt wird, ermöglicht aktuelle politische Anspielungen (S. 294-297), auch auf die österreichischen Verhältnisse (S. 298ff.; Wahlrechtsdiskussion, S. 301f.)[4]. Das dritte Kapitel (S. 305-318) behandelt den einzigartigen Erfolg der Operette: bis 1910 gab es mehr als 18.000 Aufführungen weltweit (S. 317)[5]!

Zu Victor Léon: Alberto Spadolino in der Georg Jacoby Production der “Lustige Witwe,” 1940. (Photo from Matthias Kauffmann’s “Operette im ‘Dritten Reich’./ Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München )/ Dank an ORCA

Mit Leo Fall (S. 319-350) brachte Léon den Fidelen Bauern (im Rahmen der von Léon organisierten Operettenfestspiele zum Mannheimer Stadtjubiläum 1907, S. 326; die Kritik, „dass das Werk ein ‚Rührstück‘, aber keine Operette sei“, S. 328, ist vollauf berechtigt), Die geschiedene Frau sowie (mit deutlich weniger Erfolg) Die Studentengräfin und Der Nachtschnellzug (beide 1913) auf die Bühne; die Zusammenarbeit litt unter Falls Unzuverlässigkeit (S. 343f.).

Einem kurzem Kapitel über Léons Einkünfte (S. 351-356) ist u.a. zu entnehmen, daß die Tantiemen, die er 1911 vom Felix Bloch Verlag enthielt, nach einer Umrechnungstabelle der Deutschen Bundesbank knapp über 672.000 € heutiger Währung entsprächen (S. 351).

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieg schrieb Léon nach einer ungarischen Vorlage das Buch zum „Singspiel“ Gold gab ich für Eisen für Emmerich Kálmán (UA 17.10.1914, S. 389-396), das die zu dieser Zeit obligaten hurrapatriotischen Sprüche enthält (S. 393f.). Sollte der Librettist die nationale Besoffenheit der ersten Kriegswochen geteilt haben, ist jedenfalls schnell Ernüchterung eingetreten: In den Libretti der folgenden Jahre kommt Kriegspropaganda nicht mehr vor.

In den zwanziger Jahren schrieb Léon weiter Operettenlibretti, aber die ganz großen Erfolge blieben aus. Die gelbe Jacke für Lehár (nach einer Idee von Lizzy Léon, S. 409f.) erzielte bei der Uraufführung 1923 einen Achtungserfolg (S. 414f.), aber erst in der Umarbeitung von Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda (Das Land des Lächelns, 1929), die Léons glückliches Ende in einen Verzichtsschluss umwandelt, wurde das Stück zu einer der meistgespielten Operetten überhaupt (S. 410-414). Ein Versuch, gemeinsam mit Ernst Decsey Operetten für den Rundfunk einzurichten (Oktober 1931), endete nach kurzer Zeit im Streit (S. 447-452). Auch beim Film vermochte Léon nicht Fuß zu fassen (S. 456-460). Nach dem sog. „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland blieben der Librettist und seine Frau vor allem dank des Engagements von Anna Stift von Verfolgung verschont; Victor Léon starb am 23.2.1940 in seiner Villa in der Wattmanngasse (S. 473-476).

Barbara Denschers Buch ist eine Fundgrube für Informationen zu einem halben Jahrhundert Operetten- und Theatergeschichte, und zugleich ein bewegendes Dokument jüdischen Lebens in Wien. Albert Gier/ ORCA

 

Zu Victor Léon: Der Autor und Musikwissenschaftler Albert Gier/ Foto BR

[1]Versuch über das Libretto, in: P.H., Oper, München 1980, 199-306: 209. [2] Vgl. dazu auch einen ausführlichen Brief von Ernst Decsey an Léon vom 5.11.1931 (zu gemeinsamen Rundfunkarbeiten), S. 450-452. [3] Suza als „nicht-assimilierte Migrantin“ (S. 266) zu bezeichnen, ist problematisch, da sie nicht die Absicht hat, in Wien zu bleiben, sondern hier nur ihren Milosch sucht (den es auch wieder ins heimische Dorf zieht). [4]Frau Denscher weist darauf hin, daß Madeleine und Prax bei Meilhac nie ein Liebespaar waren (S. 300), dagegen übergeht sie die (recht weit hergeholte) Motivation für Praxens Liebeserklärung, die Léon mit Recht nicht übernommen hat: Nachdem der Attaché behauptet hat, Madeleine nicht zu lieben, erfährt sie, daß ein anonymer Wohltäter einem jungen Bankangestellten, der eine ihm anvertraute große Summe in der Spielbank verloren hatte, den Verlust ersetzt und ihn so vor Schande (oder vor dem Suizid) bewahrt hat, und schwört, wenn dieser Unbekannte ein lediger Mann sei, werde sie ihn heiraten. Mit diesem Eid ist sie für Prax (der nicht weiß, wen sie heiraten will) scheinbar unerreichbar geworden; er kann ihr endlich seine Liebe gestehen, ohne fürchten zu müssen, daß sie ihm finanzielle Interessen unterstellt. Wie sich herausstellt, war der Wohltäter niemand anders als Prax selbst. [5] Für die Londoner Erstaufführung war ursprünglich Mizzi Günther, die erste Wiener Hanna, vorgesehen, sie wurde dann aber durch eine gesanglich schlechtere Engländerin ersetzt (S. 311f.); die nächstliegende Erklärung ist sicher, daß Günther nicht in der Lage gewesen wäre, auf englisch zu singen (und zu sprechen!). (Foto oben: Willy Gauses „Hofball in Wien“/ Ausschnitt/Wiki)

Erstling

 

Nun endlich lieferbar nach langer Warteschleife und angesichts seines umjubelten Auftritts als Vasco da Gama in Frankfurt doppelt willkommen: A Fool For Love heißt die erste Platte des amerikanischen Tenors Michael Spyres, die er 2010 in Moskau für DELOS aufgenommen hat und dabei vom Moscow Chamber Orchestra unter Constantine Orbelian zuverlässig begleitet wird (DE 314). Nach seinem Debüt als Rodolfo in La bohème bei einer Tournee-Produktion des Opera Theatre Saint Louis gelang ihm 2006 als Jaquino in Fidelio am Teatro San Carlo Neapel der Einstieg in die internationale Opernkarriere. Schon früh trat er beim Festival Rossini in Wildbad auf und etablierte sich bald als Spezialist für den Gesangsstil dieses Komponisten, was ihn natürlich auch zu den Festspielen nach Pesaro, der Geburtsstadt des Komponisten, führte.

In seinen Anfängerjahren sang Spyres die typischen Rollen des tenore di grazia-Repertoires – Conte Almaviva im Barbiere oder Nemorino im Elisir d’amore. Beide zählen zu jenen Figuren, die närrisch vor Liebe sind, was auch auf die anderen Helden auf dieser CD zutrifft. Musikbeispiele aus diesen populären Werken – Almavivas virtuoses „Cessa di più resistere“ und Nemorinos schwärmerisches „Una furtiva lagrima“ – finden sich natürlich auf der CD, die mit Tonios „Ah! mes amis“ aus Donizettis Fille du régiment beginnt, einem Bravourstück par excellence, das nicht weniger als neun hohe Cs erfordert. Spyres absolviert sie in bewundernswerter Manier, serviert die Arie mit hinreißendem Schwung. Ähnlich souverän gelingt ihm die anspruchsvolle Schluss-Szene des Edgardo aus Donizettis Lucia. Die Stimme klingt in all diesen Ausschnitten noch sehr jugendlich und hell, verströmt den gebührenden Charme und die Zärtlichkeit eines  jungen Liebhabers.

Zeugnisse der Vielseitigkeit von Spyres sind Don Ottavios „Il mio tesoro“ aus Mozarts Don Giovanni, Lenskis wehmütiges  „Kuda“ aus Tschaikowskys Eugen Onegin, Toms „Here I stand“ aus Stravinskys The Rake’s Progress und die wegen ihrer heiklen Tessitura gefürchtete Arie des Italienischen Sängers „Di rigori armato“ aus dem Rosenkavalier von Strauss. In nicht weniger als fünf Sprachen ist der Solist auf der CD zu hören. Mit Rodolfos „Che gelida manina“ aus Puccinis La bohème und dem Lamento des Federico „È la solita storia“ aus Cileas L’Arlesiana finden sich auch gelungene Ausflüge in anspruchsvolles lyrisches Repertoire. Und nicht zuletzt sind die Beiträge aus dem französischen Fach von Bedeutung, hat Spyres doch live Offenbachs Hoffmann sowie mehrere Partien von Rossini und Meyerbeer gesungen. In der Anthologie sind Nadirs „Je crois entendre encore“ aus Bizets Les pecheurs de perles und Werthers „Pourquoi me réveiller“ aus der gleichnamigen Oper von Massenet vertreten. Sie beweisen die spezielle Eignung des Tenors für dieses Fach, denn er weiß seine Stimme betörend zu führen und mit delikaten Kopftönen zu bezaubern.

Als Encore serviert Michael Spyres noch den Schlager „Dein ist mein ganzes Herz“ aus Lehárs Das Land des Lächelns und krönt damit seine staunenswerte Vielseitigkeit. Inzwischen hat der Tenor vor allem bei Opera Rara und Naxos in mehreren Gesamtaufnahmen mitgewirkt und auch Porträts aufgenommen. Seine Africaine/ Vasco da Gama von der Oper Frankfurt wurde für Oehms Classics mitgeschnitten. Dieses Debüt bei DELOS war das große Versprechen, das er später glänzend zu bestätigen wusste. Bernd Hoppe

Archäologisches aus Wien

 

Fündig geworden in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek ist der Tenor Markus Miesenberger auf der Suche nach Notenmaterial von Giovanni Bononcini und zugleich aufmerksam auf den Namen eines der Sänger namens Silvio ohne einen hinzugefügten Familiennamen. Auch auf anderen Besetzungszetteln fiel ihm der schlichte Vorname auf und ließ ihn zu dem Schluss kommen, dass es sich um einen Star an der kaiserlichen Hofoper handeln müsse, der jedem so bekannt war, dass man allein aus dem Taufnamen schließen konnte, um wen es sich handle. Bei weiteren Nachforschungen kam der Sänger zu dem Schluss, es müsse  um Silvio Garghetti gehen, dessen Vater Pietro Santi bereits in Wien als Sänger gewirkt hatte. Silvio Garghetti wirkte mehr als zwei Jahrzehnte zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts als lyrischer Tenor (das lassen die Partien vermuten) in Wien, Joseph I. komponierte eine Einlagearie  in Zianis Oper  La Flora für ihn. Aus den 28 Opern- und Oratorienarien, als deren Interpret Garghetti überliefert ist, hat sich Markus Miesenberger fünfzehn ausgewählt, begleitet von der Neuen Wiener Hofkapelle in wechselnder Besetzung. Sie lassen nachvollziehen, dass sich die Stimme Silvios vom lyrischen zum eher heldischen bis zum Charaktertenor entwickelt haben muss. Die Arien liegen etwas tiefer als die für heutige Tenorstimmen, die Vergleiche mit verschiedenen Gerichten der italienischen Küche, die der heutige Sänger im Booklet vornimmt, erscheinen allerdings recht gewagt und nicht immer nachvollziehbar. Aber sie sind halt Geschmackssache im doppelten Sinne.

