Archiv für den Monat: Dezember 2020

August Emil Ennas „Kleopatra“

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Es ist – denken wir bei operalounge.de – doch die Aufgabe eines anspruchsvollen Opernmagazins, nicht nur auf seltene Titel der Theatergeschichte hinzuweisen, sondern als Europäer vor allem europäische Opern bekannt zu machen (und damit das akute und sträfliche Versäumnis unserer Opernhäuser mit ihren einseitigen Spielplänen zu korrigieren), die – wie viele der von uns bislang vorgestellten – ursächlich oder begleitend zum nationalen Selbstverständnis der jeweiligen Entstehungsländer beitragen,  dort nationale Entwicklungen zur Eigenständigkeit nach längerer Fremddominanz befördern. Dass Oper eine sozialpolitische Funktion zeigt und gleichzeitig auch ein Seismograph des nationalen Bewusstseins ist ausübt steht ja außer Zweifel.

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Natürlich gibt es viele  dänische Komponisten, und natürlich werden nun Kenner die Hände heben und aufschreien. Aber wirklich bekannt sind dänische Tonsetzer im Ausland nicht wirklich, wenngleich viele in Berlin oder Leipzig ausgebildet wurden. Ja, es gibt natürlich Niels Wilhelm Gade (1817–1890), Paul von Klenau (1883–1946), Carl Nielsen (1865–1931), Johann Adolf Scheibe (1708–1776), August Winding (1835–1899), Friedrich Kuhlau (1786–1832), Rued Langgaard (1893–1952), Poul Ruders (* 1949) und manche mehr, aber außer Nielsen und Gade – wage ich zu behaupten – sind die anderen nicht wirkliche Renner in den Opern- und Konzerthäusern der Welt und in Deutschland schon gar nicht. Das mag an manchem liegen, aber im Bereich der Oper und der Vokalmusik vor allem an der Sprache, die nur von Dänen beherrscht wird und die für Nicht-Dänen (und mich) eher wie Portugiesisch klingt, mit ihren sprachlichen Verkürzungen sich auch dem nicht-dänischen Ohr entzieht. Dazu kommt, dass Dänen und Deutsche nicht wirklich eine tiefe Freundschaft verbindet, was seine vielfältigen Gründe in der Vergangenheit beider Länder hat. Anders als die übrigen Angrenzer ist uns Dänemark zwar ein beliebtes Ausflugs- und Ferienziel, aber als Kultur und eigentliches Volk doch fremd geblieben, denke ich.

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Dennoch. August Emil Enna ist einer der interessanten Komponisten aus unserem nördlichen Nachbarland, absolut unbekannt bei uns wie viele seiner Kollegen, und nur die verdienstvolle Firma cpo hat einige CDs mit seinen Werken herausgegeben. An Opern gibt es das Mädchen mit den Schwefelhölzern nach Andersen auf CD. Das ist nicht viel. Aber: Im März 2019 gab das Opernhaus von Aarhus die große Oper Kleopatra von 1898, die auch in Dänemark tournierte, so am 12. März 2019 auch in Kopenhagen. Und sie ist nun bei DaCapo/ Naxos auf zwei schicken CDs erschienen, englische Übersetzung von Artikel und Libretto einschließlich. Eine Prachtausgabe, absolut habenswert und und im April 2019 in Odense aufgenommenm. Der Fan rast. Meine Empfehlung für 2020.

Rolf Fath berichtet von der Aufführung, und seinem Eindruck ist wenig hinzufügen, außer dass die stimmungsvolle Optik für die neuen CDs fehlt.. Sozusagen in Ergänzung dazu stellt Knud Tomerup einen 2019 Buch über den Komponisten vor (nur in dänischer Sprache, was die Verbreitung enorm einschränkt (Produktionsfotos Kåre Viemose for Den Jyske Opera). G. H.

