Karriere-Pasticcio

 


Manchmal findet der Fan neue Einspielungen von Countern, deren Werk-Zsammenstellung unerwartet und überraschend erscheint. Dieses Kunststück schafft der Florentiner Filippo Mineccia mit seiner neuen CD Siface, L’amor castrato. Die Arien, die Mineccia singt, wurden überwiegend für den Kastraten Giovanni Francesco Grossi (1653–1697) komponiert, der unter dem Namen Siface bekannt war – einem Künstlernamen, den er früh durch seine erfolgreiche Interpretation des Siface in Cavallis Oper Scipione Africano während des Karnevals 1671 in Rom erhielt. Grossi wurde ermordet, genauer gesagt mit Vorderladern erschossen, weil er eine Affäre mit einer adligen Frau hatte, deren Brüder die Affäre nicht billigten. Kastraten waren anscheinend nicht nur die Popstars ihrer Epoche, sondern auch Liebhaber ohne Schwangerschaftsgefahr (ein Aspekt, den die holländische Autorin Margriet de Moor vor ca. 20 Jahren in ihren Roman Der Virtuose einfließen ließ). Siface sang in Rom in vielen Oratorien, war italienweit aktiv und schaffte es sogar 1687 nach London, wo er allerdings nicht öffentlich auftrat, sondern zu privaten Anlässen und am Hof sang. Dort lernte er Henry Purcell kennen, der beim Abschied des Sängers „Sefauchi’s farewell“ in d-Moll für Cembalo komponierte, das auch auf dieser Einspielung enthalten ist.

Filippo Mineccia/ Foto www.filippomineccia.com

Die CD ist ein Karriere-Pasticcio Sifaces (allerdings ist nicht jede Rolle zweifelsfrei verbürgt), das von 1671 bis 1697 reicht. Zu hören sind 15 Arien aus Opern und Oratorien von Alessandro Stradella (San Giovanni Battista und La Susanna), Carlo Pallavicino (Vespasiano), Francesco Cavalli (Scipione Africano), Pietro Simone Agostini (Il ratto delle Sabine), Carlo Ambrogio Lonati (I due germani rivali), Antonio Giannettini (Ingresso alla gioventù di Claudio Nerone), Bernardo Pasquini (I fatti di Mosè in Egitto) Giovanni Battista Bassani (Il Giona) und Alessandro Scarlatti (La Giuditta) sowie ein lieblicher Song von Henry Purcell („My song shall be alway“). Die Arien folgen noch nicht dem Dacapo-Aufbau, sind oft kurz und strophisch mit Fokus auf Ausdruck und Verzierungen sowie von Instrumentalritornellen begleitet; Mineccia hat an einzelnen Arien kleine Veränderungen vorgenommen oder Wiederholungen zugefügt, um die Dramatik zu erhöhen. Bemerkenswert gut gelungen ist die Auswahl, die spannende Musik mit eingänglichen Affekten und Emotionen präsentiert und die heutzutage etwas vernachlässigte Epoche am Ende des 17. Jahrhunderts frisch beleuchtet und belegt, daß damals einiges konzipiert und komponiert wurde, worauf die Affekt-Arien des 18. Jahrhunderts aufbauten. Es gibt bspw. ein heldisch-renitentes “Soffin pur rabbiosi” (Stradella), ein eifersüchtig gequältes “Hora si ch’assai più fiero” (Cavalli), das sehnsüchtige “Sorgi o bella da le piume” (Agostini), die kriegerischen “Tremino, crollino” (Lonati) und “Voglio guerra” (Agostini), das unglückliche “Core misero” (Bassani) und das erregte „Ma folle è ben chi crede“ (Stradella). Die längste Arie, vielleicht die schönste und bemerkenswerteste Arie, in der Zusammenstellung die späteste Arie (1697), steht am Schluss dieser schönen Zusammenstellung – Alessandro Scarlattis einfaches und dunkel-sanftes “Dormi o fulmine” aus dem Oratorium  La Giuditta bleibt im Gedächtnis.

Filippo Mineccia gelingt es, die Farbe, Flexibilität und Schönheit seiner Altstimme ideal zu präsentieren, sein weiches, aber viriles Timbre nimmt den Zuhörer ein, die Auswahl ist hörbar für ihn gemacht, ein Kaleidoskop von Liebe und Eifersucht, Leidenschaft und Zweifel. Dirigent Javier Ulises Illán und 13 Musiker des Enembles Nereydas spielen mit Schwung und Ausdruck, aufnahmetechnisch befindet man sich mitten unter den Musikern, sie sind gleichberechtigt neben der Singstimme und nicht hinter ihr positioniert – eine gute Entscheidung, bei der man akustisch unmittelbar nahe dabei zu sein meint. Fünf Ouvertüren von Stradella (San Giovanni Battista und La Susanna), Bernardo Pasquini (La Sete di Cristo), Pallavicino (Il Bassiano) und Bassani (La tromba della divina misericordia) runden zusätzlich das rundum gelungene Programm ab. (Siface L’amor castrato, Glossa, GCD 923514Marcus Budwitius