Es beginnt mit einer Arie von Johann Joseph Fux, in der der Tenor eine recht herbe, leicht trockene Stimme vorstellt, die angenehm instrumental geführt wird und deren Timbre zu barocker Musik sehr gut passt. Auch in Zinnis Arie aus La Flora fällt das erneut auf, ist die geforderte Verhaltenheit sehr schön getroffen.  Einen energischeren und damit angemessenen Tonfall nimmt der Tenor in der dritten Arie, von Giovanni Bononcini stammend, an, und das vokale Zupacken steht sowohl dieser als auch der Arie von Antonio Caldara aus La verità nell’inagnno gut an. Sehr gut harmonieren Tenor und Trompete in Bononcinis „Farò guerra alla terra“, der Koloraturen mächtig zeigt er sich in Fux‘ Arie aus Pulcheria. Natürlich ist auch die Musik Josephs I. vertreten, besonders gefallen kann  Contis Arie „Ardo anch’io“ durch ihre Bewegtheit und die vielfältigen Variationen, insgesamt liegt der Tenorstimme mehr noch als das Elegische das Kämpferische, so wie im abschließenden  „Se al mio braccio“ von Conti zu hören. Die Instrumentalisten tragen nicht wenig zum angenehmen Eindruck bei, den das Hören der CD hinterlässt (PC 10372). Ingrid Wanja  

 

Dazu vielleicht auch Auszüge aus der interessanten Kritik von Brian Robin zur neuen PAN-CD, von deren Titelhelden Silvio Garghetti sich im Netz kein Bild finden lässt: This is an interesting but ultimately seriously flawed project that leaves too many unanswered questions. (…) No further biographical detail has come to light, it being recorded only that ‘Silvio sang in numerous performances of operas and oratorios between 1706 and 1719’, making the assertion that he was a ‘star’ tenor at least questionable.

So far so good. Despite the lack of hard facts the hypothesis is at least tenable. However it is when Miesenberger attempts to tie Garghetti’s name to the arias on the disc that everything starts to unravel. Although he calls the source of all the arias recorded here operas, it is impossible to identify a significant number of them as such. I suspect that these pieces are rather dramatic cantatas or the kind of single-act serenata with a licenza that were popularly used to celebrate Imperial birthdays and so on. This suspicion is enhanced by the number of arias that have only sparse or continuo accompaniment, several of which also include obbligato parts. Miesenberger’s carelessness with nomenclature arouses suspicions about his scholarship that are compounded when one realises that his notes fail to mention that Garghetti was not the only ‘star’ tenor at the Viennese court during this period. Both Antonio Borosini and his son Francesco, Handel’s first Bajazet in Tamerlano, were employed there, the former nearing the end of his career, the latter just starting his. It is therefore a near certainty that given the lack of data, at least some of the arias recorded here were written for one or other Borosini. That certainly applies to the somewhat undistinguished ‘Di mia glorie’ from Francesco Conti’s Alba Cornelia  of 1714, which is a 3-act opera. Both Borosinis sang in it and given the extremely unlikely scenario that the opera included three tenor roles, it cannot have been composed for Garghetti. Indeed on the evidence provided here, it would not be possible to claim indisputably that any of these arias were composed for him.(…) but truth to tell there is little here that would set the Danube on fire.

That impression may at least in part be conveyed by Miesenberger’s performances. Although his lyric tenor is intrinsically quite pleasing he does not display the technique nor the necessary Italianate elegance and fluency for this repertoire. His way with embellishment is frequently perfunctory, with poorly articulated turns and some unstylish ornamentation of repeats; there’s a particularly wild example in the da capo of Antonio Bononcini’s Arminio  (1706), an opera (?) not listed in the composer’s New Grove  worklist. The Neue Wiener Hofkapelle provide efficient if hardly inspiring support, being in any case far too small an ensemble to do justice to the more fully scored arias that do come from operas that were originally written for an orchestra that employed up to 30 strings. In sum, I fear that this is a well-meaning but unsatisfactory attempt to cast light on a repertoire certainly in need of further investigation. Brian Robin in Early Music Review

Italienische Lehrjahre

 

Im Innenhof des aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stammenden Palazzo Ducale, in dem in der Ortsmitte Martina Francas alle wesentlichen Opernaufführungen des Festivals stattfinden, gab es 2017 und nun als Mitschnitte auf DVD (DYN-37802) und CD (2 CD, CDS780202) von Dynamic die vierte der italienischen Opern Giacomo Meyerbeers, die 1820 an der Mailänder Scala uraufgeführte Margherita d’ AnjouEs folgten noch zwei Jahre später, ebenfalls an der Scala, L’esule di Granata sowie 1824 in Venedig Il crociato in Egitto. Dann war das italienische Kapitel abgeschlossen. Meyerbeer hatte aber nicht nur seinen Vornamen zu Giacomo italienisiert, sondern auch den entsprechenden italienischen Opernstil adaptiert. Magherita wirkt wie aus einer parallelen Rossini-Welt, auch ein wenig wie Pacini, doch ist diese in die Schublade des Melodramma semiserio gesteckte Oper ein merkwürdig hybrides Werk, was der zur Verfügung gestandenen Besetzung geschuldet ist. Meyerbeer musste neben dem soprano leggiero und dem männlichen Protagonisten vom Typ Rossini-Tenor, eine in Hosenrollen erfahrene Altistin sowie drei Bässe, darunter einen Buffo, unterbringen, wodurch sich komische Elemente in die ernste Geschichte der Margherita d’Anjou, der Witwe Heinrich VI., schleichen, die in den Rosenkriegen Macht und Thron und ihr Leben sowie das ihres Sohnes zu behalten versucht. Das Rondo-Finale gehört, ganz und gar unüblich, der zweiten Sängerin, Isaura, die nahezu während der gesamten Oper in Männerkleidern auftritt, da sie dem mit ihr heimlich vermählten Edoardo de Lavarenne nachreist. Großmütig verzichtet die Königin auf ihre Liebe zu Edoardo und gibt den Weg für Edoardo und Isaura frei. Es ist Mitternacht, wenn Isaura ihr  Rondo singt, das wie ein mit immer neunen Leuchtfontänen aufwartendes Koloraturfeuerwerk die Oper überstrahlt, und wie Cenerentola jubilieren darf. Endlich angetan mit einem netten kleinen Weißen und zierlichem Hütchen.

Nicht nachvollziehbar, wie Alessandro Talevi auf die, schlicht gesagt, törichte Idee verfiel, die von Felice Romani lose zusammengeschnürten historischen Fakten und die bunte Liebeshandlung der im 15. Jahrhundert spielenden Ereignisse auf die von Meryl Streep verkörperte Miranda Priestley in Der Teufel trägt Prada und die von Frauen wie Anna Winfour regierte Welt der Laufstege und internationalen Mode-Wochen zu übertragen. Erstens hat die von Margherita verteidigte Welt nichts mit der Kunstwelt der Mode zu tun, zweitens ist Talevis Umsetzung viel zu banal und vordergründig, zu provinziell und kleinkariert, um den dramatischen Konstellationen zu entsprechen. Sie bietet die entsprechenden Bilder hinter den Kulissen der Modeschauen mit hektisch wuselndem Personal, 90er-Jahre Mode, Punks mit roten und blauen Haarkämmen und Schottenröcken. Die Inszenierung wurde gleichermaßen bejubelt wie ausgebuht. Im zweiten Teil hält sich Margherita in ihrer französischen Heimat auf. Das Wellness-Resort, in dem sich alle in weißen Frotteemänteln den Beauty-Behandlungen und der Entschleunigung hingeben, wirkt wie ein Zitat von Dews Berliner Hugenotten und dem „Beau Pays de la Touraine“ am Swimmingpool, doch scheint mir Talevis Umsetzung ungleich flachbrüstiger.

Musikalisch befindet sich Meyerbeer auf der Höhe der Zeit, bringt dem eineinhalbstündigen ersten Akt in nur fünf Nummern unter, was zu breiten Blöcken führt, wobei Margheritas Cavatina, Cabaletta und Stretta in ein umfangreiches Chor- und Ensemblestatement eingebettet ist. Doch die ariose Szene bleibt immer noch das A und O der Partitur. Dazu gehören neben ihrer Auftrittsszene auch Szene und Arie der Margherita zu Beginn des zweiten Akts, wovon vor allem die vom Cellosolo getragene zweite Szene Giulia De Blasis mit leichtem Triller gut gelingt. Ihr lyrischer Ziersopran hat in der Vollhöhe seine Grenzen, bleibt ein wenig leicht und bleich, wie denn die ausstrahlungsarme De Blasis sowieso keinen Gedanken an Streep oder Winfour aufkommen lässt. Anton Rositskiy, aus dem Frankfurter Iwan Sussanin als Sobinin in guter Erinnerung, singt die anspruchsvolle Partie des Duca de Lavarenne, bei der Rossini, Bellini und Donizetti in der dreiteiligen Arie „E riposta in quest accenti“, deren Abschnitte abwechselnd von Trompeteten, Cello und Holzbläsern begeleitet werden, alle Tenorhürden auf einmal aufgestellt zu haben scheinen, trotz einiger Quetscher in der extremen Höhe mit Überzeugungskraft, schöner Phrasierung und Elan, und seine Cavatine im zweiten Teil trägt er mit Anmut vor. Eigentlich hätte ihm der Schluss gehört, denn für das Final-Rondo ist Gaia Petrones dumpfer Mezzosopran einfach zu unbedeutend (das war in Leipzig 2005 immerhin die junge Marina Prudenskaja). Das Terzett der drei Bässe Michele, Glocester und Carlo ist reinster Plappergesang alter Schule, in dem der Buffo Marco Filippo Romano mit kundigem Rossini-Stil, Bühnenpräsenz und einem gut sitzenden, natürlich strömendem Bass als Modeschwuchtel Michele Gamautte hervorsticht. An Präsenz, nur ein wenig an Stimmfülle, steht ihm Laurence Meikles spielfreudiger Carlo Belmonte, der einst von der Königin verstoßen wurde und sich auf die Seite Glocesters geschlagen hat, kaum nach, Bastian Thomas Kohl ist ein unauffälliger Bass. Fabio Luisi leitet den etwas uneinigen Chor aus Piacenza und das Orchestra Internazionale d’ Italia mit gediegener Spielkultur, ohne dem Werk einen spezifischen Charakter zu verleihen (Foto oben: Meyerbeers „Margherita d´Anjou“ beim Festival della Valle d`Itria in Martina Franca 2017/ Szene/ Foto Festival della Valle d`Itria/ Paolo Conserva). Rolf Fath

Ein neuer Stern am Mezzo-Himmel

 

Als „eine Weltstimme“ bezeichnete Anna Tomowa-Sintow die georgische Mezzosopranistin Anita Rachvelishvili, als sie mit ihr 2013 im Berliner Schiller Theater unter Daniel Barenboim in Rimsky Korsakows Die Zarenbraut aufgetreten war. Die Georgierin sang die Partie der Ljubascha und erntete damit einen Sensationserfolg – ähnlich dem ihres Debüts als Carmen bei der Saisoneröffnung der Mailänder Scala 2009, wiederum unter Barenboim. Inzwischen gehört die Sängerin weltweit zu den Ersten ihres Faches, so dass man – nach DVD-Aufzeichnungen von Carmen und der Zarenbraut –  ihr erstes Arien-Recital bei Sony mit Spannung erwartet hat (19075808752). Natürlich ist in diesem Programm auch Ljubaschas a capella-Arie („Beeile dich, o traute Mutter“) vertreten und erweist sich in der melancholisch-sehnsüchtigen Stimmung als ein Höhepunkt der CD.

