In unserer politisch überkorrekten Zeit scheint es fast, als ob die deutsche Musik vor dem Kriegsende nur aus einer Hand voll Vertriebener und Getöteter, eben „Entarteter“ (wie sie die Nazis bezeichneten), bestand, die heute im Konzert und selten auf der Bühne ab und zu hervorgeholt werden, um politisch opportun eben diese als repräsentative Vertreter einer ganzen Epoche der Verfolgung zu ehren. Andere, wie Orff oder Egk, gehen gerade mal so durch, weil sie auch im Nachkriegs-Deutschland eine Rolle gespielt haben und damit arriviert/weißgewaschen sind. Aber was ist mit den gut gelittenen, „gearteten“ Komponisten der Vorkriegs-Zeit? Die werden nun ihrerseits geächtet, weil sich mit ihnen auch die immer noch problematische Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ verbindet. Gerade mal drei, vier wie Wagner-Régeny oder von Schillings kennt man noch. Aber die anderen? Wer erinnert noch Paul Graener? Ist es nach rund 70 Jahren nicht an der Zeit, sich auch mit diesen heute „Unbekannten“ zu beschäftigen?
Knut Andreas: Graener-Forscher, Dirigent, Autor und Musikwissenschafter/collegium musicum
Knut Andreas, der renommierte Dirigent (u. a. des Sinfonieorchesters Collegium musicum Potsdam), Musikwissenschaftler und Autor vieler Texte namentlich zu Paul Graener (so auch in seinen Artikeln zu Neueinspielungen von Paul Graeners Musik bei cpo) schreibt für operalounge.de über die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Opern Paul Graeners. G. H. Fast in Vergessenheit geraten ist das Leben und Schaffen des Komponisten Paul Graener (1872 – 1944), dessen Todestag sich im November dieses Jahres zum siebzigsten Mal jährt. Nachdem Graener nach 1950 nicht nur aus dem Konzertleben, sondern auch aus Musik-Lexika verschwand, ist erst mit Beginn der 1990er Jahre eine peu à peu einsetzende musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Wirken und eine damit einhergehende Belebung seiner Werke – seit 2010 mit regelmäßigen CD-Einspielungen von Kammermusik und Orchesterwerken – zu verzeichnen. Langsam kehrt der Komponist in das Bewusstsein der Musikwelt zurück. Davon zeugen neben Veröffentlichungen und Einspielungen auch Konzertaufführungen u. a. des Philharmonischen Orchesters Gera-Altenburg, des Sinfonieorchesters Collegium musicum Potsdam und jüngst der Düsseldorfer Symphoniker. Doch wer war dieser zu Lebzeiten so hochgeschätzte Komponist, der als Musikpädagoge und Musikpolitiker bedeutende Ämter bekleidete und dessen Werke zwischen 1920 und 1940 zu den meist aufgeführten seiner Zeit gehörten?
Der junge Paul Graener/OBA
Biografisches: Paul Graener wurde am 11. Januar 1872 in Berlin geboren und wuchs nach dem frühen Tode seiner Eltern bei nahen Verwandten auf. In seiner Geburtsstadt Berlin besuchte er das Askanische Gymnasium sowie das Veitsche Konservatorium, ohne jedoch die Ausbildung an diesen Einrichtungen regulär abzuschließen. Graeners früher Wunsch, als Kapellmeister an ein Theater zu gehen, führte ihn in verschiedene deutsche Städte, so auch nach Bremerhaven, wo er einige Monate als Theaterkapellmeister wirkte und sein erstes Bühnenwerk, die Operette Backfische auf Reisen, uraufführte. Eine erste langjährige Anstellung erhielt Graener 1898 als Musical Director am legendären Londoner Royal Theatre Haymarket. Nachdem Graener mehr als zehn Jahre in London gelebt hatte, wo er seine Frau Marie heiratete, ihre drei gemeinsamen Kinder zur Welt kamen und er 1909 die britische Staatsbürgerschaft erhielt, ging er nach Wien, um dort eine Anstellung als Kompositionslehrer am Neuen Wiener Konservatorium anzunehmen. Die Wiener Zeit war allerdings nur von kurzer Dauer. Bereits im Sommer 1911 wurde Graener zum Direktor des Salzburger Mozarteums berufen. Hier leitete er nicht nur die Musikschule, sondern auch die Sinfoniekonzerte des Mozarteumsorchesters. In einem dieser Konzerte brachte er seine Sinfonie d-Moll Schmied Schmerz zur Uraufführung. Es ist Graeners Wirken zu verdanken, dass die damalige Musikschule Mozarteum kurz nach seinem Weggang zum Konservatorium erhoben wurde.
Paul Graener in Erfurt/OBA
Ab 1914 lebte Graener in Dresden und München und ging als freischaffender Künstler vor allem seiner kompositorischen Arbeit nach, bis er 1920 als Nachfolger Max Regers an das Leipziger Konservatorium berufen wurde. Graeners Wirken in Leipzig war von ebenso kurzer Dauer wie seine Tätigkeit am Salzburger Mozarteum. 1924 verließ er die geschichtsträchtige Leipziger Einrichtung und widmete sich, wieder in München lebend, in den folgenden sechs Jahren seinem kompositorischen Schaffen. 1930 nahm Graener erneut eine feste Anstellung an, die ihn zurück in seine Geburtsstadt Berlin führte. Graener folgte dem verstorbenen Alexander von Fielitz auf die Stelle des Direktors des Stern’schen Konservatoriums. Bereits 1933 gab er diese Position an seinen Stellvertreter ab und übernahm eine Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste Berlin.
