Archiv für den Monat: März 2018

„Der selige Augenblick“

 

Es klingt wie eine Botschaft aus einer versunkenen Zeit. „Mi batte il cor … O Paradiso!“ Vor allem dann, wenn Caruso den Vasco da Gama in Meyerbeers Oper L’Africaine singt. Die Arie ist die Erkennungsmelodie einer Fernsehserie, in der Regisseur und Produzent Jan Schmidt-Garre den Erinnerungen an legendäre Tenöre der Schellackzeit (Belcanto – The Tenors of the 78 Era)  nachspürt: Neben Enrico Caruso sind das John McCormack, Leo Slezak, Tito Schipa, Richard Tauber, Lauritz Melchior, Beniamino Gigli, Georges Thill, Helge Rosvaenge, Ivan Kozlovsky, Joseph Schmidt und Jussi Björling. Jedem Sänger ist eine Folge gewidmet, die bis auf zwei Ausnahmen mit der Vasco-Arie in der Interpretation des jeweiligen Tenors beginnt – ob nun auf Italienisch, Französisch oder auf Deutsch.

Eine zusätzliche Folge, nämlich die dreizehnte, ist als „Dialogue with Eternity“ angelegt. Das passt. Jürgen Kesting findet passende Worte: „Wenn ein Sänger einen hohen Ton oder schönen Ton lange hält, vergess’ ich die Zeit, vergesse sogar, dass er vielleicht eine Spur über den Rhythmus hinausgeht. Der selige Augenblick ist da. Wenn ich das auf der Schallplatte zum zweiten, zum dritten, zum vierten Mal höre, wird aus dem Affekt ein Effekt.“ Der Stimmenexperte und Kritiker, der ein mehrbändiges Werk über Sänger verfasst hat, kommt in allen Folgen zu Wort – erklärt, deutet, doziert, ordnet ein, wägt ab, spielt vor und genießt selbst. Er weiß, wovon er redet und ist ganz in seinem Element. Sein leiser und vornehmer Enthusiasmus ist ansteckend. Mit seinem Wissen und seiner distinguierten Art des Vortrags, hat er beträchtlichen Anteil am Gehalt und an der Wirkung dieser über weite Strecken sehr sinnlichen Dokumentation, in der auch viele andere internationale Experten und Zeitzeugen zu Wort kommen. Mitunter auf rührende Weise und in skurrilen Gesprächskreisen. Doch keine Angst, die Filme schwelgen nicht in der guten alten Zeit. Und sollte auch so nicht verstandnen werden. Als wesentlich empfand ich, dass dem Sinn und den Möglichkeiten des Singens nachgespürt wird, auch im jeweiligen historischen Kontext. Was gesagt wird, wird mit vielen Ton- und Filmausschnitten belegt, wenigsten aber begründet. Wer also wissen will, wozu die menschliche Stimme an Technik und Ausdruck fähig ist, wird es am Ende erfahren haben. Nach der Erstsendung – inzwischen gab es etliche Wiederholungen – kamen die dreizehn Teile mit jeweils einer halben Stunde Länge in zwei Boxen erstmals bei medici arts auf DVD heraus und dürften Eingang in viele Sammlungen gefunden haben.