Die Auswahl beginnt mit einer weiteren signature-Partie der Sängerin – eben der Carmen und ihrer Seguidilla. Hier überrascht zunächst der sehr verhaltene, introvertierte Zugriff, aber das Raffinement des Vortrags mit fein getupften Nuancen besticht. Erst am Schluss hört man brustige, wild auffahrende Töne. Später gibt es noch die Habanera und auch da rangiert der feine Ton vor dem ordinären Auftrumpfen.

Die Dalila in Saint-Saëns’ Oper stattet die Sängerin – nach Erfahrungen mit der Partie an der Pariser Opéra – ebenfalls mit zurückgenommener Tongebung und erotisch flirrender Stimmung aus, vermeidet jeden vulgären Beigeschmack.

Die Azucena in Verdis Il trovatore sang sie 2016 am Royal Opera House Covent Garden, nachdem sie dort 2013 als Carmen debütiert hatte. Im Programm findet sich die sehr differenziert gestaltete Szene „Condotta ell’era in ceppi“, vom Orchestra Sinfonica Mazionale della Rai unter Giacomo Sagripanti spannungsreich begleitet.

Von der Eboli in Verdis Don Carlo hört man beide Soloszenen – das leichtfüßig-sinnliche Schleierlied und das dramatisch lodernde „O don fatale“. Für ersteres steht der Sängerin der flexible Fluss mit feinen Koloraturen zu Gebote, für die Arie der ausladende vokale Furor. Mit dem Rollendebüt will Rachvelishvili noch warten, die Santuzza in Mascagnis Cavalleria rusticana dagegen noch in diesem Jahr erstmals interpretieren. Das große Solo „Voi lo sapete“ lässt in seiner Interpretation von schmerzlicher bis flammender Tongebung  eine spannende Rollendeutung erwarten.

Zwei Beispiele aus dem elegischen französischen Repertoire sind Charlottes Briefarie aus Massenets Werther und Saphos „O ma lyre immortelle“ aus der gleichnamigen Oper von Gounod. Sie werden mit nobler Kultur und sensibler Empfindung vorgetragen. Schließlich soll eine veritable Rarität in diesem Programm Erwähnung finden – die zwischen Schwermut und Zartheit schwankende Szene der Königin Tamar aus Dimitri Arakishvilis Die Legende von Schota Rustaweli. Das Werk des georgischen Komponisten erinnert an die von 1184 bis 1213 über Georgien herrschende Königin, die in der Erinnerung des Volkes als starke Frau weiterlebt. Als eine solche fühlt sich auch Anita Rachvelishvili, deren weiteren künstlerischen  Weg man mit Spannung verfolgen darf. Bernd Hoppe

Niemand ist eine Insel

 

Auf den Tag genau zu seinem hundertsten Todestag gedachten Christian Thielemann und die Münchner Philharmoniker, in deren Programmen seine Sinfonien stets einen wichtigen Raum einnahmen, am 18. Mai 2011 im Münchner Gasteig Gustav Mahlers mit dem Adagio aus der unvollendeten Zehnten und einer Auswahl seiner Wunderhorn-Lieder, die jetzt auch in der Reihe der Aufnahmen aus den Archiven der Münchner Philharmoniker vorliegen (MPHIL0007). Michael Volle singt die hier ausgewählten acht Lieder, darunter Rheinlegendchen, Das irdische Leben und das später im vierten Satz der zweiten Sinfonie wiederkehrende Urlicht, mit der reichen Ausdruckskraft seines markanten Baritons, ohne den 1806 von Brentano und Arnim veröffentlichten Liedern im Volkston eine falsche volkstümliche Behutsamkeit zu unterlegen, doch mit sanft fließender Natürlichkeit in Wer hat dies Liedlein erdacht und Wo die schönen Trompeten blasen, kluger Holzschnitzkunst in Verlorne Müh, deklamatorischer Wucht im Ausruf „Die Gedanken sind frei“! im Lied des Verfolgten im Turm und szenisch entworfener Prägnanz, dabei immer unterstützt von Thielemanns orchestraler Erzählkunst, in den dialogischen Abschnitten in Der Schildwache Nachtlied. Immer auf Ausdruck und Inhalt weniger auf edlen Schönklang bedacht, erklingt Volles gewichtiger Bariton im Urlicht.

Gleich zweimal gehört habe ich die Aufnahme von Thomas Ebenstein, der sich für sein Solo-Debüt Lieder von Schönberg, Zemlinsky, Strauss und Korngold aussuchte (Capriccio C3007), die ausgezeichnet zu seiner Stimme passen, einem Charaktertenor, den man nicht unbedingt als schön bezeichnen möchte. Das macht nichts. Ebenstein singt Schönbergs Brettl-Lieder und die beiden im gleichen Jahr (1901) entstandenen Brettl-Lieder von Alexander von Zemlinsky (leider beinhaltet das dürftige Faltblatt keine Texte. Die Texte stammen von Arno Holz bzw. Rudolf Alexander Schröder) mit tenoraler Singakrobatik, Witz und Charme. Natürlich verfügt er – in seinen Partien an der Wiener Staatsoper quasi der Nachfolger eines Heinz Zednik – nicht über die Klangfülle einer Jessye Norman, deren Aufnahme der Brettl-Lieder Schönbergs Zyklus auf den internationalen Liedpodien Beachtung verschaffte. Aber Ebenstein ist ein Singschauspieler, der mit Leichtigkeit und Distinktion agiert und diesen im Umkreis des Berliner Überbrettl-Kabaretts entstanden Gedichten und Liedern ihre chansonhafte Hurtigkeit und Raffinesse lässt, und Frechheit, wenn in Zemlinskys In der Sonnengasse die Resi ihr Schnürleib krachen lässt oder der fette Herr Bombardil alle Warnungen des Arztes in den Wind schlägt und so viel frisst, bis er platzt. Die 12 Lieder von Richard Strauss’ Krämerspiegel mit den sprachspielerischen, fast kindisch rachsüchtigen Texten von Alfred Kerr über „Bote & Bock“ aus dem Jahr 1918 könnten auch ohne Gesang bestehen, derart reich ist ihr Klavierpart, mit dem der exzellente Charles Spencer seine Kunst der Liedbegleitung, man höre nur das Nachspiel zu O Schöpferschwarm, o Händlerkreis, unterstreicht.  Ebenstein gestaltet diese Lieder bissig, satirisch, unverzerrt, durchaus animierend; und in den vier Shakespeare-Liedern op. 29 aus dem Jahr 1937 wird sein Tenor sogar der schillernden Klanglichkeit Korngolds gerecht.

Hatte man sich Ähnliches an exquisiter Salonkunst von den Poldowski Art Songs erhofft, wird man herb enttäuscht. Poldowski war das Pseudonym von Henryk Wieniawskis Tochter Régine (1879-1932), die u.a. bei d’ Indy studierte und ab 1911 Lieder veröffentlichte, vor allem auf Texte von Paul Verlaine. Mancher kennt Philippe Jarousskys exquisite Interpretation von L’ heure exquise. Mit luschiger Stimme und Interpretation bereitet Angelique Zuluaga (Delos DE 3538) wenig Vergnügen.

Da möchte man gleich bei Musik ohne Worte bleiben, vor allem da Sheku Kanneh-Mason auf Inspiration (Decca) nicht nur Saint-Saens’ zerbrechliche Tierpreziose Der Schwan aus dem 1921 postum veröffentlichten Karneval der Tiere, sondern auch so Rares wie Jacqueline’ s Tears, also die seit Jacqueline du Pré berühmten Larmes de Jacqueline op. 76 Nr. 2 von Offenbach,  tränenschwer und mit sattem Ton spielt; begleitet von dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Mirga Granzinyte-Tyla. In seiner britischen Heimat ist der 18jährige Sheku, der 2016 als erster schwarzer Musiker den BBC Young Musician of the Year Award gewann, eine kleine Berühmtheit; insgesamt ist mir die Aufnahme u.a. mit Schostakowitschs Cellokonzert Nr. 1, dem Nocturne aus seiner Suite Die Stechfliege, Casals Sardana und Gesang der Vögel sowie Stücken von Leonard Cohen und Bob Marley aber zu monochrom.

Das Oeuvre Debussy, von dem Poldowskis Lieder beeinfluss sind, wird bei Hyperion mit der vierten Ausgabe Songs by Debussy fortgesetzt und beendet (CDA68075). Lucy Crowe mit silberreinen, feinem kleinen Ton und Christopher Maltman, dessen charakterfester Bariton seit seinem Solo-Auftakt in der Debussy-Reihe 2003 wesentlich gespreizter und angestrengter klingt, singen, begleitet von dem umsichtigen Malcolm Martineau, Lieder, die Debussys gesamtes Schaffen umspannen, also von der Tragédie von 1881 bis zu seinem letzten Lied Noêl des enfants qui n’ont plus de maisons. Das Hauptaugenmerk liegen auf den von Crowe mit Schwung, Gefühl und Eleganz, aber auch der vielfach geforderten Koloraturtüchtigkeit gesungenen Liedern, darunter das bezaubernde Beau soir, das im Duett mit Jennifer France gesungene Chanson espagnol oder der Orientalismus in Rondel chinois.