Paul Graener, vom Alter gezeichnet/OBA
Zu Beginn der 1930er Jahre wurde Graener Mitglied der NSDAP, engagierte sich in verschiedenen nationalsozialistischen Organisationen, wurde 1934 als Nachfolger Wilhelm Furtwänglers zum Leiter der Fachschaft Komposition innerhalb der Reichsmusikkammer und nach dem Rückzug Richard Strauss’ zum Vizepräsidenten dieses Organs ernannt. Das Amt des Vizepräsidenten legte Graener 1941 nieder. Ihm folgte der Komponist Werner Egk. Die Fachschaft Komposition leitete Graener bereits seit 1937 nicht mehr. 1940 wurde ihm zudem die Leitung seiner Meisterklasse Komposition an der Preußischen Akademie der Künste entzogen. Grund hierfür war sein teilweise nachweisliches Engagement für befreundete jüdische Komponisten und Verleger (Kurt Eulenburg, Wilhelm Zimmermann) sowie die Tatsache, dass Graener seine „arische“ Abstammung gegenüber der Akademie nicht nachweisen konnte. Indes erfuhren die Machthaber des NS-Regimes nie von dem Kuriosum, dass Graener als britischer Staatsbürger nationalsozialistische Ämter bekleidete. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs verbrachte Graener in Berlin, bis seine Wohnung durch Bombenangriffe 1944 zerstört wurde. Mit seiner Familie flüchtete der Komponist über Wiesbaden und München zunächst nach Metz, um dann über Wien nach Salzburg zu gelangen, wo er im Alter von 72 Jahren am 13. November 1944 verstarb.
Paul Graener dirigierend/Andreas
Graeners Schaffen umfasst über 130 Lieder, von denen die Vertonungen zahlreicher Gedichte Christian Morgensterns hervorzuheben sind. Zehn Opern (eine blieb unvollendet), eine Operette, zwei Singspiele, Orchesterwerke, Kompositionen für Soloinstrumente mit und ohne Begleitung, Kammer- und Klaviermusik sowie Werke für gemischten Chor und Männerchor stammen aus seiner Feder. Verlage wie Eulenburg, Universal-Edition Wien, Bote&Bock, Zimmermann, Schott, Kistner & Siegel, Simrock und Litolff publizierten seine Kompositionen. Namhafte Dirigenten und Solisten interpretierten seine Werke, unter ihnen Arturo Toscanini, Erich Kleiber, Eugen Jochum, Wilhelm Furtwängler, Arthur Nikisch, Paul Grümmer, Franz Ledwinka, Fritz Rothschild und Walter Davisson. Graeners Werke standen ebenso wie Kompositionen seiner Zeitgenossen Hans Pfitzner, Werner Egk oder Carl Orff regelmäßig auf den Spielplänen der Konzert- und Opernhäuser in Deutschland sowie im Ausland. Insbesondere Erich Kleiber und Arturo Toscanini führten Graeners Werke bis in die 1940er Jahre immer wieder u. a. mit dem NBC Symphony Orchestra auf.
Die Musik Graeners ist tief in der Spätromantik verwurzelt, öffnet sich jedoch vielfältigen Einflüssen. Die von der NDR Radiophilharmonie bereits eingespielten Werke Musik am Abend (cpo 777 447-2) und Aus dem Reiche des Pan (cpo 777 679-2) sind impressionistisch geprägt. Feingliedrige, sich oft zum Leisen hinwendende Kompositionen zeugen ebenso von einer ideologiefreien Tonsprache wie Graeners Variationen über ein russisches Volkslied, die ebenso von der Radiophilharmonie eingespielt worden sind (cpo 777 447-2). Vor allem mit seinen am Impressionismus orientierten Werken nimmt Graener unter den deutschen Komponisten in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine besondere Stellung ein. Sein Leben, insbesondere mit Blick auf die NS-Zeit, ist ebenso kritisch wie differenziert zu betrachten.
„Hanneles Himmelfahrt“ nach Hauptmann, Szene der Uraufführung in Leipzig/OBA
Zwei Opernversuche in London: Als Komponist reifte Graener in London heran. Hier war er über Jahre mit dem täglichen Theaterleben am Haymarket Theatre verbunden, leitete die Bühnenmusik und komponierte vor allem Zwischenaktmusiken für die Theateraufführungen. Später unterrichtete er Harmonielehre und Komposition an der London Academy of Music. Zwischen 1896 und 1899 schrieb Graener seine erste Oper The Faithful Sentry (op. 1), deren Libretto eine englische Fassung von Theodor Körners Der vierjährige Posten ist, die der in Deutschland geborene Samuel Gordon, der ab 1894 das Amt des Sekretärs der Großen Londoner Synagoge innehatte, für Graener anfertigte. Vor Graener zogen bereits 18 verschiedene Komponisten dieses Libretto heran, begonnen mit Carl Steinacker, dessen Oper Der vierjährige Posten am 19. August 1813 im Theater an der Wien Premiere feierte. Graener richtete sich bei der Vertonung des Librettos ebenso wie Steinacker nach Körners Intention und unterbrach die Musik nicht durch gesprochene Abschnitte. Graener verwendete nahezu keine Rezitative, einzig zu Beginn der dritten Szene und am Ende der vierten Szene sind kurze rezitativische Abschnitte zu finden. Er übernahm Körners Libretto fast vollständig und unterzog das Textbuch nur geringfügigen Änderungen. Die Anordnung und Abfolge der Szenen der Oper entspricht exakt dem Libretto. Die Musik hat stark unterhaltenden Charakter, trägt dem Libretto gemäß häufig Marschcharakter und folgt in ihrem Bau klassischen Formen (Rondo, Lied). Mit ihrem leichten Charakter und einer Widmung an den damaligen Direktor des Haymarket Theatre, Cyril Maude, verband Graener vermutlich die Hoffnung, seine erste Oper an diesem Theater zur Uraufführung zu bringen. Ob ihm dies gelang, ist nicht bekannt. Belegt sind einzig Aufführungen der Ouvertüre im Rahmen eines Theaterstücks im Jahre 1899 am Haymarket Theatre.