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Tanja C. Kuhn: Charmion in „Kleopatra“ von August Enna an der Danish National Opera (mit Tenor Christian Juslin), Fotograf Kaare Viemose

In einer unterirdischen Gruft wird der Pharaonenabkömmling Harmaki vom Hohepriester Sepa auf seine Mission eingeschworen. Die Krieger, Priester und ägyptischen Fürsten wählen ihn zu ihrem künftigen Pharao, doch zuvor muss er Kleopatra aus dem Weg räumen. Nicht von ungefähr erinnert die Szene im Prolog von August Ennas dreiaktiger Kleopatra an die erste Szene aus Verdis Aida, die als Modell für die gut zwanzig Jahre spätere Ägypten-Oper, die am 7. Februar 1894 im Königlichen Theater in Kopenhagen uraufgeführt wurde, gedient haben könnte. Selbstverständlich erliegt Harmaki dem Zauber Kleopatras. Die Königin durchschaut die Untreue ihrer Vertrauten, der Hohepriestertochter Charmion, die selbst in Harmaki verliebt ist, und setzt ihre nicht unbeträchtliche Verführungskunst ein. Harmaki gesteht Kleopatra seine Liebe, sie entreißt ihm seinen Dolch, um ihm diesen später zuzuwerfen, worauf er sich ersticht und Charmion über seinem Leichnam zusammenbricht.

Der Erfolg von Kleopatra war geteilt. Vorausgegangen war Ennas ungeschicktes Taktieren zwischen seinem dänischen und deutschen Verleger, Henrik Hennings und Breitkopf & Härtel, in dem auch die Öffentlichkeit Partei ergriff, darunter sein Textdichter Einar Christiansen. Als Vorlage für seine Kleopatra hatte Christiansen den gleichnamigen Roman des Briten Henry Rider Haggard benutzt, der durch seine vielfach im ägyptischen Milieu spielenden Abenteuerromanen Berühmtheit erlangt hatte; man fragt sich nebenbei, ob Christiansens originaler Text so bräsig klingt wie die englische Übersetzung im Beiheft der world premiere recording. Auch die Besetzung erfüllte 1894 offenbar nicht alle Voraussetzungen. Erst als die Oper ein Jahr später wiederaufgenommen wurde und Ellen Gulbranson, die zwischen 1896 und 1914 regelmäßig in Bayreuth auftrat, die ihr ursprünglich zugedachte Titelrolle übernahm, stellte sich der große Erfolg ein, der nach zwanzig Aufführungen schlagartig abbrach. Cleopatra wurde in Berlin, Hamburg, Köln, Breslau, Amsterdam, Den Haag und Rotterdam, Riga und Zürich gespielt. Nach mehr als 120 Jahren setzte Philip Kochheim, an dessen Ausgrabung von Jenös Hubays schöner Anna Karenina während seiner Braunschweiger Operndirektion ich mich gerne erinnere, an der inzwischen von ihm geleiteten Dänischen Nationaloper, Den Jyske Opera, in Aarhus die Kleopatra des in der Folge von Kunzen, Kuhlau, Heise und Gläser und neben dem sechs Jahre jüngeren Carl Nielsen bedeutendsten dänischen Opernkomponisten 2019 auf den Spielplan.

Ennas Oper „Kleopatra“ an der Jütländischen Oper/ Szene/Kåre Viemose for Den Jyske Opera