Sonnets widmen sich der Tenor Daniel Norman und sein Pianist Christopher Gould (stone records 5060192780734). Darunter befinden sich Benjamin Brittens sieben Michelangelo Sonnets op. 22 und seine Holy Sonnets auf Texte des sich auf Petrarca beziehenden John Donne, welche Franz Liszts drei Sonetti di Petraca sowie zwei Shakespeare-Vertonungen umklammern – das 18. Sonett Shall I compare thee to a summer’s day? von John Dankworth und das 147. Sonett My love is as a fever von Duke Ellington. Das interessante Programm, in das er im englischsprachigen Beiheft mit einem klugen Aufsatz einführt, bewältigt Norman mit hell blankem und gelegentlich grellem Tenor und der stilistischen Versiertheit eines aus der englischen Chortradition erwachsenen Sängers.  Rolf Fath

Retro mit Orgel

 

Universal legt nach: Ende 2016 erschien bereits Vol. 1 der Complete Recordings on Deutsche Grammophon von Eugen Jochum. Damals waren es die 42 CDs umfassenden Orchestral Works. Nun also Vol. 2 Opera and Choral Works, eine 38 CDs starke Box (DG 4798237). Die optische Präsentation ist gelungen, stecken die Aufnahmen doch in CD-Hüllen mit den ehemaligen Original-Covers der LPs. Das freut den traditionsbewussten Sammler. Weniger angetan ist dieser hingegen von der fortgesetzten Tilgung des Philips-Labels aus dem kollektiven Gedächtnis. Tatsächlich wurde nämlich etwa die Hälfte der Chorwerke seinerzeit nicht für die DG, sondern für Philips eingespielt. Fairerweise muss man dazu sagen, dass die Hüllen, in denen die einzelnen CDs stecken, zumindest noch die originale Philips-Herkunft vermerken. Auf der Box selbst ist hiervon aber nicht die Rede.

Die Einspielungen entstanden im Zeitraum von 1952 und 1976, decken also gleichsam ein Vierteljahrhundert ab. Exakt die halbe Box, also 19 CDs, sind geistlichen Chorwerken gewidmet. Den bei weitem größten Anteil machen dabei die Kompositionen von Bach aus, von dem vier Werke enthalten sind: Neben den beiden Passionen sind dies die h-Moll-Messe und das Weihnachtsoratorium. Bereits hier werden zwei der Orchester ersichtlich, denen Jochum am engsten verbunden war, nämlich das von ihm praktisch gegründete und zwischen 1949 und 1960 geleitete Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und das Concertgebouw-Orchester Amsterdam, dem er von 1961 bis 1963 als Co-Chefdirigent neben Bernard Haitink vorstand. Die Matthäus– (1965) und Johannes-Passion (1967) wurden in Amsterdam, die Hohe Messe (1957) und das Weihnachtsoratorium (1972) in München aufgezeichnet. Anders als der breite Zeitraum erwarten lässt, ist die Klangqualität auch bereits in den frühen Stereoaufnahmen der Box erstaunlich gelungen. Jochums Bach-Stil galt schon in den 60er Jahren als angejahrt, nicht nur im Vergleich mit Nikolaus Harnoncourt, der seinerzeit erste Erfolge feierte, sondern gerade auch mit Karl Richter. Anders als bei diesem fehlen bei Jochum die Ecken und Kanten, auch wenn sich die Einspielungen grundsätzlich auf hohem Niveau bewegen und hervorragende Solisten aufzuweisen haben, darunter Lois Marshall, Hertha Töpper, Marga Höffgen, Peter Pears, Ernst Haefliger, Kim Borg und Walter Berry, um nur einige zu nennen. Am gelungensten erscheint tatsächlich das Weihnachtsoratorium, in dem Jochum ein besonders breites Zeitmaß anschlägt.

Ebenfalls für die niederländische Philips entstand 1970 zum Beethoven-Jahr die Aufnahme der Missa Solemnis. Hier nun erscheint Jochums Lesart bereits weniger auffällig, was sich bei den enthaltenen Bruckner-Werken noch fortsetzt. Was den „Unzeitgemäßen“ von St. Florian anbelangt, gilt Jochum (seit 1948 Professor) nicht zu Unrecht bis zum heutigen Tage als einer der maßgeblichsten Interpreten und war ab 1950 Präsident der deutschen Sektion der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Zu den drei Messen (entstanden zwischen 1962 und 1972 mit dem BR-Symphonieorchester) gesellen sich eine Einspielung des Psalms 150 mit den Berliner Philharmonikern (1965), zehn Motteten mit den Bayern (1966) und gar zwei Aufnahmen des Te Deum (1950 aus München und 1965 aus Berlin). Diese Chorwerke bilden eine willkommene Ergänzung zu Jochums zahllosen und zeitlosen Aufnahmen der neun Symphonien von Bruckner. Nicht zuletzt haben es auch Haydns Schöpfung und Cäcilienmesse (1966 und 1959, beide mit dem BR-Symphonieorchester) und Mozarts Requiem (1955 mit den Wiener Symphonikern) in die Kollektion geschafft. Bei letzterem hat man sich auf einer zusätzlichen CD gar für die Inkludierung der gesamten Messe im Wiener Stephansdom entschieden, was die neun Extra-Tracks erklärt. Die Mono-Aufnahme vom Dezember 1955, kurz vor dem 200. Geburtstag Mozarts, hat freilich mittlerweile eher eine historische Bedeutung, als dass sie heute angesichts zahlreicher besser klingender Alternativen künstlerisch noch tonangebend wäre.

Schließlich wird bei den Chorwerken auch dem Rang Jochums als berühmter Orff-Dirigent genüge getan. Neben den Carmina Burana und den Catulli Carmina, die jeweils zweifach vorliegen (aus den 50er Jahren in Mono und von 1967 bzw. 1970 in Stereo), ist das Trionfo di Afrodite berücksichtigt (1955). In den frühen Aufnahmen bediente sich Jochum seines Klangkörpers aus München, während er für die späteren (etwas ungewöhnlich) auf das Orchester der Deutschen Oper Berlin zurückgriff, was indes als Volltreffer bezeichnet werden muss. Besonders die Neuauflage der Carmina Burana zählt nicht ohne Grund nach wie vor zu den Referenzaufnahmen und liegt seit langem in der DG-Serie „The Originals“ vor. Besetzungstechnisch ist diese Einspielung mit Gundula Janowitz, Gerhard Stolze und Dietrich Fischer-Dieskau auch schwer zu toppen und wurde seinerzeit von Carl Orff selbst autorisiert.

Den zweiten großen Themenblock der Box bilden die Operneinspielungen. Am berühmtesten ist darunter vermutlich Jochums 1962er Aufnahme von Mozarts Cosí fan tutte, die vielfach als die herausragendste Interpretation dieses lange verkannten und noch immer etwas im Schatten stehenden Werkes betrachtet wird. Ein exzellentes Solistenensemble (darunter Irmgard Seefried, Erika Köth, Ernst Haefliger, Hermann Prey und Dietrich Fischer-Dieskau) und die hier besonders gut aufgelegten Berliner Philharmoniker tragen auch nach einem halben Jahrhundert nachhaltig zu diesem Eindruck bei. Ein weiteres Beispiel für den großen Mozart-Interpreten Jochum beinhaltet die Neuerscheinung mit seiner Entführung aus dem Serail. 1965 in München eingespielt, sticht unter den Sängern besonders der legendäre Fritz Wunderlich heraus. Gleichwohl ist die Konkurrenz hier größer, auch wenn diese Aufnahme gut neben den berühmten Aufnahmen von Ferenc Fricsay, Sir Thomas Beecham, Josef Krips und Karl Böhm bestehen kann. Einen Trumpf hat Jochum abermals mit Wunderlichs Belmonte auszuspielen, aber auch Kurt Böhme ist als Osmin voll in seinem Element. Dagegen ist verschmerzbar, dass die weibliche Besetzung (Erika Köth und Lotte Schädle) dieses höchste Niveau nicht ganz erreicht. Dafür konnte mit Rolf Boysen ein luxuriöser Bassa Selim verpflichtet werden.

An der Ausstattung der Box wurde nicht gespart. Die CDs stecken in Hüllen, auf denen die originalen Cover der ersten Ausgaben auf Schallplatte abgebildet sind.

Ein treffliches Beispiel dafür, dass das Bessere des Guten Feind ist, liefert Jochums 1959 mit den Bayern entstandene Gesamtaufnahme von Webers Freischütz. Gleichsam seit Ersterscheinung steht diese im Schatten der kurz zuvor für EMI eingespielten Aufnahme von Joseph Keilberth, obwohl Jochum gerade bei den männlichen Solisten auf erstklassige Kräfte zurückgreifen kann, unter denen besonders wiederum Kurt Böhme sowie Eberhard Waechter zu nennen sind. Mit dem bekannten Schauspieler Ernst Ginsberg stand ihm zudem ein besonders dämonischer Samiel zur Verfügung. Da aber die weiblichen Interpretinnen (Irmgard Seefried nicht ganz auf der Höhe) etwas abfallen, läuft diese Aufnahme bis heute eher unter ferner liefen. Der letzte auf dieser Box vertretene Bereich betriff die Opern von Richard Wagner. Tatsächlich gibt es hier die größte Überraschung der gesamten Kollektion: Der 1952 mit dem Symphonieorchester des BR eingespielte, heute fast vergessene Lohengrin, der nunmehr endlich seine CD-Erstveröffentlichung erfährt. Das legendäre Münchner Ensemble wurde hier festgehalten: Neben dem sträflich vernachlässigten Lorenz Fehenberger in der Titelrolle wirken Annelies Kupper, Helena Braun, Ferdinand Frantz, Otto von Rohr und Hans Braun mit. Die Aufnahme, die in den 50er Jahren zeitweilig wohl durchaus als Standardempfehlung gelten konnte, wurde Opfer der fortschreitenden Tontechnik. Bereits wenige Jahre nach ihrer Fertigstellung wurde sie von der Stereophonie überholt. Spätestens in den 60er Jahren machten sie die neuen Aufnahmen von Rudolf Kempe, Wolfgang Sawallisch und Erich Leinsdorf gewissermaßen obsolet. Zu Unrecht. Dass Eugen Jochum nämlich ein großartiger Wagner-Exeget war, ist Bayreuth-Kennern seit langem geläufig. Zwischen 1953 und 1973 (wenn auch mit einer großen Lücke zwischen 1954 und 1971) verantwortete er Anfang der 50er zunächst die Produktionen von Tristan, Lohengrin und einmalig Tannhäuser sowie Anfang der 70er auch Parsifal, der damals noch in der legendären Inszenierung von Wieland Wagner lief.