Paul Graener: Skizze zu „Schwanhild“, Privatbesitz/OBA
Warum zog Graener nun gerade Körners Vierjährigen Posten als Libretto für seine erste Oper heran? Zwei mögliche Motive können für die Wahl benannt werden: Zum einen dürfte der politische Gehalt des Sujets Graener bewogen haben, diese Textvorlage zu wählen, zum anderen könnte „die vaterländische Gesinnung Körners, die seinen Nachruhm begründete“ (Till Gerrit Waidelich (2000): Der vierjährige Posten von Theodor Körner als Libretto „in der Art eines Finales“ für 21 Opern, in: Schubert-Jahrbuch 1998. Bericht über den Internationalen Schubert-Kongreß Duisburg 1997, S.63) auf Graener anziehend gewirkt haben. Zunächst sei dem ersten möglichen Motiv nachgegangen: Die Hauptfigur, der Soldat Düval, desertiert und bleibt auf feindlichem Gebiet zurück. Aus Liebe zu Käthchen verlässt er sein Regiment, tauscht das Schwert gegen den Pflug ein und entscheidet sich für das Leben auf dem Hof des Dorfrichters, für ein Leben in Frieden. Auch Graener suchte – Aussagen seines dritten unehelichen Sohnes Paul Corazolla folgend – in einem anderen Land Zuflucht, um dem Dienst an der Waffe zu entgehen. So dürfte sein Interesse für Körners Libretto, dessen pazifistische Grundhaltung unverkennbar ist, aus dem eigenen Verhalten herrühren. Graener, der „das Stück als subversive Parabel eines gegen die Vereinnahmung des Bürgers durch den Staat oder das Militär opponierenden Helden“ gelesen haben könnte – eben so, „wie es von Körner wohl ursprünglich gemeint war“ (ebd., S. 62), muss sich in diesem Text wieder gefunden haben. Er entschied sich, wie es auch Düval nach seiner Fahnenflucht tat, für die Ehe und gründete in seiner neuen Heimat, womöglich als deutscher Deserteur, eine Familie. Führt man sich nun Graeners Ersuchen um die britische Staatsbürgerschaft vor Augen, entsteht der Eindruck einer vollständigen Abkehr von seinem Heimatland.
Die alte Leipziger Oper, das Neue Theater(OBA
Das zweite mögliche Motiv kontrastiert mit dem ersten, ja es geht von einem der ersten These entgegengesetzten Grundgedanken aus. Die Annahme, dass Graener Körners patriotische Gesinnung teilte, scheint in Anbetracht seiner Abkehr vom Vaterland zunächst abwegig zu sein. Dennoch wählte er mit Körner einen Dichter, der zu den zentralen Figuren der vaterländischen Dichtung gehörte und dessen Nationalbewusstsein sich nicht nur in den im Zusammenhang mit den Befreiungskriegen entstandenen Kriegsliedern Lützows wilde Jagd, Du Schwert an meiner Linken, Gebet während der Schlacht und Frisch auf, mein Volk, die Flammenzeichen rauchen, sondern auch im eigenen Verhalten spiegelt: Körner, der im Januar 1813 in Wien die Stelle des Hoftheaterdichters erhielt, zog schon einen Monat darauf als Freiwilliger in den Krieg und besiegelte 22-jährig seine vaterländische Begeisterung mit dem Tod. Noch während der Londoner Jahre zog Graener einen weiteren Text heran, der auf eine „deutschnationale“ Grundhaltung hindeutet: Er komponierte nach der Lektüre des antijüdischen Romans Der Hungerpastor von Wilhelm Raabe seine Kammermusikdichtung Nr. 2 (op. 20), die den Beinamen Hungerpastor-Trio trägt. Im Vierjährigen Posten ist es die zu den politischen Grundanschauungen des wilhelminischen Deutschland gehörende antifranzösische Einstellung, die Körners „deutschnationale“ Gesinnung zum Ausdruck bringt. Wenngleich sich beide möglichen Motive für Graeners Textwahl auszuschließen scheinen, verbildlichen sie dennoch in ihrem Kontrast eine Ambivalenz, die das Verhalten des Komponisten in späteren Lebensstadien, besonders in den Jahren nach 1930, bestimmen sollte.
Paul Graener: Libretto zu „Don Juans letztes Abenteuer“/OBA
Um 1906, noch immer in London lebend, wandte sich Graener der Komposition einer zweiten Oper zu, von der jedoch nur noch das von ihm selbst verfasste Textmanuskript mit dem Titel Sieg erhalten ist. Dieses Werk klassifiziert Graeners Cousin Georg Gräner als Übergangswerk zwischen den auf einen hohen Unterhaltungswert bedachten Stücken der Schaffensphase zwischen 1896 und 1906 und den Kompositionen, vor allem Instrumentalmusik, die zwischen 1906 und 1912 entstanden sind. Einen bemerkenswerten Einblick in die Oper Sieg und gleichzeitig in Graeners kompositorische Entwicklung gibt Georg Gräner, der zeitgleich zu seinem Cousin in London lebte: „War es künstlerisch ein Sieg? Nicht ganz. Es war ein Uebergangswerk […] Das aus den Anschauungen seiner Wanderzeit Stammende, jenes Alte, das Lortzing’sche; kleinbürgerlicher Humor, Volksweisen, Populäres, dann dramatisch-pathetische Breiten nahezu im Style Wagners, über’s Alltägliche erhobene Liebeslyrik, Instrumentationstellen in R. Strauß’scher Manier, klassisch angelegte, kräftig durchgeführte Chorsätze – alles dies und mehr lebte neben einander ohne stark zusammen fassende, einheitlich bildende Kunst. Dennoch bildete das stylbunte Werk einen Fortschritt in zweierlei Hinsicht; in erster wegen der Aufnahme vieler neuer, moderner Elemente, in anderer Hinsicht wegen der Ueberwindung, der endgiltigen Ueberwindung des Alten […] Die Oper gehört zu jenen Entwicklungs- und Wendepunkten, die dem Schöpfer, dem Gebenden naturgemäß wertvoller sind als dem Empfangenden. Unbedeutend, geschweige denn tot geboren war sie keineswegs, sonst hätte sich nicht ein Mann wie Otto Lohse dafür interessiert, der sich (freilich vergebens) um ihre Aufführung bemühte. Sie sollte nie ‚das Licht der Oeffentlichkeit’ erblicken.“ (Georg Gräner (1922): Paul Graener, S. 18f.)