Im Vorwort des im April 2019 in Odense entstandenen CD-Mitschnitts (2 CD Dacapo 8.226708-09) wird als bekanntestes Werk Ennas auf seine Ouvertüre zu der Andersen-Kurzoper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern verwiesen, außerdem heißt es, „At the turn of the last century… he was the best-known Danish composer outside Denmark, praised for his operas, his flair for drama und his instrumentation skills. But Enna wrote in an hyper-romantic style that you would have to be Richard Strauss to get away with in the 20th century. When Enna died in 1939, his music was forgotten, both at home and abroad“. Enna war bekennender Wagner-Anhänger und Delibes-Bewunderer. Seine durchkomponierte, selbstverständlich fließende Kleopatra ist ein interessantes Zeugnis für den, wie es Ulrich Schreiber nennt, „musikalischen Internationalismus“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts, verfügt ein exotisches Kolorit, wie wir es bei Ernest Reyer, Saint-Saens oder Karl Goldmark finden, in der die dramatischen Momente nicht so sicher platziert sind wie die sinnliche Ausreizung der Situationen; dennoch in ihrer Art schwer vergleichbar und deshalb eine willkommene Wiederentdeckung. Dramatische Höhepunkte wie die Finali des umfangreichen Prologs, des ersten und zweiten Aktes oder die exotischen Farben der Ballettszene zu Beginn des dritten Aktes sind sicher gesetzt, doch größtenteils dominiert in den lyrisch wabernden Szenen ein wenig spezifischer Schönklang. Die Aufnahme vermag das möglicherweise nicht alles ausreizen. Joachim Gustafson greift mit dem Odense Symphony Orchestra die instrumentalen Feinheiten der Partitur auf, doch der Klang wirkt auf mich nicht wirklich opulent eingefangen. Der Danish National Opera Chorus bietet eine mehr als gediegene Leistung, ebenso die Solisten, unter denen mit leichtem Wagner-Tenor Magnus Vigilius als Harmaki und die ukrainische Sopranistin Ruslana Koval als Charmion hervorstechen. Der Kleopatra merkt man, dass sie für eine reichere, dramatischere Stimme konzipiert ist als sie die zuverlässige, aber farblos girrende Elsebeth Dreisig, deren leichter Sopran sich zu wenig von Koval abhebt, aufbieten kann. Routiniert und theatralisch packend gibt Lars Møller den Hohepriester Sepa. Rolf Fath

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Ein paar Worte noch einmal zum Komponisten: August Emil Enna (* 13. Mai 1859 in Naskov; † 3. August 1939 in Kopenhagen) war ein dänischer  Musiker und Komponist.. Der Großvater, ein gebürtiger Italiener (vielleicht aus Enna in Sizilien), war nach den napoleonischen Kriegen (wo er als Soldat diente) mit seiner in Deutschland geborenen Frau nach Dänemark ausgewandert. August Enna wurde geboren in Nakskov auf Lolland, wo sein Vater Schuhmacher war. Die Familie zog 1870 nach Kopenhagen, wo Enna Schuhmacher-Lehrling wurde und Musikunterricht bekam (Violine, Klavier und Theorie; mit Christian Schiørring als Geigenlehrer und Organist Peter Rasmussen für die Theorie). Er wurde Geiger und trat in Finnland und Schweden auf. Im Jahre 1883 kehrte er nach Dänemark zurück, um Musikdirektor an ‚Werners Theatre Company‘ zu werden, einem reisenden Tourneetheater. 1884 komponierte er seine erste Oper, Agleia, einige Klavierstücke und Instrumentalwerke, und im Jahre 1886 eine Symphonie (in c-Moll), die das Interesse von Niels Gade erregte. 1890 / 91 war er Dirigent am Theater Dagmar in Kopenhagen. Danach lebte er vom Komponieren und von kürzeren Engagements; in seinen letzten Jahren war er arm. 1908 wurde er Titularprofessor.

1892 wurde seine bahnbrechende Arbeit, die Oper ‚The Witch‘ uraufgeführt. Dann hatte er großen Erfolg mit weiteren Opern, darunter Cleopatra (1893), The Little Match Girl (1897), Gloria Arsena (1917) und Komiker (1920). Mehrere von ihnen wurden an verschiedenen europäischen Bühnen aufgeführt, so zum Beispiel in Berlin, Hamburg, Weimar, Magdeburg und Köln. Er war ein Ritter des Dannebrog-Ordens. Begraben wurde er in Frederiksberg auf dem alten Friedhof.

