Niemand ist eine Insel

 

Auf den Tag genau zu seinem hundertsten Todestag gedachten Christian Thielemann und die Münchner Philharmoniker, in deren Programmen seine Sinfonien stets einen wichtigen Raum einnahmen, am 18. Mai 2011 im Münchner Gasteig Gustav Mahlers mit dem Adagio aus der unvollendeten Zehnten und einer Auswahl seiner Wunderhorn-Lieder, die jetzt auch in der Reihe der Aufnahmen aus den Archiven der Münchner Philharmoniker vorliegen (MPHIL0007). Michael Volle singt die hier ausgewählten acht Lieder, darunter Rheinlegendchen, Das irdische Leben und das später im vierten Satz der zweiten Sinfonie wiederkehrende Urlicht, mit der reichen Ausdruckskraft seines markanten Baritons, ohne den 1806 von Brentano und Arnim veröffentlichten Liedern im Volkston eine falsche volkstümliche Behutsamkeit zu unterlegen, doch mit sanft fließender Natürlichkeit in Wer hat dies Liedlein erdacht und Wo die schönen Trompeten blasen, kluger Holzschnitzkunst in Verlorne Müh, deklamatorischer Wucht im Ausruf „Die Gedanken sind frei“! im Lied des Verfolgten im Turm und szenisch entworfener Prägnanz, dabei immer unterstützt von Thielemanns orchestraler Erzählkunst, in den dialogischen Abschnitten in Der Schildwache Nachtlied. Immer auf Ausdruck und Inhalt weniger auf edlen Schönklang bedacht, erklingt Volles gewichtiger Bariton im Urlicht.

Gleich zweimal gehört habe ich die Aufnahme von Thomas Ebenstein, der sich für sein Solo-Debüt Lieder von Schönberg, Zemlinsky, Strauss und Korngold aussuchte (Capriccio C3007), die ausgezeichnet zu seiner Stimme passen, einem Charaktertenor, den man nicht unbedingt als schön bezeichnen möchte. Das macht nichts. Ebenstein singt Schönbergs Brettl-Lieder und die beiden im gleichen Jahr (1901) entstandenen Brettl-Lieder von Alexander von Zemlinsky (leider beinhaltet das dürftige Faltblatt keine Texte. Die Texte stammen von Arno Holz bzw. Rudolf Alexander Schröder) mit tenoraler Singakrobatik, Witz und Charme. Natürlich verfügt er – in seinen Partien an der Wiener Staatsoper quasi der Nachfolger eines Heinz Zednik – nicht über die Klangfülle einer Jessye Norman, deren Aufnahme der Brettl-Lieder Schönbergs Zyklus auf den internationalen Liedpodien Beachtung verschaffte. Aber Ebenstein ist ein Singschauspieler, der mit Leichtigkeit und Distinktion agiert und diesen im Umkreis des Berliner Überbrettl-Kabaretts entstanden Gedichten und Liedern ihre chansonhafte Hurtigkeit und Raffinesse lässt, und Frechheit, wenn in Zemlinskys In der Sonnengasse die Resi ihr Schnürleib krachen lässt oder der fette Herr Bombardil alle Warnungen des Arztes in den Wind schlägt und so viel frisst, bis er platzt. Die 12 Lieder von Richard Strauss’ Krämerspiegel mit den sprachspielerischen, fast kindisch rachsüchtigen Texten von Alfred Kerr über „Bote & Bock“ aus dem Jahr 1918 könnten auch ohne Gesang bestehen, derart reich ist ihr Klavierpart, mit dem der exzellente Charles Spencer seine Kunst der Liedbegleitung, man höre nur das Nachspiel zu O Schöpferschwarm, o Händlerkreis, unterstreicht.  Ebenstein gestaltet diese Lieder bissig, satirisch, unverzerrt, durchaus animierend; und in den vier Shakespeare-Liedern op. 29 aus dem Jahr 1937 wird sein Tenor sogar der schillernden Klanglichkeit Korngolds gerecht.

Hatte man sich Ähnliches an exquisiter Salonkunst von den Poldowski Art Songs erhofft, wird man herb enttäuscht. Poldowski war das Pseudonym von Henryk Wieniawskis Tochter Régine (1879-1932), die u.a. bei d’ Indy studierte und ab 1911 Lieder veröffentlichte, vor allem auf Texte von Paul Verlaine. Mancher kennt Philippe Jarousskys exquisite Interpretation von L’ heure exquise. Mit luschiger Stimme und Interpretation bereitet Angelique Zuluaga (Delos DE 3538) wenig Vergnügen.

Da möchte man gleich bei Musik ohne Worte bleiben, vor allem da Sheku Kanneh-Mason auf Inspiration (Decca) nicht nur Saint-Saens’ zerbrechliche Tierpreziose Der Schwan aus dem 1921 postum veröffentlichten Karneval der Tiere, sondern auch so Rares wie Jacqueline’ s Tears, also die seit Jacqueline du Pré berühmten Larmes de Jacqueline op. 76 Nr. 2 von Offenbach,  tränenschwer und mit sattem Ton spielt; begleitet von dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Mirga Granzinyte-Tyla. In seiner britischen Heimat ist der 18jährige Sheku, der 2016 als erster schwarzer Musiker den BBC Young Musician of the Year Award gewann, eine kleine Berühmtheit; insgesamt ist mir die Aufnahme u.a. mit Schostakowitschs Cellokonzert Nr. 1, dem Nocturne aus seiner Suite Die Stechfliege, Casals Sardana und Gesang der Vögel sowie Stücken von Leonard Cohen und Bob Marley aber zu monochrom.

Das Oeuvre Debussy, von dem Poldowskis Lieder beeinfluss sind, wird bei Hyperion mit der vierten Ausgabe Songs by Debussy fortgesetzt und beendet (CDA68075). Lucy Crowe mit silberreinen, feinem kleinen Ton und Christopher Maltman, dessen charakterfester Bariton seit seinem Solo-Auftakt in der Debussy-Reihe 2003 wesentlich gespreizter und angestrengter klingt, singen, begleitet von dem umsichtigen Malcolm Martineau, Lieder, die Debussys gesamtes Schaffen umspannen, also von der Tragédie von 1881 bis zu seinem letzten Lied Noêl des enfants qui n’ont plus de maisons. Das Hauptaugenmerk liegen auf den von Crowe mit Schwung, Gefühl und Eleganz, aber auch der vielfach geforderten Koloraturtüchtigkeit gesungenen Liedern, darunter das bezaubernde Beau soir, das im Duett mit Jennifer France gesungene Chanson espagnol oder der Orientalismus in Rondel chinois.

Sonnets widmen sich der Tenor Daniel Norman und sein Pianist Christopher Gould (stone records 5060192780734). Darunter befinden sich Benjamin Brittens sieben Michelangelo Sonnets op. 22 und seine Holy Sonnets auf Texte des sich auf Petrarca beziehenden John Donne, welche Franz Liszts drei Sonetti di Petraca sowie zwei Shakespeare-Vertonungen umklammern – das 18. Sonett Shall I compare thee to a summer’s day? von John Dankworth und das 147. Sonett My love is as a fever von Duke Ellington. Das interessante Programm, in das er im englischsprachigen Beiheft mit einem klugen Aufsatz einführt, bewältigt Norman mit hell blankem und gelegentlich grellem Tenor und der stilistischen Versiertheit eines aus der englischen Chortradition erwachsenen Sängers.  Rolf Fath