Die Wiener Volksoper/OBA
Drei Opernpremieren – Wien, Leipzig, München: 1909 verließ Graener mit seiner Familie London. Zurück blieb das Grab seines ältesten Sohnes Heinz, der im Alter von acht Jahren in London verstarb. Graener ging zunächst für kurze Zeit nach Wien, wo er die Bekanntschaft Emil Hertzkas, Direktor der Wiener Universal Edition, machte. In enger Zusammenarbeit mit der Universal Edition und teilweise auf Anregung dieses Verlags entstanden in enger Folge die Bühnenwerke Das Narrengericht (op. 38), Don Juans letztes Abenteuer (op. 42) und Theophano (op. 48), deren Libretti aus der Feder von Otto Anthes stammen. Graener lernte Anthes im Sommer 1910 kennen, als er auf einer Reise von Wien nach London in Hamburg Halt machte, wo Anthes lebte. Den Kontakt zwischen dem Librettisten und dem Komponisten ebnete Emil Hertzka. Für das Jahr 1912 plante Graener die Uraufführung seiner Singkomödie Das Narrengericht an der Wiener Volksoper. Zu dieser Zeit war er bereits in Salzburg als Direktor des Mozarteums tätig. Aufgrund von Bauarbeiten am Opernhaus sowie Besetzungsschwierigkeiten verschob sich die Premiere bis zum Frühjahr 1913. Sonderlich erfolgreich war sie schließlich nicht. Positiver als in Wien wurde das Werk bei der Erstaufführung am Stadttheater Halle aufgenommen. Die Neue Zeitschrift für Musik rezensierte: „Die Musik strebt mit vielem Glück nach Eigenart und Selbständigkeit des Stiles. Der Komponist ist zu einer Ausdrucksweise gekommen, die sich natürlich und geschmeidig jeder Situation anzupassen weiß, die frei von dem unleidlichen Hang zur Schwere bleibt und die Übergänge unmerklich fein ineinanderfließen läßt. […] Daß Graener so stark auf die Wirkung und Kraft der Melodie baut, das wird seinem Werke vielleicht in erster Linie die Lebensfähigkeit erhalten helfen. In der musikalischen Charakteristik der Personen erscheint die Figur des Narren am glücklichsten getroffen. Ein leises Abfärben von Strauß’ ‚Till Eulenspiegel’ ist da allerdings nicht von der Hand zu weisen. (Neue Zeitschrift für Musik, 83. Jg., 1916, S. 76)
Paul Graener: Der Librettist Otto Anthes, Zeichnung von Emil Stumph/OBA
Der Inhalt der Dichtung von Otto Anthes nähert sich Graeners vorangegangenen Bühnenwerken an. Die Handlung spielt in einem Dorfgasthof. Gerade werden die Vorbereitungen für Hochzeitsfeierlichkeiten getroffen. Lisa, die Tochter des Wirts, wird den eifersüchtigen Dorfschmied Danni zum Mann nehmen. Unerwarteterweise gesellen sich auch ein Narr und zwei Kavaliere zu den Hochzeitsgästen und es dauert nicht lange, bis es zu Handgreiflichkeiten kommt, nachdem einer der Kavaliere Lisa während eines Tanzes zu nahe kam. Um einer Eskalation entgegenzuwirken, schlägt der Narr vor, ein Narrengericht abzuhalten, bei dem nach einem alten Schweizer Brauch das junge Paar so lange in eine Kammer zu sperren ist, bis es durch ein Glockenzeichen seine Versöhnung bekannt gibt. Ertönt das Signal nicht, ist das Paar getrennt. Der Vorschlag des Narren wird angenommen und natürlich kommt es nach einigen Auseinandersetzungen zur gütlichen Einigung.
Paul Graener: „Theophano“, Klavierauszug/OBA
Auch wenn Graener versuchte, manche Schwäche des Librettos durch Korrekturen zu beseitigen, krankte dieses Bühnenwerk, ebenso wie die beiden folgenden, an seiner textlichen Grundlage. Kurz nachdem Graener die Singkomödie Das Narrengericht (op. 38) fertiggestellt und die Wiener Volksoper im März 1912 mit den Proben begonnen hatte, schrieb er seinem Verleger, dass er mit den Arbeiten an seiner nächsten Oper Don Juans letztes Abenteuer (op. 42) begonnen habe. Ende September 1913 schloss Graener die Instrumentierung des letzten Aktes ab und war bereits mit der Suche nach einer geeigneten Bühne für die Uraufführung beschäftigt. Zunächst schien eine Premiere an der Wiener Volksoper aussichtsreich, doch war Graener, dessen Werke in den vergangenen Jahren hauptsächlich in London, Wien und Salzburg erklangen waren, daran gelegen, seine neuste Oper in Deutschland herauszubringen. Im September 1913 reiste er nach Leipzig, um den Dirigenten Otto Lohse zu treffen. Lohse war seit 1912 Operndirektor des Städtischen Theaters Leipzig. Seinen gefeierten Einstand gab er am 1. August 1912 mit Ludwig van Beethovens Fidelio und bereits in seiner ersten Saison nahm er Franz Schrekers Der ferne Klang sowie Hans Pfitzners Die Rose vom Liebesgarten in das Opernprogramm auf. Mit einem Wagner-Zyklus, der auch die Leipziger Erstaufführung des Parsifal am 22. März 1914 einschloss, sorgte Lohse in der Saison 1913/1914 für großes Aufsehen. Graeners Oper Don Juans letztes Abenteuer gefiel ihm so sehr, dass er sie noch in dieser Spielzeit herausbringen wollte. Inzwischen zeigte auch der Intendant des Münchner Hoftheaters, Clemens von Franckenstein, Interesse an Graeners neuestem Bühnenwerk. Franckenstein, der am 30. September 1912 zum Intendanten des Münchner Hoftheaters ernannt worden war, konnte auf beträchtliche Erfahrungen als Operndirigent und Bühnenkomponist zurückblicken. „Am Anfang des Jahrhunderts bahnten sich die Karrieren Franckensteins und Graeners auf etwa parallelen Gleisen an. Die beiden hatten als Kapellmeister in englischen kommerziellen Theaterbetrieben gearbeitet […].“ (Andrew D. McCredie (1992): Clemens von Franckenstein, S. 34). Franckenstein ging im Herbst 1902 nach London, nachdem er ein Jahr zuvor als Dirigent, Klavierbegleiter, Komponist und Pädagoge in den USA tätig war. In London arbeitete er bis 1906 als Theaterkapellmeister bei der Moody Manners Opera Company, damals Englands größtem Opernunternehmen. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Graener und Franckenstein bereits in London begegneten. Gleichzeitig mit dem neuen Intendanten erhielt das Münchner Hoftheater im Jahre 1912 in Bruno Walter einen neuen Generalmusikdirektor, der sich ebenso wie Franckenstein um die Förderung zeitgenössischer Komponisten wie Hans Pfitzner, Paul von Klenau, Julius Bittner, Ermanno Wolf-Ferrari, Franz Schreker, Erich Wolfgang Korngold und Felix von Weingartner bemühte.