Nun greift Naxos die Dokumentation wieder auf (2.110389-91). Mit deutlich erweitertem Umfang. Ein kräftiger Anreiz muss schon sein, um die Serie erneut unter die Leute bringen zu wollen. Im äußeren Erscheinungsbild kommt dies allerdings nicht zur Geltung. Der Mehrwert der Box hätte stärker betont werden müssen. Es spricht einiges dafür, die alte Ausgabe durch eine Neuanschaffung zu ersetzen. Warum? Den originalen Teilen ist jetzt ein Album mit den behandelten Arien beigelegt, das es bisher nur gesondert gab. Darauf auch die Arie mit Caruso. Seine Spielzeit beträgt 154 Minuten. Zudem werden Filmausschnitte, die in die Dokumentation eingegangen sind, nochmals gesondert auf einer DVD zusammengefasst. Auf einer weiteren DVD, die als Bonus ausgewiesen ist, sind der Italiener Tito Schipa, die Österreicher Joseph Schmidt und Richard Tauber sowie der Russe Ivan Kozlovsky zu sehen und zu hören. Schipa singt in Kostüm und Kulisse unter anderen den Lyonel im Flotows Martha, Schmidt ist in zwei seiner Filme – „Wenn du jung bist gehört dir die Welt“ und „Ein Stern fällt vom Himmel“ zu sehen. Und Tauber begleitet sich selbst am Klavier mit einer eigenen Komposition und bei dem Lied „Once There Lived a Lady Fair“ von George H. Clutsam. Stalinistisch gefärbte Zeitgeschichte flammt auf, wenn Kozlovsky vor Bergarbeitern einer Zeche unter dem Bild des Diktators seinem verschwenderischen Tenor freien Lauf lässt. Stalin schätze seine Stimme und soll ihm Gastspiele im Westen aus Sorge verwehrt haben, er könne nicht in die Sowjetunion zurückkehren.

Das Buch „Die Krise der Gesangskunst“ von Wolf Rosenberg ist bei C. Braun, Karlsruhe erschienen und längst vergriffen. In der neuen Box wird ein Artikel in englischer Übersetzung abgedruckt.

Ein Heft mit diversen Essays rundet das Angebot ab. Darunter befindet sich in englischer Übersetzung auch der Text des Buches „Die Krise der Gesangskunst“ von Wolf Rosenberg, das seit vielen Jahren vergriffen ist und antiquarisch hoch gehandelt wird. Rosenbergs kritischer Befund endet zwar schon im Jahr 1968, seine hohen Ansprüche aber wirken fort. Im deutschen Original heisst es:  „Das Extrem, auf das in der letzten Zeit hingesteuert wird, ist ein Kult mit Stimmen, wie er nie zuvor möglich war. Die Forderungen gehen allein ans Material; man spricht nur noch von der Kehle, vom Gold, Silber, Metall oder was sonst in ihr stecken möge, nicht aber vom Blei auf der Zunge, das undeutliche Deklamation, Schwere und Unreinheit des Ansatzes sopwie Mangel an Geläufigkeit zur Folge hat; nicht vom Holz in der Linienführung, wo solche überhaupt noch angestrebt wird, und nicht von den übrigen Metaphern, mit denen man bereits zur Konvention gewordene Unarten belegen könnte.“ All dies habe dazu geführt, dass der „Unterschied zwischen einem Stimmbesitzer und einem Sänger weiterhin unbekannt“ sei, dass „jeder italienische fortissimo-Tenor, gleich ob er singen kann oder nicht, ein zweiter Caruso genannt wird“. Rüdiger Winter

Das Foto oben aus dem Booklet der dreizehnteiligen Dokumentation „The Tenors of the 78 Era“ zeigt Beniamino Gigli als Herzog in Verdis Oper Rigoletto. Dem italienischen Sänger ist eine Folge gewidmet. 

Unbeirrbare Ernsthaftigkeit

 

