Leonie Rysanek – The Soprano Queen. Es gibt zwar viele Königinnen in diesem Stimmfach. Aber es gab nur eine Rysanek. Sie hatte keine Vorgängerin und keine Nachfolgerin. Sie war eine Ausnahme und ist es in der Erinnerung ihrer sehr zahlreichen Anhänger geblieben. Jene, die sie noch selbst erlebt haben auf den Bühnen dieser Welt, schwören, dass sie nur dort zu ihrer eigentlichen Größe wuchs. Dabei sollen nicht alle Abende zu ihrem Ruhme beigetragen haben, je näher sich die Karriere ihrem Ende neigte. Aber dann gab es immer wieder diese Vorstellungen, bei denen sie mit ihrem flammenden Sopran alles in ihren Bann schlug, was Parkett und Ränge füllte. Selbst zufällige Opernbesucher, die noch nie zuvor von ihr gehört hatten, sollen durch sie für den Rest ihres Lebens mit Oper infiziert gewesen sein. Die Rysanek war durch Präsenz und Individualität die beste Werberin für diese Kunstform. In die Kulissen des so genannten Regietheaters hätte sie nicht gepasst. Sie war ihr eigenes Regietheater. Unorthodox, wie die Rakete, die an beiden Enden in Flammen steht. Ihre Aufnahmen vermitteln davon zwar eine starke Vorstellung, das Bühnenerlebnis ersetzen sie nicht.
Dem Label The Intense Media, das sich der Erinnerung an bedeutende Sänger und Musiker verschrieben hat, ist mit seiner Rysanek-Box eine schöne Auswahl gelungen (600 159). Die zehn CDs sind nicht immer randvoll gefüllt, dafür aber werden Szenen aus dreißig Opern aufgeboten. Ihr Repertoire war allerdings viel größer. Kundry, Chrysothemis, Salome, Küsterin, Kabanicha, die späte Klytämnestra oder die Pique Dame-Gräfin sind nicht berücksichtigt. Kein Grund zur Klage. Entsprechende Mitschnitte sind auf allen möglichen Labels weit verbreitet und kursieren unter Sammlern. Dieser Mangel schmälert die Box also nicht. Obwohl ihre Domäne die Bühne gewesen ist, sind ihr auch eine ganze Menge Studioproduktionen gelungen. Lady Macbeth gilt als das Paradebeispiel. Szenen der RCA-Einspielung unter Erich Leinsdorf, die das sensationelle Debüt in der alten New Yorker Met zu wiederholen versucht, belegen das. Aus Studios, auch beim Rundfunk, stammen Ausschnitte aus den komplett eingespielten Opern Fidelio (DG/Ferenc Fricsay), Oberon (WDR/Joseph Keilberth) und Otello (RCA/Tullio Serafin) sowie zahlreiche einzelne Szenen und Arien, darunter „Das war sehr gut, Mandryka“ aus Arabella, „Ich weiß nicht, wer mein Vater war“ aus Tiefland oder die Senta-Ballade aus dem Fliegenden Holländer (alles mit Wilhelm Schüchter am Pult). Holländer gibt es zusätzlich aus Bayreuth. Von dort stammen die gleichfalls größeren Szenen aus Walküre (1951/Herbert von Karajan) und Lohengrin (1958/André Cluytens).
Eines meiner liebsten Rysanek-Dokumente ist ihre Gutrune in der Götterdämmerung aus dem Münchener Prinzregententheater, die Hans Knapperstbusch 1955 dort aufführte. Sie ist eine der wenigen dokumentierten Produktionen, die diese Partie vom Rande ins Zentrum rückt und ihr neben der Brünnhilde – gesungen von der aufstrebenden Birgit Nilsson – die Wichtigkeit gibt, die ihr bei genauer dramaturgischer Lesart tatsächlich zukommt. Noch immer werde ich den Eindruck nicht los, dass sich damals eine kommende Brünnhilde abgezeichnet. Tat es aber nicht. Brünnhilde hatte sich für die Rysanek offenbar bereits 1950 erledigt. Damals debütierte sie in der österreichischen Provinz als Walküren-Brünnhilde, ohne dass es eine Fortsetzung gab. Nur im amerikanischen Spielfilm „Frauen um Richard Wagner“ (im Original „Magic Fire“) versuchte sie sich 1954 nochmals mehr anekdotisch in dieser Rolle mit einem kleinen, vom Korngold musikalisch bearbeiteten Ausschnitt aus dem Götterdämmerungs-Schlussgesang. Der Film ist jetzt beim Label Filmjuwelen auf DVD erschienen, die kurze Sequenz macht Lust auf mehr. Zu hören ist eine sehr strahlende und lyrische Brünnhilde, das glatte Gegenteil von Martha Mödl, Astrid Varnay und der Nilsson, die zu dieser Zeit die Spielpläne dominierten und den Stil im Wagnergesang nicht nur positiv für Jahrzehnte prägten.
Es gehört zu den Stärken der Rysanek, dass sie ihre Fachgrenzen Richtung Hochdramatische nie überschritt, was ihr eine lange Karriere beschied. Mit der Elektra im Film von Götz Friedrich wollte sie lediglich ihrem Mentor Karl Böhm einen Gefallen tun. Das Ausdrucksspektrum dieser Partie vermochte sie nicht nachhaltig zu erweitern. Zu groß war die Konkurrenz. Eine der Rollen ihres Lebens durfte in der Box auf keinen Fall fehlen, die Kaiserin in der Frau ohne Schatten von Strauss (großes Foto oben), hier aus der berühmten und nicht zu toppenden ersten Stereo-Schallplattenproduktion der Decca aus Wien mit Böhm am Pult, der diesem schwierigen Stück zu weltweitem Durchbruch verhalf – nicht immer zum Vorteil dieser großen Festspieloper. Denn auch als Kaiserin hat die Rysanek keine echte Nachfolgerin gefunden, die es mit ihr hätte aufnehmen können in der überzeugenden Gestaltung dieser zerrissenen Frau. Sie hat die Kaiserin fast zwanzig Jahre lang gesungen, nur überboten von der Sieglinde, die sie erstmals 1951 bei den Bayreuther Festspielen und letztmalig 1989 an der Wiener Staatsoper sang. Das dürfte Rekord sein. Ein Rekord, der zu Leonie Rysanek passt.
Rüdiger Winter