Paul Graener: Klavierauszug zu Clemens von Franckensteins eigener Oper „Rahab“/OBA
1915 setzte Franckenstein zwei Erstaufführungen auf den Spielplan des Hoftheaters: Im Frühjahr dirigierte Bruno Walter Franckensteins Oper Rahab und im Herbst leitete Kapellmeister Otto Hess Graeners Don Juan. Auch wenn Franckenstein die Uraufführung, die am 11. Juni 1914 im Städtischen Theater Leipzig stattfand, nicht an sein Haus ziehen konnte, führte er Graener zumindest als Bühnenkomponisten in München ein. Dort gelangte die Oper zwischen 1915 und 1925 zu 31 Aufführungen, von denen einige auch unter der Leitung Bruno Walters beziehungsweise Paul Graeners standen. Die Leipziger Uraufführung wurde über die Grenzen Deutschlands hinweg wahrgenommen. In Wien berichtete Die Zeit am 12. Juni 1914: „[…] die Aufführung seiner neuen dreiaktigen Oper ‚Don Juans letztes Abenteuer’ ist der erste nachdrückliche Versuch, ihm in Deutschland Gehör zu verschaffen. Wie in seiner in der Wiener Volksoper zur Uraufführung gekommenen Singkomödie ‚Das Narrengericht’ hat Gräner sich wieder mit Otto Anthes verbündet und dessen in Leipzig und Wien aufgeführtes Drama nach wesentlicher Bearbeitung unter gleichem Titel zum Libretto genommen. Ein eigenartig vertiefter tragischer Stoff, die ganze Glut und Farbenpracht lebensfroher, ja überschäumender Renaissancekultur, berauschend in der Gewagtheit ihrer Liebesabenteuer, groß aber dann auch im bitteren Leiden. So steht Don Giovanni bei Anthes, so auch Cornelia eine Art Renaissance-Salome; so stehen sie erfreulicherweise auch bei Gräner in der musikalischen Gestaltung da. Mit ganz wenig Ausnahmen ist die Oper durchkomponiert und reiht sich der Gattung Musikdrama an, wie sie Richard Strauß in ‚Salome’ und ‚Elektra’ geschaffen hat. Im Stil diesen ähnlich, ist es vielleicht nicht weiter verwunderlich, daß Gräner ihnen auch im musikalischen Rhythmus gerade an seinen bedeutendsten Stellen nahe steht und für das Gefühlsmäßige, Stimmungsmalende ganz ähnliche, aber durchaus selbständige Ausdrucksformeln gefunden und verwendet hat wie Richard Strauß. Wenn er sein Werk Oper nennt, tut er es wohl mit Absicht deshalb, weil er versucht hat, den Anschluß an das mehr Gesangliche der Oper wieder zu finden. Und es ist ihm gelungen. Als Musik an sich steht diese Oper außerordentlich hoch, im Technischen wie im reinen Wertgehalt an musikalischer Erfindung und Eigenart: sie ist der Ausdruck großen, vielversprechenden Könnens, unter Betonung der musikdramatischen Potenz.“ (Die Zeit, Wien, 12.6.1914)
Das Haymarket Theatre in London/OBA/Wiki
Für sein drittes Bühnenwerk wählte Graener einen bewährten Opernstoff, dessen Handlung aber nur im ersten Akt an den komödiantisch-unterhaltenden Charakter seiner beiden vorangegangenen Opern erinnert, wenn das Geschehen mit dem Eintreffen der Gäste zu einem prachtvollen Fest im venezianischen Palazzo Spinelli einsetzt. Die Ankündigung des Titels der Oper erfüllt sich indes im wahrsten Sinne des Wortes. Bei Graener und Anthes ist Giovanni reif und einsichtig geworden. Er entscheidet sich für den Freitod, der Resultat seiner Erkenntnis, ein frevelhaftes Leben geführt zu haben, ist. Der Versuch, eine kurz vor der Hochzeit stehende Frau zu verführen, muss von vornherein scheitern. Dessen ist sich Giovanni, der seinen Tod weit vorausplant, bereits im ersten Akt bewusst, als er vergebens beabsichtigte, seine jungen Freunde zu einem moralischeren Lebenswandel zu bewegen. Mit einem festlichen Gepränge in einer Freudenwelt südlichen Glanzes mit schönen Lebefrauen und stürmischen Lebemännern beginnend, läuft die Oper ihrem tragischen Ende entgegen. Giovannis Freitod verdeutlicht dessen Resignation, für die jungen Burschen ist er Warnung und Lehre zugleich und nach außen erscheint er als „Triumph des menschlichen Strebens nach Höherem, der fast alle Bühnenwerke Graeners bestimmt.“ (Fred Büttner (2005): Paul Graener, in: Bayerisches Musiker-Lexikon Online (www.bmlo.lmu.de), Hrg. Josef Focht, S.11)
Paul Graener: „Das Mondschaf“/OBA
Die Leipziger Uraufführung des Don Juan, der sich in kurzer Folge Erstaufführungen in Coburg, Weimar (unter Karl Böhm), Braunschweig und Prag anschlossen, stellte für Graener einen ersten großen Opernerfolg an einem deutschen Haus da, dem äußerst positiv aufgenommene Aufführungen seiner Symphonie d-Moll sowie seiner Symphonietta für Streichinstrumente und Harfe in verschiedenen deutschen Städten folgten. Aus heutiger Sicht mag eine Wiederaufführung der Oper Don Juans letztes Abenteuer hinsichtlich des zeitlosen Librettos und der mit impressionistischen Klangfarben spielenden Musik im Vergleich aller Opern Graeners besonders lohnenswert zu sein.