Die Deutsche Oper Berlin schreibt: „Noblesse und Souveränität, Vielseitigkeit und unbeirrbare Ernsthaftigkeit der künstlerischen Arbeit“ – die Worte, die Intendanten, Musiker und Journalisten wählten, wenn sie die künstlerische Persönlichkeit von Jesús López Cobos (Toro-Zamora, 25. Februar 1940 – Berlin, 2. März 2018 ) beschrieben, zeigen in auffälliger Übereinstimmung, wie sehr dieser Dirigent zeitlebens das Gegenteil eines glamourösen Pultstars war. Und vermutlich wusste auch Götz Friedrich, dass er genau so einen Musiker brauchte, als er den Spanier 1981 als Generalmusikdirektor an die Deutsche Oper Berlin holte, um gemeinsam mit ihm den Erneuerungsprozess des Musiktheaters zu beginnen. Neun Spielzeiten lang gestaltete López Cobos diese Zeit mit, die zu einer der glanzvollsten des Hauses werden sollte, und dirigierte in dieser Periode eine Vielzahl von Produktionen, die eindrucksvoll die Bandbreite seines musikalischen Interesses zeigen: Die Neuproduktion von Wagners Ring des Nibelungen  in der Regie von Götz Friedrich war sicher das spektakulärste Ereignis dieser Ära, doch der stilistische Horizont von López Cobos umfasste ebenso Operetten wie Offenbachs Orpheus in der Unterwelt oder Stücke wie Meyerbeers Die Hugenotten, Bergs Lulu und Verdis Forza del Destino. Dabei verstand sich der Spanier stets als Ermöglicher auch kontroverser szenischer Sichtweisen, sicherte die musikalische Qualität und Präzision im Kontakt zwischen Bühne und Orchester.

Gelernt hatte der 1940 im kastilischen Toro geborene López Cobos sein Handwerk bei den beiden wichtigsten Dirigierlehrern der Nachkriegszeit, bei Franco Ferrara und vor allem bei Hans Swarowsky in Wien und hatte in der Folgezeitdurch den Gewinn internationaler Dirigentenwettbewerbe schon bald auf sich aufmerksam gemacht. Schon früh kam er nach Berlin, wo er an der Deutschen Oper bereits mit 31 Jahren, am 30. April 1971, mit Puccinis Oper La Bohème debütierte. Parallel zu seiner internationalen Karriere entwickelte sich in den Folgejahren auch seine Beziehung zu diesem Haus, wo er schon vor seinem Amtsantritt sechs Neuproduktionen dirigierte, darunter Wagners Tannhäuser und Rossinis Turco in Italia, aber auch die Barockoper La Calisto von Francesco Cavalli.

Von 1981 bis 1990 war López Cobos Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin und von 1984 bis 1988 darüber hinaus Musikdirektor des Spanischen Nationalorchesters. 1986 bis 2000 war Jesús López Cobos Chefdirigent des Cincinnati Symphony Orchestra, sowie von 1990 bis 2000 Chefdirigent des Kammerorchesters von Lausanne. Von 2002 bis 2010 war er Musikdirektor des Teatro Real in Madrid. Er starb am 2. März 2018 in Berlin (Foto oben: Javier de Real/Deutsche Oper Berlin).

Louis Roney

 

American tenor, in Winter Park, Florida, on November 5 2017, aged 96. Born in Atlanta on 26 January 1921, Louis Roney studied at Harvard and, aged 27, sang Cavaradossi with the New York Philharmonic under Mitropoulos, launching a career that combined opera and concert work. He sang a number of leading dramatic roles, including Rodolfo, Don José, Radames, Otello and Herod, in Hartford, Houston, New Orleans, San Diego and Seattle.

At the 1956 Maggio Musicale in Florence he sang Almanzor in Cherubini’s Gli Abeceragi opposite Anita Cerquetti (this and his Jésus opposite Régine Crespin in the 1976 first American performance of Massenet’s Marie-Magdeleine remain available on live recordings). His European career took him to Brussels (Hoffmann), Mannheim (Admète, Erik, Gustavo), Lyon (Florestan), Monte-Carlo (Faust), Strasbourg (Énée with Rita Gorr and Števa in the 1962 first French performance of Jenůfa) and Paris (Aegisth). Roney continued to perform in concert and taught for a quarter of a century at the University of Central Florida.   David Shengold

 

Mit sehr freundlicher Genehmigung des Autors und John Allisons, Chefredakteur des britischen Opernmagazins Opera (The world´s leadings Opera magazine), wo dieser Artikel in der Januarausgabe 2018 erschien und uns überlassen wurde. Danke an beide/ Foto oben: Louis Roney als Almansor in Cherubinis „Abenceragi“ beim Maggio Musicale Fiorentino 1956/ Cetra. G. H.