Die späteste hier inkludierte Einspielung ist die Meistersinger-Aufnahme von 1976, die heute wohl breitenwirksamste Wagner-Einspielung Jochums und besser als ihr Ruf. Sie gilt seither gleichwohl nämlich eher als Geheimtipp, ist ihre Besetzung doch etwas uneinheitlich geraten. Plácido Domingos Walther überzeugt zwar stimmlich, doch ist seine deutsche Diktion (wieder einmal) mangelhaft. Dietrich Fischer-Dieskau gibt einen Nationalpoeten erster Güte und bietet die Monologe beinahe kunstliedhaft dar. Dumm nur, dass Hans Sachs eben auch Schuster ist. Die restliche Besetzung ist an und für sich sehr adäquat (Catarina Ligendza, Christa Ludwig, Horst Laubenthal, Peter Lagger und Roland Hermann). Als wirklich ausgezeichnet muss das Dirigat gelten. Zuletzt ist eine als „Erzähltes Leben“ betitelte Bonus-CD (1962) beigegeben, welche die Box beschließt und abrundet. Hier berichtet der im barock-süddeutschen Katholizismus aufgewachsene und stets bescheiden gebliebene Jochum aus seinem Leben. Vor diesem Hintergrund ist auch seine innige Hinwendung zur Kirchenmusik und zur Sinfonik Bruckners zu verstehen. Zudem wird die große musikalische Bandbreite Jochums deutlich, die von der Alten Musik über Mozart und Wagner bis zur zeitgenössischen Musik ging. Zuletzt erleben wir den Organisten Eugen Jochum mit einem Arrangement von „Ganz Paris träumt von der Liebe“ von Cole Porter.

Als insgesamt runde Sache kann dieses Vol. 2 also durchaus gelten, vereint es doch das künstlerische Schaffen des Dirigenten Eugen Jochum im Vokalbereich auf kompaktem Raum und in ansprechender Darbietung. Daniel Hauser

Das große Bild oben ist ein eingefärbter Ausschnitt des Fotos auf der Box. Es stammt von Werner Neumeister. 

Und noch mehr von Popora

 

Die neue CD von Max Emanuel Cencic bei Decca (483 3235) mit Opernarien von Nicola Porpora erlaubt einen interessanten Vergleich mit einer Platte von Franco Fagioli, der bei seiner früheren Stammfirma naïve bereits 2013 ein solches Programm unter dem Titel Il maestro aufgenommen hatte. Allerdings überschneidet sich bei den zwei Countertenören nur ein  einziger Titel – Valentinianos Arie  „Se tu la reggi al volo“ aus Ezio, mit der beide Interpreten ihr Programm eröffnen. Fagioli singt sie mit einer Stimme von vibrierender Erregung, auftrumpfend und in souveräner Bewältigung der langen Koloraturpassagen. Cencic dagegen bringt sie mit weniger Vehemenz, nicht so aufregend, mit warmem, gerundetem Ton. In der Virtuosität steht er Fagioli in nichts nach. Auch seine Interpretation wird vom begleitenden Orchester, der Armonia Atenea unter George Petrou, pompös mit festlichem Bläserglanz eingeleitet. Das Ensemble besticht bis zum Ende mit ungemein farbigem Spiel und raffinierten Klangeffekten.

Selbst wenn die Auswahl sonst voneinander abweicht, ermöglicht sie doch eine aufschlussreiche Gegenüberstellung der beiden Sänger mit ihren Stimmen, dem Ausdrucksradius und Interpretationsstil. Hier soll der Fokus natürlich auf der Neuveröffentlichung von Max Emanuel Cencic liegen, der seine Platte anlässlich des 250. Todestages von Porpora vorlegt und 14 Arien offeriert, davon sieben Weltpremieren. Dazu zählt eine weitere Arie aus Ezio – diesmal die des Titelhelden „Lieto sarò“, die in freudigem Jubel das Leben und die Liebe besingt und dem Sänger jauchzende Emphase ermöglicht.

Aus dem Jahre 1726 stammt die in Venedig uraufgeführte Meride e Selinunte, aus der Ericleas „ Torbido intorno“ ertönt, in der sich Stimme und Streicher kunstvoll verflechten.

In den 1730er Jahren komponierte Porpora in London drei Opern im  direkten Wettbewerb mit Händel: Arianna in Nasso 1733, aus der als letzter Titel der Anthologie Teseos „Nume che reggi“ erklingt. Ein Jahr später kam Enea nel Lazio zur Uraufführung, aus dem des Titelhelden „Chi vuol salva la patria“ zu hören ist – ein patriotischer Aufruf für Vaterland und Ehre mit effektvollem Zierwerk. Und 1735 kam Ifigenia  in Aulide heraus, aus der die Arie des Agamemnone „Tu, spietato“ ertönt, welche einen existentiellen Ausnahmezustand der Figur mit rasenden Koloraturgirlanden schildert. Cencic zeigt sich hier erneut als virtuoser Meister seines Fachs. Die folgende Arie des Filandro aus der gleichnamigen Oper, „Ove l’erbetta“, ist ein wunderbar getragenes Stück, das ein Naturbild malt und Cencic Gelegenheit bietet, seine lyrische Stimmkultur zu demonstrieren. Der nächste Titel, Poros „Destrier, che all’armi usato“, sorgt mit seinem energisch-kämpferischen Duktus wieder für einen spannungsreichen Kontrast.

Alle drei Arien des Lottario aus dem in Rom 1738 uraufgeführten Carlo il Calvo sind Ersteinspielungen und von höchst unterschiedlicher Stimmung. „Se rea ti vuole“ ist geprägt von einem rasanten Koloraturfeuerwerk in  exponierter Tessitura. „Quando s’oscura il cielo“  gibt sich sanft und getragen, bringt die klangvoll-sonore Mittellage des Counters zu schöner Wirkung.  „So che tiranno“  in eiligem Tempo bedeutet erneut eine große Herausforderung an die Bravour des Interpreten, die Cencic glänzend besteht.

Aus Il trionfo di Camilla, 1740 im Teatro San Carlo Neapel uraufgeführt, bietet Cencic zwei Arien des Turno von ganz unterschiedlicher Couleur – „Va per le vene“ in scheinbar endlos langen Phrasen von düster-beklommener Stimmung und „Torcere il corso“ als bewegtes Sinnbild eines Flusses, dessen Verlauf man ändern kann, nicht aber die Gefühle eines Herzens. Auch Filandros „D’esser già parmi“ schildert als Metapher einen Apfelbaum im Sturm in Form von  aufgewühlten Koloraturketten.

Nach seiner überzeugenden Interpretation des Titelhelden in der Einspielung von Porporas Germanico in Germania (ebenfalls bei Decca) hat Max Emanuel Cencic mit diesem Recital dem großen Gesangslehrer und Komponisten eine gelungene Reverenz erwiesen, die für die Verbreitung von Porporas Werk von eminenter Bedeutung sein dürfte. Bernd Hoppe

 

Durch Englands Sümpfe und andernorts

 

Mit schöner Regelmäßigkeit taucht die Waise und spätere Dorfschullehrerin Jane Eyre in einer neuen Verfilmung von Charlotte Brontës Erziehungs- und Gouvernantenroman von 1847 im Kino oder britischen Fernsehen auf. Auf der Opernbühne indessen nicht. Unserem Wunsch nach einem kuscheligen Liebesglück auf Thornfield Manor, wo Jane mit dem Besitzer Edward Fairfax Rochester vor dem Kaminfeuer sitzt, kam der 1927 in Kapstadt geborene John Joubert nach. In Vorbereitung seines 90. Geburtstages, zu dem die CD pünktlich auf dem Markt sein sollte, kam es im Oktober 2016 in Birmingham zu einer konzertanten Aufführung seiner Literaturoper, die sich nun bequem neben die entsprechenden DVDs stellen lässt (2 CD SOMMCD 263-2). Für die Aufführung wurden die drei Akte zu zwei Akten mit jeweils drei Szenen und 17 Personen eingedampft, wobei einige der Sänger mehrere Partien übernehmen. Joubert und sein Librettist Kenneth Birkin haben die Stationen von Janes Leidensweg durch die Sümpfe Yorkshires bis zu den Gärten von Thornfield zwischen 1987 und 1997 in eine bekömmlich konventionelle Oper gepasst (2000 folgte Michael Berkeley mit seiner Jane Eyre), die, sofern der Hörer mit dem Roman vertraut ist, die Brüche in der Handlung nicht zu sehr aufreißen. Auf jeden Fall versucht Joubert, das Geschehen mit einer theaterstarken, prallen Musik, eindrucksvollen Begegnungen und ausgreifenden Momenten der Reflektion an sich zu reißen, etwa in Rochesters Monolog „Now the shadows close about me“, wo David Stout mit der Verzweiflung des Holländers und einem entsprechend dunkelerzenen Bariton vor sich hinbrütet. In vielen Momenten kann sich Jane, der April Fredrick ihren Sopran leiht, der auf der Aufnahme etwas hart und ein wenig durchdringend klingt, aber die melodischen Erfindungen Jouberts gut aufnimmt, ihrer Liebe über alle gesellschaftlichen Grenzen hinweg versichern. Die Musik schmiegt sich dem Text und den zwischen Schauerstück und psychologischem Liebesroman schwankenden Situationen geschickt an, man denkt an Janáček, natürlich an Britten, an den Joubert, der u.a. an den Universitäten von Hull und Birmingham unterrichtete, im Nachkriegsengland stieß, auch an den Debussy des Pelléas, im Fluss mancher Entwicklungen vielleicht auch an Wagner. Das ist gut gemacht, wird von Kenneth Woods und dem English Symphony Orchestra sowie den weiteren Solisten, darunter Mark Milhofer als St. John Rivers und Gwion Thomas als Brocklehurst, mit einer dem Anlass angemessenen Hingabe gespielt, dennoch kann man sich schwer vorstellen, dass dieser zentrale Roman über weibliche Selbstbehauptung in dieser Form auf der Bühne eine Chance hätte; vielleicht in der Inszenierung Zeffirellis, der 1996 den Roman mit Charlotte Gainsbourg und William Hurt verfilmt hatte.