Paul Graener: „Die Flöte von Sanssouci“, hier bei Ultraphon in einer spanischen Pressung/OBA
Zwischen 1916 und 1917 begann Graener mit der Arbeit an der dritten von der Universal Edition beauftragten Oper, der er später den Titel Theophano gab. Am 14. Januar 1918 beendete er die Arbeit an diesem Werk, das noch im selben Jahr bei der UE erschien. Die Städte Dresden und München waren an der Uraufführung interessiert. Obwohl anfängliche Schwierigkeiten mit der Münchner Intendanz Graener dazu bewogen, sich für Dresden zu entscheiden, wurde die Oper dank des Engagements Clemens von Franckensteins doch am Münchner Hoftheater uraufgeführt. Die Premiere fand am 5. Juni 1918 statt und fand in der Presse ein geteiltes Echo. Während aus Dresden positive Töne zu hören waren, nicht zuletzt mit Blick auf die dortige Erstaufführung im Herbst desselben Jahres, war das Echo der Münchner Presse, wie Paul Graeners Ehefrau an Emil Hertzka berichtete, durchwegs schlecht. Die Münchner Neuesten Nachrichten rezensierten: „Wenn das Buch nicht zu hoher Kunst gediehen ist, so hat auch Paul Graeners Musik nicht den höchsten Flug nehmen können. Eigentlich hat es mich gewundert, daß sich Graener an diesem Buche hat entzünden können; denn es ist im Grunde amusikalisch und drängt nach der Art seines Problems nur nach der Gestaltung in begrifflichem Worte, nicht in empfindungkündender Musik – oder aber, wer es in Töne umzugießen versuchte, müßte ein Riese an Erfindung und Formkraft sein. Das ist nun Graener nicht; er ist ein feiner, sensibler Musiker, der mit gebrochenen Farben weich zu malen weiß, der Stimmungen zu bannen und schwüle Leidenschaften in Klänge umzudeuten vermag; doch zum großen Gestalter fehlt ihm die übermenschliche geistige Statur des Genies. Im übrigen hat man keinen Anlaß, an seiner Partitur viel herumzunörgeln, obgleich sie nicht von einer Steigerung gegenüber Don Juans letztem Abenteuer oder überhaupt von starker Ursprünglichkeit kündet; der Hauptwert der Musik liegt im Klangkoloristischen: die Farben sind es, womit sie den Hörer am meisten fesselt.“ (Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 71, Nr. 282, 7.6.1918, S. 2) Die Dresdner Nachrichten hingegen berichteten: „Das Schaffen Paul Graeners ist in den letzten anderthalb Jahren auch in Dresden mit besonderer Teilnahme verfolgt worden. Man hat den modernen Don-Juan-Komponisten dabei schätzen gelernt als das, was er ist: als eigenartiges, starkes Talent, als einer, der aus der Umgebung Richard Strauß mit aufrechter Persönlichkeit hervorragt. So gewinnt die Uraufführung einer neuen Oper von ihm allgemein interessierenden Charakter.“ (Dresdner Nachrichten, Jg. 62, Nr. 156, 7.6.1918, S. 3)
Gustaf Gründgens spielte die Hauptrolle in dem Film „Friedemann Bach“ 1941, allerdings nicht mit der Musik von Graener, sondern von Mark Lothar/OBA
Friedemann Bach: Kaum lag die Premiere seiner neuesten Oper hinter ihm, nahm sich Graener der Arbeit an der nächsten Oper an. Bereits im Dezember 1917 hatte er einen Vertrag für die heitere Oper Schirin und Gertraude (op. 51) unterzeichnet, diesmal aber nicht mit der Wiener Universal Edition, sondern mit dem Berliner Verlag Eos und dem Schriftsteller Ernst Hardt. Die Initiative für diese Oper ergriff Graener selbst, nachdem er schon 1916 Hardts gleichnamiges Schauspiel kennengelernt hatte. Im August 1918 hatte Graener bereits die Skizzen des ersten und zweiten Aktes fertiggestellt und mit der Instrumentierung des ersten Aktes begonnen. Die Fertigstellung der Oper zog sich indes noch bis in den Herbst des folgenden Jahres. Graener, der zu dieser Zeit zwischen München und Dresden pendelte, jedoch ohne Anstellung und damit ohne regelmäßiges Einkommen war, versuchte zunächst in Dresden beruflich sesshaft zu werden. Die Berufung auf die Professur für Komposition am Leipziger Konservatorium, die seit Max Regers Tod unbesetzt war, führte Graener 1920 schließlich nach Leipzig. Am 17. April desselben Jahres feierte Schirin und Gertraude an der Sächsischen Landesoper in Dresden Premiere. Der Erfolg war groß, Rezensionen voll des Lobes und die Annahme der Oper an den Bühnen in Weimar und Leipzig folgten.