Enttäuschend

 

Wie Sonya Yoncheva (bei Sony) hat  auch Joseph Calleja ein neues Verdi-Album veröffentlicht (Decca 483 1539), das einige Überraschungen bereithält. Mit dem Macduff in Verdis Macbeth hatte Calleja als ganz junger Sänger in  seiner Heimat Malta debütiert und später vor allem die lyrischen Partien des Komponisten interpretiert – Fenton in Falstaff, Duca in Rigoletto und Alfredo in La traviata. Der Gabriele Adorno in Simon Boccanegra war ein erster Schritt in Richtung des Zwischenfachs und das neue Recital nimmt diesen Weg auf, präsentiert Partien, welche der Tenor bisher noch nicht auf der Bühne gesungen hat. Da würde man zuvörderst an den Gustafo im Ballo in maschera denken, für den Callejas Stimme mit ihrer betörenden lyrischen Emphase, dem Schmelz und der zärtlichen Süße ideal erscheint. Leider fehlt diese Partie in der Auswahl. Dafür gibt es als Einstieg Radamès’ berühmte „Celeste Aida“, jene gefürchtete Auftrittsarie des Helden, welche am Ende ein hohes B als descrescendo bis ins  piano verlangt. Calleja meistert diese Hürde imponierend, bietet insgesamt mit schwärmerischem Ton die lyrische Seite des Helden. Das trifft auch für den Manrico aus dem Trovatore zu, dessen beiden großen Soli – das lyrische „Ah! si ben mio“ und das heroische „Di quella pira“ – sowohl in ihrer Bewältigung der Tessitura als auch der Mischung aus Flexibilität und Attacke überzeugen. Der Alvaro in der Forza del destino dürfte live noch in fernerer Zukunft liegen, gleichwohl besticht das „Oh, tu che in seno agli angeli“ durch den emphatisch-sehnsüchtigen Ton. Und es wird vom begleitenden Orquestra de la Cominitat Valenciana unter Ramón Tebar sehr atmosphärisch eingeleitet, wie dieser Klangkörper überhaupt mit vielen Farben und Zwischentönen aufhorchen lässt. Im Duett mit Carlo, „Invano, Alvaro“, assistiert dem Tenor der Bariton Vittorio Vitelli, der auch als Posa neben Callejas Don Carlo in Verdis gleichnamiger Oper in Erscheinung tritt und eine kernig-robuste Stimme hören lässt.

Die letzten vier Titel sind dem Titelhelden in Verdis Otello vorbehalten, jener Partie, die wohl erst ganz spät (oder nie) in Callejas Karriere kommen wird. Und hier spürt man deutlich, dass dem Interpreten die Erfahrung mit dieser Rolle auf der Bühne fehlt. Im Liebesduett ist der Tenor mit Angela Gheorghiu, im Racheduett wieder mit Vitelli zu hören. Sie berührt mit zarten, träumerischen Gespinsten, er ist als Jago der gebührend verführerische Intrigant. Es gibt durchaus überzeugende Details in Otellos Monolog „Dio! mi potevi scagliar“, den er mit bebender Stimme wiedergibt, oder seiner Todesszene „Niun mi tema“ mit einem ersterbenden „un’altro bacio“, aber insgesamt überwiegt der Eindruck des Verfrühten, Unfertigen. Bernd Hoppe

Frank Corsaro

 

American director, in Suwanee, Georgia, on November 11, aged 92. Born in New York City on 22 December 1924, Frank Corsaro rose to prominence at New York City Opera with a 1958 production of Carlisle Floyd’s Susannah later seen at the Brussels World Fair. He became one of NYCO’s most innovative directors, collaborating with the singing actresses Patricia Brooks and Maralin Niska as well as the future international stars Beverly Sills, Plácido Domingo, Carol Neblett and Norman Treigle. He offered fresh takes on standards such as La traviata and Madama Butterfly, and directed NYCO productions of The Cunning Little Vixen, The Makropoulos Case and Die tote Stadt, the last two notable for their pioneering use of video projections, and the premiere of Lee Hoiby’s Summer and Smoke (1971). He also directed the premieres of Floyd’s

Of Mice and Men (Seattle, 1970) and Thomas Pasatieri’s The Seagull (Houston, 1974). His lone outing at the Metropolitan Opera (1984) was a transfer of his 1982 Ottawa staging of Rinaldo, the Met’s first-ever Handelian venture.

