Von Wikingern und anderen

Auch ohne die Rama-Werbung wäre „Morgenstimmung“ vermutlich zu einem der populärsten Stücke klassischer Musik geworden, eignet sie sich doch vorzüglich, um eine heimelige Wohlfühl-Kuschelatmosphäre zu erzeugen. So wie man sich eben einen Frühlingsmorgen in den norwegischen Bergen vorstellt. Spätestens seit Edvard Grieg seine für die 1876 erfolgte Uraufführung von Ibsens Stück Peer Gynt  komponierte Bühnenmusik häppchenweise 1888 in einer ersten und wenige Jahre darauf in einer zweiten Peer Gynt -Suite verpackt hatte, galt er als der norwegische Komponist schlechthin. Von der „Morgenstimmung“ machen wir uns eine ganz falsche Vorstellung, denn das erste Stück des vierten Aktes beschreibt den Sonnenaufgang über der Sahara, wohin es den mittlerweile durch Sklavenhandel reich gewordenen norwegischen Bauernsohn Peer Gynt nach Jahrzehnten verschlagen hat. Es ist immer interessant, die komplette Schauspielmusik – rund zwei Dutzend Stücke mit einer Aufführungsdauer von knapp 90 Minuten – in der Abfolge zu hören, wie sie für die Aufführung des Schauspiels konzipiert waren. Der Norweger Bjarte Engeset bietet mit dem Malmö Symphony Orchestra und inklusive mehrerer eingearbeiteter Sprechpassagen eine vollmundige Wiedergabe der Musik, die grob gegerbt und ruppig wirkt und angemessen rustikal. Sie ist zentraler Bestandteil der acht CDs umfassenden Naxos Box Grieg Complete Orchestral Works, die beispielsweise auch die beiden „Peer Gynt-Suiten“ op. 46 und op. 55  enthält, welche – worin sich auf den ersten Blick die beiden Ausgaben inhaltlich unterscheiden – sich nicht in der Gesamtausgabe der Deutschen Grammophon befinden, die zum 150. Geburtstag des Komponisten 1993 auf sechs CDs Edvard Grieg Complete Music with Orchestra vorstellte. So großartig bei DG Neeme Järvi das Gothenburg Symphony Orchestra auch instruierte, braucht sich die Naxos-Ausgabe, die für Engeset als zweiten Klangkörper noch das traditionsreiche Royal Scottish National Orchestra aus Glasgow verpflichtete, nicht verstecken. Auch wenn Engeset nicht nur im Fall des zu Griegs Lebzeiten äußerst beliebten großen Chorwerks Landnahme op. 31 (CD 8) kein so namhafter Solist wie Hakan Hagegard bei DG zur Verfügung steht, ist seine Einspielung ohne Fehl.

Die Ausgabe bietet den sehr erschwinglichen Einstieg in die norwegische Geschichte, in die Sagen- und Legendenwelt, denn Grieg schweift zu Olav Trygvarson (CD 8), dem Norwegen die Christianisierung verdank, und dem Kreuzfahrer Sigurd I., dem die drei Orchesterstücke Sigurd Jorsalfar op 22 (CD 8), gewidmet sind, und erweist auch Persönlichkeiten der jüngeren norwegischen Geschichte ihre Referenz, dem ebenfalls aus Bergen stammenden Komödienautor und Gelehrten Ludvig Holberg mit der vibrierenden Suite Aus Holbergs Zeit op. 40 (CD 7) und dem Komponisten der norwegischen Nationalhymne Rikard Nordraak, zu dessen Tod Grieg einen Trauermarsch op. 73 (CD 2) schrieb.  Zwischen Der letzte Frühling (CD 7), der Debussy an den „bizarren und charmanten Geschmack eines rosa Puderschnee-Bonbons“ denken ließ, und der gespenstischen Klangstudie „Glockenklang“ aus den Lyrischen Stücken op. 54 (CD 2) gibt es viel zu entdecken.

Rolf Fath

 

Edvard Grieg: Complete Orchestral Works mit Malmö Symphony Orchestra; Royal Scottish National Orchestra: Leitung: Bjarte Engeset; 8 CDs Naxos 8.508015