 

Weg vom Kaminfeuer hin vor das Radio lockt uns Jake Heggie; wie Nora, die an einem „Really Bad Day“ nach Hause kommt und das Radio andreht. Fertig ist der Einakter The Radio Hour für Kammerchor, eine stumme Schauspielerin und Instrumente; Libretto von Gene Scheer. Die Bitte John Alexanders um eine Oper für seinen Chor brachte Heggie und Scheer auf die Idee, eine Frau „in her late 40s or 50s“ und deren innere Stimme („No sex. No one calls and no one cares“) sowie die Klänge aus dem Radio auf die Bühne zu bringen: „Recalling Ravels magical L’ enfant et les sortilèges, the choir could become objects in Noras apartment, too.“ In drei Momenten erleben wir Nora: unglücklich nach einem schrecklichen Tag, zögernd die Welt der Klänge tretend und schließlich lächelnd und erleichtert. Ein Minidrama in weniger als 40 Minuten, in dem Heggie, von dem wir gerade erst Great Scott  hören konnten, den Chor nach Gruppen auffaltet, zum großen Chorklang bündelt, ihn Verkehrsgeräusche nachahmen und klatschen lässt, ihn auch solistisch zu „swing tunes, radio ads, a quasi-rap song, big band, a touch of 12-tone music“ reizt. Die John Alexander Singers machten sich unter ihrem Namensgeber und Leiter im Mai 2014 einen Spaß aus dem kleinen Stück, das tatsächlich ein wenig an Ravels Kinderzimmer-Miniaturen erinnert und auf der Aufnahme  (Delos DE 3484) um einige im gleichen Jahr eingespielte, nicht ebenso bemerkenswerte Zyklen mit der Heggie-Muse Susan Graham ergänzt wurde, die Szene mit Frauenchor Patterns, in der eine junge Aristokratin den Tod ihres Verlobten beklagt, die Vertonung des Emily Dickinson-Gedichtes I Shall Not Live Invain und die Bearbeitung – einmal für die Solistin, einmal als Chorstück – der zentralen Szene der Sister Helen Prejean He Will Gather Us Around aus Dead Man Walking.

 

Mit einer gewissen Vorsicht entblisterte ich Heresy, eine électronic opera des durch elektro-akustische und Klavierwerke hervorgetretenen irischen Komponisten Royer Doyle (* 1949), Known as the Gotfather of Irish Electronic Music“, über den der Häresie beschuldigten Giordano Bruno, „I never thought I’ d compose an opera. As a sience fiction fan I loved the expression ‚Space Opera’ given to multivolume series of sience fiction novels“. Durch die Begegnung mit Eric Fraad von Heresy Records entstand die Idee, eine Oper über einen Häretiker zu schrieben, um mit den Namen des Labels zu spielen, „I suggested a space opera (whatever that mighyt be) and he suggested that we should look for a Heretic in history that we could build an opera around, in line with the name of his label“. Aus dem Leben des italienischen Priesters, Philosophen, Dichters und Astronomen, der durch sein Postulat des unendlichen Weltraums gegen die offizielle Kirchenlehre verstieß, der Ketzerei beschuldigt und erst durch Papst Johannes Paul II. rehabilitiert wurde, klaubten Doyle und die Librettistin Jocelyn Clarke zentrale Szenen am Hof Heinrich III., von den Gerichtsverhandlungen in Venedig und Rom, in der Zelle vor seiner Hinrichtung sowie von seinem Nachleben im Einfluss auf das Schreiben von James Joyce, die er durch seine elektronische, minimalistische Musik zu suggestiven, fast sphärenklaren, selbst auf der CD theatralisch packenden Blöcken verdicht. Unterstrichen wird der Eindruck einer fast gläsernen Durchsichtigkeit, die an Glass’ Echnaton erinnert, durch die Verwendung hoher Stimmen, des Knabensoprans (Alex Smith) zu Beginn sowie für den jungen Giordano Bruno, mehrer Frauenstimmen für die Priester und Höflinge, männlicher Sopranisten für Kardinäle, eines Countertenors in mehreren Partien, der vorzügliche Iestyn Morris, zugleich der einzige mir bekannte Namen unter den Solisten. Dazu Daire Halin als Elisabeth I. und Göttin der Weisheit, die zusammen mit Caitriona O’Leary als Sonnengöttin eine wirkungsvolle Szene gestaltet, mit starrer Intensität singt der Tenor Morgan Crowley den Giordano Bruno sowie u.a. Heinrich III. und James Joyce. Die aus einer 2013 in Dublin aufgeführten ersten Fassung und der Uraufführung drei Jahre später zusammengesetzte Aufnahme (2 CD Heresy 021), ohne dass ich das genau entwirren lässt, zeigt immerhin, dass Heresy vermutlich auch auf der Bühne Effekt machen könnte.  Rolf Fath

Ein prachtvoller Band

 

Singen nennt sich ein prachtvoller Band, verantwortet von Ulrike Roos von Rosen und mit Beiträgen von Hanna Herfurtner, Rudolf Herfurtner und Tristan Braun, während Wilfried Hösl (Fotos) und Christopher Roos von Rosen (Illustrationen) für das Bildmaterial, soweit nicht von Theaterfotographen stammend, verantwortlich sind. Die im Untertitel schmückenden Starnamen sind die von Diana Damrau, Anja Harteros und Jonas Kaufmann, von denen es auch sehr schöne, teilweise ganzseitige Fotos,  fast ausschließlich aus München und Salzburg, zu bewundern gibt.

Einem Irrtum unterliegt, wer erwartet, den Großteil des Buches diesen drei Stars gewidmet zu sehen. Sie tauchen mit Aussagen zu ihrer Kunst eher sporadisch auf, wobei nicht klar wird, wieviel von diesen Originalbeiträge für das Buch oder Übernahmen aus anderen Quellen sind. Es beginnt mit einer euphemistischen Einschätzung des Singens und des Gesangs („..offenbar wohnt dem Singen eine besondere Kraft inne…“), auch Poetisches (Heine „Auf den Flügeln des Gesanges“) wird herangezogen, und es wird großzügig mit dem Platz auf 225 Seiten umgegangen, wenn für manche Themen zwei Seiten vorgesehen sind, von denen eine von einer nicht unbedingt das Thema erhellenden Graphik besetzt wird, eine weitere halbe Seite leer bleibt und der Text nur die letzte halbe Seite einnimmt. Auf die Optik wird generell viel Wert gelegt, so auch mit dem Wechsel von Schwarz und Weiß, mal als Hintergrund mal als Buchstabenfarbe.

Dem Leser wird spätestens mit den Ausführungen zur Bedeutung von Musik vor, während und nach der Geburt klar, dass es sich nicht um ein Buch über die drei auf der Titelseite genannten Stars handelt, sondern das umfassend berücksichtigt wird, was Musik im allgemeinen und Oper im Besonderen tangiert. Es geht also auch um den Stimmapparat, die Entwicklung einer Sängerstimme (hier kommen die drei Genannten zu Wort), um die Bedeutung guter Musiklehrer und Chorleiter, auch einer musikliebenden Familie, als Ermutiger zu einer Sängerkarriere.

Chronologisch aufgebaut bleibt es mit der Schilderung verschiedener Studiengänge, denen es nach einstimmiger Aussage an praxisbezogenen Themen mangelt, es werden die Bedeutung von Bühnenerfahrung und Opernstudios gestreift, die Entscheidung, ob man Solist oder Chorsänger werden wird. Gage, Sicherheit des Arbeitsplatzes und der Zeitrahmen zum Rollenstudium unterscheiden sich dabei wesentlich voneinander.

Hilfreich ist fast durchgehend die Gliederung des Textes, indem Fragen auf der linken und die dazugehörenden Antworten auf der rechten Seite einen guten Überblick über die Themen gewähren.

Sehr interessant ist, was Kaufmann über die Einstudierung des Florestan, über notwendige Vokalverfärbungen zu berichten weiß, belustigend die Rituale, mit denen Sänger ihre Nervosität vor dem Auftritt zu überwinden versuchen.

Das Kapitel über die Mono-Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“ ist wohl weniger der Notwendigkeit, über dieses Thema zu schreiben als der Tatsache zu verdanken, dass man die Autorin zu Wort kommen lassen wollte. Von allgemeinerem Interesse ist da schon das Gespräch zwischen Lioba (Sängerin) und Tristan Braun (Regisseur) über die Anliegen beider Berufsgruppen und den oft schwierigen Umgang miteinander.

Danach ist Schluss mit den Sängern, egal ob Star oder nicht, es kommen andere Berufsgruppen zu Wort, was nicht verkehrt ist, aber doch nicht zu erwarten war. Das heißt nicht, dass man nicht viel Interessantes erfährt, zum Beispiel von der Souffleuse Jana Frank, der Kostümbildnerin Dorothea Nicolai, der Maskenbildnerin Cécile Kretschmar, dem Theaterfotografen Wilfried Hösl, dem Stimmentdecker Toni Gradsack, und auch die Musikkritik wird berücksichtigt.

Schließlich wird noch ein Blick auf das Singen in der Hirnforschung geworfen, die Raumakustik verschiedener Opernhäuser und Konzertsäle werden einer Prüfung unterzogen und das Archiv Salzburg vorgestellt. Schließlich wird das Schlusskapitel dem berühmtesten aller Sänger, Orpheus, gewidmet (Königshaus & Neumann; 224 Seiten, ISBN 978 3 8260 6407 4). Ingrid Wanja

Liebst Du um Schönheit…

 

So richtig entfaltet sich der Duft der Linde noch nicht, doch bei „Dich lieb ich immerdar“ nimmt die Stimme im zweiten der Rückert-Lieder „Liebst Du um Schönheit“ einen magischen Schimmer an. Auf ihrem ersten Solo-Recital singt der Met-Liebling (Jezibaba, Giovanna Seymour, Adalgisa) Jamie Barton, Gewinnerin des Haupt- und Liedpreises 2013 bei der BBC Cardiff Singer of the World Competition und weiterer Preise, darunter des Tucker–Wettbewerbs 2015, Mahler, Dvořák und Sibelius, also eine klassische Auswahl mit den Rückert-Liedern und dem Ciganské melodie im Mittelpunkt. Man mag nicht kleinlich sein angesichts einer solch majestätischen Stimme und des würdevollen Singens, denn Barton legt mit All who wander fraglos ein bemerkenswertes CD-Debüt vor (Delos DE 3494). Die langsam-breiten Passagen liegen ihr besser als die hurtige Raffinesse, bei „Herr über Tod und Leben, Du hältst die Wacht um Mitternacht“, der letzten Zeile in „Um Mitternacht“, entfaltet die weiche Textur ihres Mezzosoprans eine kernige Strahlkraft, demonstriert sie eine stupende Atemführung und volle Tiefe, schöpft mühelos aus der Fülle ihrer üppigen Stimme, verfügt in „In meinem Lieben, in meinem Lied“ (in „Ich bin der Welt abhanden gekommen“) zudem über eine bemerkenswerte Zartheit, die man ihr nicht zugetraut hätte. Ein bisschen mag man an die ebenfalls aus Georgia stammende Jessye Norman denken. Nahtlos folgen drei Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit, darunter „Ich ging mit Lust“, das sie mit Ansätzen von Eleganz und sorgfältiger Textausgestaltung singt, der satte Klang und der noble Vortrag wirken gleichwohl oft ein bisschen gesetzt, um nicht zu sagen matronenhaft. Barton trifft den melancholischen Touch der Dvořák-Lieder, darunter das bekannte „Als die alte Mutter“ (Barton singt, man merkt es nicht auf Anhieb, natürlich tschechisch, wie auch die Sibelius-Lieder im originalen schwedisch erklingen), aber auch die feurige Enflammiertheit von letzten drei Lieder, wo Brian Zeger, wie auch in den sechs Sibelius-Liedern, seine pianistische Bravour und Individualität beweisen kann. Barton bietet für die Sibelius-Lieder ihre reiche Ausdruckskraft auf, ihre Fähigkeit, Stimmungen und nach innen gekehrte Momente auszumalen und festzuhalten. Sie greift weit aus, wobei die Stimme ein klein wenig an Farbe verliert und in der Tiefe auch mal ein wenig plump klingt, und setzt mit dem bekannten Var det en dröm einen wunderbaren Schlussakzent. Viel zu schnell sind die 60 Minuten vorbei.