He wrote librettos for Pasatieri (Frau Margot) and Stephen Paulus (Heloise and Abelard). Corsaro played small roles (including Launcelot Gobbo in several productions of The Merchant of Venice), and went on to direct ten Broadway shows (1955-80) including The Night of the Iguana (1961) and Treemonisha (1975), with Carmen Balthrop and Willard White.

He was the director of the prestigious Actors Studio from 1988 to 1995 and continued to direct opera, particularly at the Juilliard School. David Shengold

 

Mit sehr freundlicher Genehmigung des Autors und John Allisons, Chefredakteur des britischen Opernmagazins Opera (The world´s leadings Opera magazine), wo dieser Artikel in der Januarausgabe 2018 erschien und uns überlassen wurde. Danke an beide/ Foto oben: Frank Corsaro/ youtube

Beginn einer interessanten Reihe?

 

Er war die Eröffnungspremiere der Dresdner Staatsoperette im Dezember 2016 im neuen Haus der Dresdner Staatsoperette und er könnte der Erste in einer neuen Reihe ihrer Veröffentlichungen sein: Orpheus in der Unterwelt von Jacques Offenbach, dem bereits ein zweiter Band in ähnlicher Aufmachung mit dem über Bernsteins Wonderful Town folgte. „…was Musik bewirken kann.“ ist der Titel des Buches, und es bezeichnet sich als „Eine Werkmonographie in Texten und Dokumenten“, zu der Intendant Wolfgang Schaller das Vorwort schrieb und für die Heiko Cullmann und Michael Heinemann verantwortlich sind.

Verschiedene Autoren äußern sich zu sehr unterschiedlichen Themen, mal dicht am Sujet und umfassend wie Peter Hawig, dessen Kapitel so auch mit dem Werksnamen betitelt ist, mal weit abschweifend in die Operetten- oder auch Musikliebhaber nicht besonders interessierenden Sphären wie Ulrike J. Sienknecht mit einem auf die falsche Fährte führenden „Zahme Tiere“,  eher allgemein wie Dieter David Scholz über den „Beginn eines Genres“, mal sehr speziell wie Jean-Christophe Kecks Ausführungen über ein verlorenes und wiedergefundenes Neptun-Ballett, das zeitweilig zum Stück gehörte. Die meiste Fleißarbeit dürfte in der tabellarischen Gegenüberstellung von vier Fassungen der Operette stecken, die ähnlich wie der Hoffmann oftmals bearbeitet wurde. Das Bildmaterial besteht aus historischen Aufnahmen aus dem Zweiten Kaiserreich, das ebenso parodiert wurde wie die damals jedem halbwegs Gebildeten vertrauten Mythen der alten Griechen.

Zu Beginn werden Handlung und Besetzung der beiden Fassungen von 1858 und 1874 einander gegenübergestellt. Dieter David Scholz verfolgt die Veroperung des Orpheus-Stoffes durch die Musikgeschichte, klärt den Gattungsbegriff opéra bouffon und beschreibt die schwierige Lage der Offenbach-Philologie. Er erklärt den Orpheus zum Modell der Mythentravestie (Gluck-Parodie!), schildert Offenbach als Theatergründer und charakterisiert dessen musikalische Schöpfungen. Peter Hawig vermittelt dem Leser, wie viele Orpheus-Opern und Parodien dazu es bereits vor Offenbach gab. Manchmal überschneiden sich die Inhalte der Autoren, was den Wert des Buchs nicht mindert, denn jeder von ihnen weiß interessante Aspekte aufzugreifen. So werden in diesem Artikel Operette und Offenbachiade einander gegenübergestellt und die „Zutaten“ zu Letzterer erläutert. Erfrischend ist die eindeutige Stellungnahme zur heutigen Aufführungspraxis, wenn von einem „Prokrustesbett eines flegelhaften Regietheaters“ die Rede ist.