Graeners berühmteste Oper, „Friedemann Bach“ nach dem Roman von Brachvogel
In den folgenden Jahren widmete sich Graener vor allem der Kammermusik und der Komposition von Orchesterwerken. Erst mit Weggang aus Leipzig im Frühjahr 1925 griff er zu einem neuen Libretto, das sein Cousin Georg Gräner auf der Grundlade von Gerhart Hauptmanns Dichtung Hanneles Himmelfahrt anfertigte. Erneut war es die Dresdner Staatsoper, die Graeners Oper Hanneles Himmelfahrt (o. op.) zur Uraufführung annahm. Diese fand am 17. Februar 1927 statt, gefolgt von Erstaufführungen in Berlin, Weimar, München und Braunschweig.
Zwei Jahre später – Graener befand sich inmitten der Umzugsvorbereitungen in seine Geburtsstadt Berlin – entstanden mit der Suite Die Flöte und Sanssouci (op. 88) und der Oper Friedemann Bach (op. 90) zwei Werke, die sich inhaltlich wie auch musikalisch dem 18. Jahrhundert zuwenden. Beide Werke bilden den Beginn der neoklassizistischen Kompositionsphase Graeners, die sich über die 1930er Jahre erstreckte. Einen Eindruck der Musik der 1931 in Schwerin uraufgeführten Oper Friedemann Bach vermitteln ein Artikel aus den Blättern des Hamburger Stadttheaters des Jahrgangs 1931/32: „Wie eine Überschrift in großen goldenen Lettern steht über dieser Musik das Motiv B-A-C-H, das stets, wenn der große Name ausgesprochen wird, in rhythmisch und harmonisch immer wieder neuem Gewande erscheint, bis der letzte Akt in ihm schmerzlich ausklingt. Eine weitere musikalische Bindung mit dem Geist der Zeit und der besonderen Atmosphäre stellen die beiden Liedmelodien ‚Kein Hälmlein wächst auf Erden’ und ‚Willst Du Dein Herz mir schenken’ dar, die an entscheidenden Stellen in die Handlung eingewoben sind. Ihrer Eingliederung im musikalischen Formganzen des Werkes kommt nun dessen stilistische Haltung durchaus entgegen: Wir finden hier eine Fülle größerer und kleinerer Formen, die mehr oder weniger getreu aus dem Barock übernommen sind, so die prachtvolle Ballettmusik, die in der Anlage einer Bachschen Orchestersuite nachgebildet erscheint, so das Präludium zum dritten Akt mit dem ostinaten B-A-C-H-Baß, so alle die kleinen Fugati und alten Tanzformen, die das Leben im Organistenhaus anschaulich darstellen.
Aber alle diese Formen sind doch, oft sogar sehr stark, mit modernem, oder besser spezifisch Graenerschem Geiste erfüllt, und so wird die eigentliche Absicht des Komponisten, zur Kennzeichnung der gegensätzlichen Kulturkreise, der bürgerlichen und der höfischen Welt, auch zwei Musikstile gegeneinanderzustellen, nur einem sehr feinen Ohr offenbar – und das ist auch gut so, denn eine schärfere Differenzierung hätte doch nur auf eine getreuere Nachahmung des alten Stils hinauslaufen können, dabei aber hätte naturgemäß der persönliche Ausdruck zurücktreten und die Einheitlichkeit, der große Zug des Ganzen leiden müssen. So aber läuft diese Musik mit größter innerer Geschlossenheit ab, wobei, wie bei Graener nicht anders zu erwarten, ihre Kulminationspunkte eher in den lyrischen als in den dramatischen Partien liegen. In diesen behindert zuweilen eine fast zu gewissenhafte Auskomposition des Wortes den musikalisch-szenischen Fluß, immerhin sind an den Höhepunkten der Handlung durch brüske Gegenüberstellung stimmungsmäßig kontrastierender Partien musikalische Spannungsmomente von höchster Eindringlichkeit geschaffen, so wenn vor dem gewaltsamen Schluß des zweiten Aktes die lustige Gavotte und vor dem leidenschaftlichen Ausbruch am Ende der Oper das zarte und innige Lied Friedemanns wiederkehrt. Aber die Grundfarbe dieser Musik ist zu zart, zu lyrisch, als daß in ihr Platz für ganz eindeutige dramatische Gesten wäre, dazu ist das ganze Werk in einen Zauberschleier feinster, vom Silber des Cembaloklanges freundlich durchbrochener Orchesterfarben gehüllt. Die Deklamation ist, wie schon in Graeners früheren Opern, aufs feinste ausgewogen, der Sprachmelodie in den Grenzen des musikalischen Ablaufs nachgebildet und aus der inneren Bewegtheit des schnell fließenden Rezitativs heben sich dann die geschlossenen Formen wie Inseln heraus.“ (Blätter des Hamburger Stadttheaters, 1931/32, Heft 18, S. 276f.)