 

Nanu! Ist das Simone Kermes? Die wilde, rote Lockenmasse würde stimmen. Es handelt sich allerdings um Laura Claycomb. Die Koloratursopranistin aus Texas ist schon gut zehn Jahre länger im Geschäft als ihre Kollegin Barton und machte als Giulietta, Gilda, Lucia, Zerbinetta und Cleopatra Karriere. Diesmal öffnet sie ihr Herz ihrem Gitarristen Marc Teicholz und nahm ein Programm mit Liedern für Sopran und Gitarre auf (Open your heart) – nicht alles Originalkompositionen wie die beiden Villa-Lobos-Lieder Modinha und Aria aus den Bachianas Brasileiras, die vier französischen Lieder des Kodály-Schülers Mátyás Seiber und sechs des ursprünglich für Tenor geschriebenen Zyklus Anon in Love von William Walton – sondern wie Debussy, Blitzstein und de Fallas Siete canciones Bearbeitungen. Open your heart ist sowohl der Titel eines Lieds von Marc Blitzstein wie der Aufnahme (Delos 3483), „not just to love, but to the possibilities the world has to offer in live and friendship“. Claycomb singt mit Geschmack und Stilsicherheit, hat Temperament und Elan, etwa im abschließenden bolerohaften Ouvre ton coeur von Bizet, verfügt in den de Falla-Liedern über ein rauchiges Timbre, das sich in den witzig- charmanten und manchmal drollig-naiven Liedern von Seiber nach volkstümlichen Gedichten glücklicherweise verliert. Dennoch zeigt die Stimme, die Aufnahme stammt bereits aus dem Jahr 2006, trotz aller zarten Schönheit, etwa in der Aria von Villa-Lobos, bereits eine fragile Angegriffenheit, die in den Walton-Bearbeitungen von Gedichten aus dem 16. und 17. Jahrhundert wie weggewischt ist; im elisabethanischen Duktus dieser Lieder kann Teicholz sein Gitarrenspiel besonders zur Geltung bringen.

 

Mit Il bel sogno lässt Carolina López Moreno einen Versuchsballon steigen (ARS 38 754), denn weder die Magda, deren „Chi il bel sogno di Doretta“ der Titel zitiert – wie denn „all die schönen Träume, die in jedem von uns schlummern“ – noch Louise, Liù, Violetta, Juliette und Ilia hat die aus einer albanisch-bolivianischen Familie stammende, in Stuttgart u.a. von Francisco Araiza und Ulrike Sonntag ausgebildete Sopranistin auf der Bühne gesungen. Das merkt man der vorsichtig tastenden Herangehensweise und den unausgereiften Interpretationen an, was dann gelegentlich auch etwas langweilig („Depuis le jour“) und flach gerät („Addio del passato“), die Magda und Ilia stechen da vorteilhaft heraus und zeigen das Potenzial, und die Begleitung durch die tüchtige Pianistin Doriana Tchakarova ebnet ihr auch nicht den Weg durch das fordernde Repertoire. Eine Orchesterbegleitung wäre in vielen Fällen gefälliger gewesen. Mit Freude registriert man, dass López Moreno auch Arien ausgewählt hat, die auf Recitals nicht gar so häufig vertreten sind, neben Ellen Orfords Stickerei-Arie, vor allem die letzte Arie der Blanche aus Previns A Streetcar named desire „I can smell the sea air“, und als gelungenste Interpretationen das Vilja-Lied sowie das reizvolle „Du sollst der Kaiser meiner Seele sein“ aus der Robert Stolz-Operette Die Favoritin. Rolf Fath

Donizetti-Rarität

 

Mit Verspätung bringt Hardy die optische Aufzeichnung eines seltenen Donizetti-Werkes vom Festival in Bergamo aus dem Jahre 1984 heraus – Sancia di Castiglia, uraufgeführt 1832 in Neapel im selben Jahr wie der ungleich berühmtere Elisir d’amore. Die zweiaktige Tragedia Lirica auf ein Libretto von Pietro Salatini spielt in Toledo um 990 und sieht die Königin Kastiliens Sancia im Mittelpunkt des Geschehens. Der Sarazenenprinz Ircano hofft auf den Thron und heuchelt Sancia Liebe vor. Die Königin willigt schließlich in die Hochzeit ein, als ihr Sohn Garzia, der die Bindung der Mutter missbilligt, unerwartet von den Kämpfen gegen die Gallier zurückkehrt. Ircano überredet Sancia, den Krönungswein für Garzia zu vergiften, doch sie trinkt ihn selbst und bekennt sich zu dem Verbrechen. Die sterbende Königin erfährt noch einmal die Liebe ihres Volkes, während Garzia den Thron besteigt und Ircano verhaftet wird.

Es ist dies die RAI-Aufzeichnung der damaligen Aufführung, die unter Sammlern nur als verwaschene Kopie, auch als vielbehustetes Audio-Dokument,  kursierte. Und es gab bislang nur einen einzigen akustischen Mitschnitt dieser Oper – mit Montserrat Caballé und José Sempere aus dem Madrider Teatro de la Zarzuela von 1992. Hardy fällt nun das Verdienst der Weltpremiere dieser Tragedia als DVD zu. Regisseur Filippo Crivelli inszeniert in der historisch orientierten Szene von Gianni Quaranta, zu der die prachtvollen Kostüme von Dada Saligeri perfekt korrespondieren, angemessen statuarisch, postiert die Protagonisten gebührend im Zentrum an der Rampe, was ihren Soli die Wirkung sichert.

Am Pult des Orchestra Sinfonica di Milano della Rai steht Roberto Abbado, denn die Rai  fungiert mit ihrer zweiten Ausgabe  des Premio Callas als Kooperationspartner des Unternehmens. Der Dirigent sichert dem Werk sowohl den Schwung als auch die elegischen Stimmungen und führt die beiden Finali zu spanungsgeladenen Höhepunkten.

Franco De Grandis mit weichem, in der Höhe etwas steifem Bass als Ircano eröffnet die Handlung mit einer Kavatine und Cabaletta ganz im Schema der Belcanto-Tradition. Als sein Staatsminister Rodrigo lässt Giuseppe Costanzo einen potenten Tenor mit kraftvoller Höhe hören, der mit der Titelheldin ein ausgedehntes Duett („Comprendo io so“) zu singen hat und auch in mehreren Soli glänzen kann. Deren Auftritt in königlicher blauer Samtrobe inmitten ihrer Hofdamen ist eine typisch dreiteilige Szene mit Rezitativ, der Arie „Io talor più nol rammento“ von beklommener Stimmung und einer bewegten Cabaletta „Se contro lui“. Antonella Bandelli ist nicht nur eine schöne Frau, sondern auch Trägerin eines farbigen und flexiblen Soprans. Die Stimme fließt, klingt angemessen melancholisch und serviert die acuti mit Sicherheit und Durchschlagskraft. Die Finalszene mit dem Giftbecher in der Hand („Vanne Ircano“) absolviert sie in großer Manier, einer Primadonna würdig. Ihr Sohn Garzia bedient in der Alt-Notation das klassische Schema der Hosenrolle. Adriana Cigogna singt sie mit jugendlichem Feuer und kultivierter, strömender Stimme (Foto oben: Dionilla Santolini, die erste Sängerin des Garzia in „Sancia di Castiglia“/ Opera Rara). Bernd Hoppe

Marzanos „Normanni a Salerno“

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Eine seit langem vergessene Oper, die ihre (zu kurze) Auferstehung verdiente, ist rund 185 Jahre nach der Geburt des Musikers und Komponisten Temistocle Marzano wiederentdeckt worden. Marzano, Lieblingsschüler von Mercadante, wurde von Salerno, seiner Adoptivstadt , damit geehrt, dass sie seine Oper I Normanni a Salerno im Januar 2006 mit Erfolg in eben dieser Stadt, Salerno, wiederaufführte.

Diese Oper, die 1872 das Teatro Verdi von Salerno eröffnete, ist danach wegen ihrer Komplexität nie wieder gegeben  worden. Vier Akte, drei Stunden Musik, fünfzig Orchestermitglieder, vierzig Choristen, mehr als fünfzig Tänzer und Statisten – das erfordert einen enormen Aufwand. Die Wieder-Produktion und Edition der Oper stammte von Eugenio Paolantonio, dem Vorsitzenden der Salerner Organisation, die eine informative website zum Thema unterhält. Die Orchesterleitung der Wiederentdeckung hatte man Giovanni Battista Bergamo  anvertraut,  der  sich  in der Vergangenheit für seinen Einsatz im italienischen Musiktheater einen Namen gemacht hatte. Und die allgemeinen Bemühungen umfassten quasi den ganzen Ort, wie man den zum Teil anrührend-naiven Aufführungsfotos entnehmen kann – es war ein Werk der Liebe.

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„I Normanni a Salerno“: Der Komponist Temistocle Marzano/ OBA

Die Geschichte spielt  im  12.  Jahrhundert, als die Normannen unter Wilhelm Eisenarm, Sohn von Tancredi d’Altavilla, der Stadt Salerno gegen den Ansturm der  Sarazenen zu Hilfe eilen. Die Geschichte erinnert an den Widerstand der Bevölkerung von Salerno und an die unglückliche Liebe zwischen Bianca, Tochter des Königs Guaimaro und Verlobte von Guglielmo, zu  Ainulfo, Verräter am eigenen Volk und an seinem Glauben. Dieser dringt heimlich in den Palast ein, um Bianca vor ihrer Hochzeit zu entführen, womit er scheitert. Er droht, den König Guaimaro zu ermorden, und begeht schließlich Selbstmord, um der Selbstjustiz durch das Volk zu entgehen.

Die Wieder-Aufführung war Teil eines größeren Projektes, das sich „Die Normannen in Süditalien“ betitelt. So wurden die majestätischen Türme und Burgen entlang der Südküste, wo der Einfluss der Normannen noch abzulesen ist, zu Schauplätzen von Aufführungen, auch von Opern.