Autor Keck ist nicht nur der Interpret, sondern offensichtlich auch der Besitzer des lange Zeit verschollen gewesenen Ballett-Aktes aus dem Reich des Neptun, gefunden in einer zweibändigen Partitur, die auf einem Dachboden lagerte. Interessant ist, dass daraus die sogenannte Spiegel-Arie stammt. Über die „moralische und ästhetische Ambivalenz“ der Offenbachschen Höllenmusik, ja der gesamten Gattung, referiert Stefan Frey, der den berühmten Galopp, mit dem es ab in das Inferno geht, als „dies irae verdrängter Begierden“ apostrophiert. Sehr interessant ist der Beitrag von Ludger Udolph über Orpheus in der Kunst der 19. Jahrhunderts, wobei Novalis mit seinen Hymnen an die Nacht und dem Roman Heinrich von Ofterdingen“eine bedeutende Rolle spielt. Äußerst erhellend ist auch die Tatsache, welche Rolle für Goethe und seine Zeitgenossen die Vokabel „orphisch“ spielte, die dem „Apollinischen“ zugeordnet wurde, dem Gegenpol zum Dionysischen. Es fehlen auch nicht Hinweise auf Vertonungen des Orpheusstoffes, sogar wenig bekannter, und auf Parodien, sogar ein pornographisches russisches Ballett.

Philosophisch, psychologisch, soziologisch und noch vieles andere einschließlich polemisch wird es mit dem Beitrag von der bereits erwähnten Ulrike J. Sienknecht, von der unter anderem der Satz „An  die Betroffenheit und wieder weg von ihr!“ im Gedächtnis bleibt. Der arglose Operettenfreund dürfte damit wenig anfangen können.

Handfester und damit besser verdaulich und erbaulich wird es wieder mit Stefan Heinemanns Beitrag über die Öffentliche Meinung, Ersatz für den Chor in antiker Dichtung, die durchaus, auch mit Hinweis auf Kachelmann und Wulff, kritisch gesehen wird, auch weil sie von den Mächtigen manipuliert werde.

Dokumente zur sogenannten Janin-Affaire, Offenbach nutzte die scharfe Kritik, um sein Werk ins Gespräch und damit zum Erfolg zu bringen, bilden vor dem Vergleich der vier Fassungen den Schluss des vielseitigen Buches, das viele interessante Themen und Sichtweisen in sich vereint (Staatsoperette Dresden 2016;  ISBN 978 3 945363 55 3). Ingrid Wanja      

Karriere-Pasticcio

 


Manchmal findet der Fan neue Einspielungen von Countern, deren Werk-Zsammenstellung unerwartet und überraschend erscheint. Dieses Kunststück schafft der Florentiner Filippo Mineccia mit seiner neuen CD Siface, L’amor castrato. Die Arien, die Mineccia singt, wurden überwiegend für den Kastraten Giovanni Francesco Grossi (1653–1697) komponiert, der unter dem Namen Siface bekannt war – einem Künstlernamen, den er früh durch seine erfolgreiche Interpretation des Siface in Cavallis Oper Scipione Africano während des Karnevals 1671 in Rom erhielt. Grossi wurde ermordet, genauer gesagt mit Vorderladern erschossen, weil er eine Affäre mit einer adligen Frau hatte, deren Brüder die Affäre nicht billigten. Kastraten waren anscheinend nicht nur die Popstars ihrer Epoche, sondern auch Liebhaber ohne Schwangerschaftsgefahr (ein Aspekt, den die holländische Autorin Margriet de Moor vor ca. 20 Jahren in ihren Roman Der Virtuose einfließen ließ). Siface sang in Rom in vielen Oratorien, war italienweit aktiv und schaffte es sogar 1687 nach London, wo er allerdings nicht öffentlich auftrat, sondern zu privaten Anlässen und am Hof sang. Dort lernte er Henry Purcell kennen, der beim Abschied des Sängers „Sefauchi’s farewell“ in d-Moll für Cembalo komponierte, das auch auf dieser Einspielung enthalten ist.