Der Librettist der Oper, Rudolph Lothar, „hat sich natürlich nicht streng an die tatsächlichen Schicksale des außerordentlich begabten ältesten Sohnes des großen Johann Sebastian Bach gehalten.“ (Paul Graener (1931): Friedemann Bach, Textbuch, S. 3) Sein Libretto basiert auf dem damals sehr verbreiteten gleichnamigen Roman Albert Emil Brachvogels (1824-1878), der mit großer dichterischer Freiheit einen gänzlich falschen, nicht den geschichtlichen Tatsachen entsprechenden Lebensweg Friedemann Bachs zeichnet. Graeners Wahl des Librettos kann zum einen nur aus dieser Zeit heraus verstanden werden, zum anderen mag der bereits im Sujet liegende Kontrast zwischen dem schlichten Bürgerhaus und dem falschen Prunk am Dresdner Hof zur Zeit August des Starken Graener angesprochen haben, basieren doch auch seine vorangegangenen Opernstoffe auf eben solchen im Sujet verankerten Kontrasten (Christen. vs. Heidentum in Theophano; orientalische vs. westeuropäische Sitte in Schirin und Gertraude, himmlische vs. irdische Erscheinungen in Hanneles Himmelfahrt). Hierzu äußert sich Graener im Textbuch seiner Oper: „Es ist charakteristisch für das moderne Opernschaffen, daß es vielfach den Schwerpunkt der Oper nach Seite der Dichtung hin verlegt. Die psychologischen Vorgänge und Geschehnisse auf der Musikbühne werden übersteigert und immer komplizierter ausgedrückt. Im Gegensatz dazu versuche ich im ‚Friedemann Bach’, einfaches, menschliches Erleben mit einfachen musikalischen Mitteln zu schildern. […] Das Textbuch nur ein Anlaß zur Musik, – die Oper ganz nur auf Musik gestellt!“ (Paul Graener (1931): Friedemann Bach, Textbuch, S. 6)
Paul Graener: Beim Hamburger Archiv für Gesangskunst singt Walther Ludwig aus Opern von Graener
Nachdem die Oper auch in Berlin und Dresden aufgeführt worden war, wandte sich die Sächsische Staatsoper 1933 an Staatskommissar Hans Hinkel, da ihr vorgeworfen wurde, die Oper Graeners im Spielplan zu halten, obwohl Graener „Halbjude“ sei. Hinkel teilte daraufhin mit, dass Graener „Arier“ sei, der Librettist Rudolph Lothar allerdings Jude. Dennoch wurde Graeners Werk nicht etwa von den Spielplänen gestrichen: „In der Saison 1933/34 gab es noch 52 Aufführungen; auch zwei Jahre darauf, 1935/36, kam es wieder 22mal auf die Bühne. Graener […] zog die Oper auch nicht etwa freiwillig zurück, und so war sie noch 1939/40 mit neun Aufführungen vertreten.“ (Fred K. Prieberg (2000): Musik im NS-Staat, S. 206). Im Vergleich zu den 1920er Jahren, die für Graener nicht nur eine kompositorisch fruchtbare, sondern zugleich auch erfolgreiche Zeit in Bezug auf die Aufnahme seiner Werke war, konnte er, befördert durch sein musikpolitisches Engagement im NS-Kulturapparat, die Anzahl der Aufführungen seiner Werke bis in die Mitte der 1930er Jahre steigern. 1934 kam es zur Uraufführung seiner Oper Der Prinz von Homburg (op. 100) nach Heinrich von Kleist (Libretto von Graener selbst) an der Berliner Staatsoper, indes blieb Friedemann Bach weiterhin Bestandteil deutscher Spielpläne. Nahmen die Nationalsozialisten den jüdischen Librettisten Stefan Zweig von Richard Strauss’ Oper Die schweigsame Frau zum Anlass, den Komponisten zum Rücktritt vom Posten des Präsidenten der Reichsmusikkammer zu zwingen, verblieb Graener noch einige Zeit länger in seinen Ämtern.
Paul Graener: Der originale Wilhelm Friedemann Bach/OBA
Trotz der Mitteilung Hinkels und Graeners Bemühungen, seine „arische“ Herkunft zu belegen, kam es im Laufe des Jahres 1940 an der Preußischen Akademie der Künste erneut zur Untersuchung seiner Abstammung. Hintergrund war wohl das Bestreben, einen Vorwand zu finden, Graener, der bereits am 1. April 1937 die Leitung der Fachschaft Komponisten innerhalb der Reichsmusikkammer niedergelegt hatte, aus dem Dienst der Akademie zu entlassen. Hilfreich für den Senat waren dabei die zahlreichen Freundschaften Graeners zu jüdischen Verlegern und Komponisten (u. a. Otto Mannasse, Kurt Eulenburg, Wilhelm Zimmermann). In einem internen Bericht der Akademie hieß es: „Dr. Miederer hat mir heute auch – wie ich streng vertraulich bemerke – sein gesamtes Material gegen Graener vorgelesen. Es ist geradezu erdrückend! […] Ferner sind in diesem Material Äußerungen Graeners politischer Art zusammengestellt, die recht bedenklich sind. Schließlich wird eingehend die Frage seiner Abkunft behandelt, da er ja nicht in der Lage ist zu beweisen, daß er arischer Abstammung ist. Verbindungen mit dem Judentum werden ihm nachgewiesen und die Vermutung nicht von der Hand gewiesen, daß er doch selbst Jude sei.“ (Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, PrAdK I/021, Nr. 19f.)
Die Erfolge der 1920er und frühen 1930er Jahre konnte Graener in den letzten Lebensjahren kaum mehr wiederholen. Unter seinen bedeutsamen Kompositionen nach 1940 sind die Oper Schwanhild (o. op.) mit Uraufführung 1941 an der Kölner Oper und seine zweite Sinfonie mit dem Titel Wiener Sinfonie (op. 110) (Sterling CDS-1090) zu nennen. Eine zwei Jahre vor seinem Tod begonnene Oper mit dem Titel Odysseus’ Heimkehr blieb unvollendet. Mit seinem Tod vor 70 Jahren verschwanden Graeners Werke von den Spielplänen. Einzig die Deutsche Oper am Rhein nahm sich vor mehr als 15 Jahren in der Reihe „Oper am Klavier“ Graeners Oper Friedemann Bach an.
Foto oben/OBA: Das berühmte Bild von Adolf Menzel, „Flötenkonzert in Sansouci“, war Anregung zu Graeners – neben „Friedemann Bach“ – heute fast bekanntestem Werk, „Die Flöte von Sansouci“, die man gelegentlich noch im Radio hören kann. Seine verfügbaren CDs sind in operalounge .de von Moritz Schön besprochen worden.