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Komponist, Oper und geschichtliches Umfeld: Die Oper I Normanni a Salerno wurde zum ersten Mal am Teatro Verdi von Salerno am 11. Juni 1872 gezeigt und hatte bei Publikum und Kritik großen Erfolg. Dirigent war der Komponist selbst, der nicht zuletzt wegen dieses Erfolgs berechtigte, aber später nicht erfüllte Hoffnungen hegte, dass sein Werk auch an größeren Bühnen aufgeführt werden würde. Die Kosten für die Salerneser erwiesen sich jedoch als zu hoch, und das Vergessen senkte sich – wie es schien, für immer – über das Werk. Einen lobenswerten Rettungsversuch unternahm dann der Mediziner und Opernenthusiast Guglielmo Longo, der in den dreißiger und später noch einmal in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Aufmerksamkeit auf den Komponisten und sein Werk lenkte.

„I Normanni a Salerno“: Blick auf das Teatro Municipale Giuseppe Verdi und die Via della Indipendenza Ende des 19. Jahrhunderts/ OBA

Temistocle Marzano hat nur  wenig  über sein Leben hinterlassen. Herausragend ist sein Studium bei Mercadante. Neben seiner Oper  I Normanni  erinnert  man sich vielleicht noch an La Perseveranza (Mailand 1872). Informationen über sein Leben sind fragmentarisch. Er wurde 1820 in Procida geboren und starb 1896 in Salerno. Seine Studien vollendete er am Real Collegia di  Musca  und  am  Conservatorio  S. Pietro a Majella  in Neapel, wo er  mit Florimo (Belinis Freund) und Cesi  zusammmentraf und von  Zingarelli und Mercadante (seit 1840 Direktor des lnstitutes) unterrichtet wurde. Mercadante selbst hielt ihn für seinen besten Schüler. Nach seiner Ausbildung ging Marzano (so sein Biograf Longo) nach Civittavecchia, dann nach Salerno, wo er am Jesuitenkolleg als Maestro Concertatore angestellt war, danach als Leiter des bekannten Theaters La Flora. Von 1869 bis zu seinem Tode stand er dem Orchester und der der Scuola des Waisenhauses (Scuola Musicale dell’Orfanotrofio Umberto I.) und der eigens gegründeten Banda Municipale (1887) vor. Später wurde dann er Direktor des Teatro Verdi in Salerno; und als glühender Patriot und  Maestro di Capella Pontificio für Pius IX. verfasste er ein reiches geistliches Oeuvre (darunter ein Requiem, ein Magnificat und eine Messe) neben umfangreicher Gelegenheitsmusik.        

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Die Oper I Normanni muss  man, ohne zu  übertreiben, als eindrucksvoll  bezeichnen. Der musikalische Stil Marzanos erinnert (eben in der Folge Mercadantes) weniger die überschäumenden Einfälle einer buffa  Rossinis, als vielmehr Echos von Bellini und Donizetti sowie letzten Endes auch von Verdi. Die Einflüsse einer Lucia auf Bianca, der weiblichen Hauptrolle, sind nicht zu überhören. Die Rivalität zwischen zwei Familien und der Konflikt zwischen Vaterlands­ und persönlicher Liebe finden sich sowohl bei Bellini als auch in den Normanni.

„I Normanni a Salerno“/ Szene/Aufführung im Teatro Politeama in Neapel 2007/ INAS

I  Normanni a Salerno sind eine opera seria in starken Farben, deren interessante Musik einerseits  die  vielfältigen  Einflüsse des Königlichen Musikkollegs von Neapel widerspiegeln und andererseits die des zeitgenössischen(!) melodramma Verdis. Die Charakterzeichnung eines Don Carlo oder eines Ernani findet sich auch in der Psychologie einer Figur wie der des eifersüchtigen und gewalttätigen Ainulfo oder dem eher heroischen Guaimaro, der einem Bass anvertraut  ist und nicht –  wie damals  üblich – einem Tenor. Die Rollen sind so beschaffen, dass sie nicht leichte, sondern kraftvoll­ heroische spinto-Stimmen für die Sopran-, Tenor- und Baritonpartie erfordern. Und in der Tat ist die Baritonrolle des Guglielmo einem Silva oder Posa nicht unähnlich.

Der Wunsch nach dem Zeitgemäß­/Modischen lässt sich auch an der Verwendung von zeitgenössisch beliebten Musikstücken erkennen: man findet Triumphmärsche, Fanfaren, brillante Walzer, romantische Melodien, volkstümliche Tarantellen, Gebete und vieles von dem, was wir auch bei Verdi hören – etwa den raschen Wechsel zwischen in sich abgeschlossenen Gesangsnummern und  Rezitativen. Es fehlen durchaus nicht originelle harmonische Lösungen und ungewöhnliche Melodien. Bestimmte musikalische Themen  sind einzelnen Personen zugeordnet, Leitmotiven vergleichbar,  aber später auch in Verdis Aida und dann von Puccini verwendet. Der Chor ist in die Handlungen eingeflochten, wie in den Opern Verdis, und kommentiert die Aktion, drückt die Meinung des Volkes aus, vergleichbar mit der Rolle des Chores im antiken Drama. Ihm gebührt auch das Erflehen des göttlichen Eingreifens, was im Intermezzo von Cavalleria erneut der Fall ist. Die Verbindungen Mascagnis mit Salerno sind ja hinreichend bekannt: Franz Carella benannte 1925 nach dem Komponisten und Freund das historische Liceo Musicale und 1933 das Orchestra Sinfonica „Mascagni“, das dieser begründet hatte und bis zu seinem Lebensende leitete.

„I Normanni a Salerno“/ Szene/Aufführung im Teatro Politeama in Neapel 2007/ INAS

Unüberhörbar sind in Marzanos Oper ebenfalls die Einflüsse der später von Mascagni verwendeten Tradition, die auf dem Blasorchester, der banda, von Salerno fußt und die unüberhörbar in der Instrumentation der Normanni vorhanden ist – der Hörnerchor, die Basstuba und die Blechbläser generell. Natürlich ließ auch Verdi sich von den bande musicali Italiens beeinflussen. Und Marzano war ja eine Zeitlang Chef der regionalen banda. Das positive Urteil des kompetenten und strengen Publikums der damaligen Zeit wird von den musikalischen Fachleuten heute bestätigt und lässt keinen Zweifel aufkommen an der Qualität und damit der Bedeutung  der  Musik Marzanos.

Das Libretto der Normanni stammt von eben jenem Leone Emanuele  Bardare, der von Verdi gebeten wurde, das Libretto des Trovatore zu vollenden.  Zudem passte er das Libretto von Rigoletto den Forderungen der Zensur an. Vieles erinnert im Libretto der Normanni an Ernani – die dramatische Erzählweise, die inneren Konflikte der Hauptpersonen, die plötzlichen Wendungen der Handlung, oder auch die Unterbrechung des Festes am Schluss des ersten Aktes – eine für das 19. Jahrhundert typische Klimax, die Emphase des szenischen Wortes. Ainulfos Arie „T‘ invola“ erinnert an „Ernani, Ernani, involami“ und bekundet die Erfahrung in der Zusammenarbeit des Librettisten mit Verdi.

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„I Normanni a Salerno“/ Abschlussvorhang von Domenico Morelli im Teatro Verdi zu Salerno/ OBA

Die Handlung selbst fußt auf einer historisch nicht belegten Episode, nach der zu Beginn des Eindringens der Normannen in Süditalien (1016) vierzig Soldaten auf  der  Rückkehr von einer Pilgerfahrt ins Heilige Land In Salerno Rast machten und die Stadt  von den Sarazenen belagert antrafen. Die Kreuzritter  boten  dem Langobardenkönig Guaimario III. ihre Hilfe an und besiegten die Ungläubigen. Wahrscheinlich hatte der König selbst die Normannen zu Hilfe gerufen, die nach Italien als Söldner gekommen waren. Auch die dann nicht vollzogene Hochzeit zwischen Bianca und Guglielmo Braccio di Ferro beruht wohl eher auf dem historischen Wissen um Hochzeiten zwischen langobardischen Prinzessinnen und normannischen  Condottieri.

Das musikalische Drama scheint also auf einigen historischen Episoden zu beruhen, die in eine bewusst patriotisch gestaltete Geschichte umgeformt wurden. Das Feiern des heroischen Widerstandes von Salerno und des Opfers von Bianca stellt eine klare Verherrlichung der Stadt und ihrer politischen Klasse dar, was auch am Beginn des Librettos die Widmung für die Stadt beweist.

Und 2023 im August erneut eine Aufführung in Pompeji!

Nach der Einigung Italiens erlebte auch Salerno dank der Aktivitäten seines ersten Bürgermeisters einen großen Aufschwung – gekrönt vom Bau eines Opernhauses, dem Teatro Municipale, später Teatro Verdi, das 1871 vollendet wurde. Die den Aufschwung tragende liberale Bürgerschaft strebte nach einer historisch untermauerten Legitimation, was u.a. durch die Förderung der Kultur, insbesondere der Oper, gewährleistet war. Das Sujet der Normanni sollte außerdem den patriotischen Zusammenhalt der Bürger befördern. In Bezug auf die Religion war man nicht zimperlich, die Sarazenen als Ungläubige zu diskriminieren, wie es der Chor im zweiten Akt zeigt.

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Ingrid Wanja übersetzt tapfer und unverzagt aus dem Italienischen für uns – Danke Ingrid!

Verbreitung: In  dieser nur einen  Aufführung der  Oper in Salerno nach der Premiere 1871 nun im Januar 2006 hatte das Teatro Verdi kompetente Sänger versammelt. Die Rolle des Guaimaro, Fürst von Salerno, wurde dem Petersburger Bass llia Popov gesungen. Gianni Mongirdino/Tenor war der Condottiere Ainulfo. Der Bariton Sergio Bologna war der Herzog Guglielmo Eisenarm. Berta,  die  Vertraute von Bianca, wurde von der Mezzosopranistin Ekaterina Metlova gegeben. Bianca wurde von der Sopranistin Sabrina Messina gesungen. Der Tenor Massimo Ferri verkörperte Guaimaro und Agar. Der Chor Patanero aus Alessandria wurde von Gian Marco Bosio geleitet. Giovanni Battista Bergamo dirigierte das Ganze, sowohl in Salerno 2006 wie auch in einer weiteren Gastvorstellung im Politeama von Neapel im Jahr darauf (2007). 2009 gab die Sopranistin Patrizia Morandini in Lissabon ein Recital mit Auszügen aus der Oper zum Klavier. Danach versank die Oper wieder in ihren gut geübten Schlaf. Was ein Jammer ist. Zumindest kursiert ein mehr oder weniger grauer Mitschnitt auf einem dto. Label.  Geerd Heinsen

 

Der Artikel beruht in Teilen auf der Einführung von Ginevra de Majo im Programmheft zur Aufführung in  Salerno 2006. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.