Filippo Mineccia/ Foto www.filippomineccia.com

Die CD ist ein Karriere-Pasticcio Sifaces (allerdings ist nicht jede Rolle zweifelsfrei verbürgt), das von 1671 bis 1697 reicht. Zu hören sind 15 Arien aus Opern und Oratorien von Alessandro Stradella (San Giovanni Battista und La Susanna), Carlo Pallavicino (Vespasiano), Francesco Cavalli (Scipione Africano), Pietro Simone Agostini (Il ratto delle Sabine), Carlo Ambrogio Lonati (I due germani rivali), Antonio Giannettini (Ingresso alla gioventù di Claudio Nerone), Bernardo Pasquini (I fatti di Mosè in Egitto) Giovanni Battista Bassani (Il Giona) und Alessandro Scarlatti (La Giuditta) sowie ein lieblicher Song von Henry Purcell („My song shall be alway“). Die Arien folgen noch nicht dem Dacapo-Aufbau, sind oft kurz und strophisch mit Fokus auf Ausdruck und Verzierungen sowie von Instrumentalritornellen begleitet; Mineccia hat an einzelnen Arien kleine Veränderungen vorgenommen oder Wiederholungen zugefügt, um die Dramatik zu erhöhen. Bemerkenswert gut gelungen ist die Auswahl, die spannende Musik mit eingänglichen Affekten und Emotionen präsentiert und die heutzutage etwas vernachlässigte Epoche am Ende des 17. Jahrhunderts frisch beleuchtet und belegt, daß damals einiges konzipiert und komponiert wurde, worauf die Affekt-Arien des 18. Jahrhunderts aufbauten. Es gibt bspw. ein heldisch-renitentes “Soffin pur rabbiosi” (Stradella), ein eifersüchtig gequältes “Hora si ch’assai più fiero” (Cavalli), das sehnsüchtige “Sorgi o bella da le piume” (Agostini), die kriegerischen “Tremino, crollino” (Lonati) und “Voglio guerra” (Agostini), das unglückliche “Core misero” (Bassani) und das erregte „Ma folle è ben chi crede“ (Stradella). Die längste Arie, vielleicht die schönste und bemerkenswerteste Arie, in der Zusammenstellung die späteste Arie (1697), steht am Schluss dieser schönen Zusammenstellung – Alessandro Scarlattis einfaches und dunkel-sanftes “Dormi o fulmine” aus dem Oratorium  La Giuditta bleibt im Gedächtnis.

Filippo Mineccia gelingt es, die Farbe, Flexibilität und Schönheit seiner Altstimme ideal zu präsentieren, sein weiches, aber viriles Timbre nimmt den Zuhörer ein, die Auswahl ist hörbar für ihn gemacht, ein Kaleidoskop von Liebe und Eifersucht, Leidenschaft und Zweifel. Dirigent Javier Ulises Illán und 13 Musiker des Enembles Nereydas spielen mit Schwung und Ausdruck, aufnahmetechnisch befindet man sich mitten unter den Musikern, sie sind gleichberechtigt neben der Singstimme und nicht hinter ihr positioniert – eine gute Entscheidung, bei der man akustisch unmittelbar nahe dabei zu sein meint. Fünf Ouvertüren von Stradella (San Giovanni Battista und La Susanna), Bernardo Pasquini (La Sete di Cristo), Pallavicino (Il Bassiano) und Bassani (La tromba della divina misericordia) runden zusätzlich das rundum gelungene Programm ab. (Siface L’amor castrato, Glossa, GCD 923514Marcus Budwitius