Aus den Melodija-Kellern

„In der Sowjetunion, einen Land mit zweihundertsiebzig Millionen Einwohnern, mit sechsundvierzig festen Theater und Tausenden von Opernsängern, gibt es nur eine Schallplattenfirma, Melodija. Und weil nur einmal in zwanzig Jahren eine Oper in Neuaufnahme erscheint, war die erste und damals einzige Einspielung des (Eugen) Onegin jene, die ich als kleines Mädchen hörte und der ich meine Begeisterung für den Gesang verdanke. Sie stammt aus dem Jahr 1936. Damals hatte Aljona Kruglikowa die Tatjana gesungen, Pantaleinmon Narzow den Onegin und Iwan Koslowsky den Lenski“, schreibt Galina Wischnewskaja ihrer 1984 erschienen Autobiografie. Und weiter: „Unsere Aufnahme von 1956 war also die zweite, die je in Russland produziert wurde. Wie viele Tatjanas, Lenskis, Onegins hatten sich in diesen zwei Jahrzehnten zu Luft verflüchtet, und wie viele noch werden bis zu nächsten Aufnahme in Vergessenheit geraten!“

Tatjana wurde zur Rolle ihres Lebens. Die erste Schallplatten-Tatjana der Wischnewskaja, die 1952 als Tatjana am Bolschoi debütiert hatte und sich dreißig Jahre später in Paris damit von der Bühne verabschiedete, ist nie in Vergessenheit geraten, auch wenn sie lange Zeit nicht zugänglich war. Es folgte 1970 die während eines Gastspiels des Bolschoi-Theaters in Paris entstandene Aufnahme unter ihrem Gatten Mstislaw Rostropowitsch, doch die frühe Aufnahme der 30jährigen galt stets als Referenz. Bei Melodija ist sie jetzt neuerlich in einem hübschen Klappalbum mit schmalem englischem und mehrseitigem russischem Text, einigen alten Fotos und CDs in alter Schallplatten-Optik erschienen. Der Klang ist deutlich, klar, die Sänger – gleich eingangs im Quartett der vier Frauen, das eigentlich ein Doppel-Duett ist – wunderbar und prägnant eingefangen, wobei mir der Klang beispielsweise in meiner alten Version (Legato Classics) wärmer erschien. Wischnewskaja kann in ihrer Mischung aus silbriger Schärfe und Energie und kommunikativer Innerlichkeit erstaunlich gut das junge Mädchen verdeutlichen. Die Briefszene gerät – bei nicht so larmoyantem Tempo wie oftmals gehört, wie denn Boris Khaikin überhaupt den Duktus dieser lyrischen Szenen gut trifft  – zu einer subtilen Schilderung. Den 18jährigen Lenski sang der 54jährige Sergej Lemeshev, der sein Operndebüt im Jahr von Wischnewskajas Geburt gegeben hatte und 1956 seine Karriere am Bolschoi beendete. Seit 1931 gehörte er dem Bolschoi-Theater an. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er sich eine schwere Pneumonie und Tuberkulose zugezogen und einen Lungenflügel verloren. Lemeshev gestaltet keinen jungen Burschen, es gelingt ihm aber immer noch jugendliche Schwärmerei zu vermitteln. Man merkt, wie ein großer Gesangskünstler nochmals zu zaubern versucht, um mit seiner zwanzig Jahre früheren Einspielung (unter Nebolsin) mithalten zu können. Zum Onegin Eugene Belovs, der 1951-64 am Bolschoi sang, finde ich keinen Zugang. Auf der Aufnahme erscheint er als ein Mann ohne Eigenschaften (es lassen sich kaum biografische Daten ermitteln), erstaunlich bassbaritonal, dunkel, schwer auffahrend.

rimsky saltan melodyaIn der gleichen Ausstattung – allerdings diesmal mit russisch- englisch-französischem Beiheft (in dem die Vornamen der Sänger grundsätzlich nur mit dem Anfangsbuchstaben angegeben werden) – erschien Rimski-Korsakows 1899 entstandenes Märchen vom Zaren Saltan. Die Melodija-Aufnahme von 1958 muss man schon mangels Alternativen empfehlen. Es ist allerdings kein Notkauf. Unter Leitung der langjährigen Bolschoi-Stütze Wassili Nebolsin erlebt man eine runde Ensembleleistung mit einigen charaktervoll eindrücklichen, manchmal bei den keifenden Schwestern, auch kreischend-gellenden Einzelleistungen, doch insgesamt ist es eine kernige, lebendige Aufnahme, die die Märchenfiguren ungemein einprägsam erstehen lässt. Verbitskaya, die bereits die Filipjewna war, ist eine ausgezeichnete Babarika, Elena Smolenskaja eine nicht mehr ganz frische Militrissa, Iwan Petrow ein humorvoll grandioser Saltan. Mit gequetscht engem Tenor singt Vladmir Ivanovsky den jungen Prinzen und Galina Oleinichenko mit verhangenem, kurzen Märchensopran die Schwanenprinzessin.   R. F.

 

Peter Tschaikowsky: Eugen Onegin mit Valentina Petrova (Larina), Galina Wishnevskaja (Tatjana), Larissa Avdeyeva (Olga), Evbeniya Verbitskaya (Filipjewna), Evgeni Belov (Eugen Onegin), Sergej Lemeshev (Lenski) u.a.; Chor und Orchester des Bolshoi Theaters; Leitung: Boris Khaikin; 2 CD Mel CD 10 00652

Nicolai Rimski-Korsakow: Die Legende vom Zaren Saltan mit Iwan Petrow (Zar Saltan), Elena Smolenskja (Militrissa), Galina Oleinichenko (Schwanenprinzessin), Evbeniya Verbitskaya Babarinka) Vladimir Iwanowsky (Gwidon) u.a.; Chor und Orchester des Bolshoi Theaters; Leitung: Wassili Nebolsin; 2 CD Mel CD 10 02199