ennaEr schrieb in einem hohen romantischen Stil, der lange aus der Mode war, als er 1939 fast vergessen starb. Sein einziges öfter aufgeführtes Stück ist wohl die Ouvertüre zu ‚Das Mädchen mit den Schwefelhölzern‘, einer einaktigen Oper, die nur etwas mehr als eine halbe Stunde dauert. Seine Musik ist von Wagner und Verdi sowie von der dänischen romantischen Tradition inspiriert. Enna hatte einen guten Sinn für Theater-Instrumente, hatte eine feine melodische Ader und beherrschte die Kunst der Orchestrierung. Einige seiner Werke sind auf die kleinen dänischen Provinz-Theater mit begrenzten Ressourcen zugeschnitten. Nach dem Ersten Weltkrieg war Ennas Zeit als erfolgreicher Komponist vorbei. In seiner Zeit gehörte er zu den international meistgespielten Opernkomponisten.

Neben Opern- und Theatermusik schrieb Enna ein Violinkonzert (Uraufführung in der Carnegie Hall in New York), zwei Sinfonien, andere Orchestermusik sowie Lieder und kleine Klavierstücke. Nur wenige seiner Werke sind auf CD erhältlich. Das Klassik-Label CPO veröffentlichte einige  CDs mit Werken des Komponisten, darunter die Opern Das Mädchen mit den Schwefelhölzern und Heisse Liebe. (Quelle Wikipedia)

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Unser Freund und Leser Knud Tomerup stellt im Folgenden die Neuveröffentlichung einer Enna-Biographie von Steen Christian Steensen vor, natürlich gibt´s die nur in dänischer Sprache und zeigt einmal mehr die Fremdheit zwischen den Nachbarn, bedingt durch die Fremdheit der Sprache gegenüber den Nachbarländern. Knud Tomerup schreibt:  “Hot as an Italian and naughty as a shoemaker boy” Über den dänischen Opernkomponisten August Enna (1859-1939), der ab 1892 und in den folgenden 20-30 Jahren mit seinen mehr als 10 Opern mehr Erfolg hatte als jeder andere dänische Komponist, ist jetzt ein Buch erschienen. Ein Erfolg, der in Europa sogar noch größer war als auf der heimischen Bühne. Doch allmählich ebbte das Interesse ab, und heute wissen nur noch wenige Menschen etwas über Enna.

Das Buch ist von dem Musikschriftsteller und Dozenten Steen Christian Steensen geschrieben, der einen MA in Musikwissenschaft und Kunstgeschichte hat und mehrere Bücher geschrieben hat, unter anderem eine Carl Nielsen-Biographie. Es ist sehr gut geschrieben und erzählt auf unterhaltsame Weise von Ennas Leben und seinen Opern, aber auch von seinem Verhältnis zu anderen Menschen und seinem Handeln.
Ennas Großvater stammte aus der Stadt Enna in Sizilien und sein Vater ließ sich als Schuhmacher nieder, zunächst auf der Insel Lolland und später in Kopenhagen. Daraus ergibt sich die oben erwähnte Aussage über sein Temperament, das der Autor wie folgt beschreibt: Eigensinnig, verschlagen und launisch, aber auch charmant, charismatisch und leidenschaftlich.

Ennas Karriere erinnerte anfangs an das Leben manch anderer junger Opernkomponisten, bevor sie ihren ersten Erfolg hatten und sich etablierten. Er war kein Autodidakt, sondern hatte nur eine begrenzte Schulbildung, obwohl er schließlich eine Ausbildung in Geige bei einem bekannten Kapellmusiker und in Theorie bei einem Organisten erhielt. Jahrelang ernährte er sich als Musiker in Unterhaltungsorchestern, in kleinen Theatern und dergleichen, sogar in Finnland und Schweden, und komponierte dabei kleine Orchesterwerke.

1888 erhielt er jedoch ein beträchtliches Stipendium, das es ihm ermöglichte, sich auf das Komponieren zu konzentrieren, und 1892 gelang ihm der Durchbruch mit der Oper Heksen (Die Hexe) in vier Akten, die auch im Ausland ein großer Erfolg wurde. Ein paar Jahre später folgte der nächste Erfolg: Cleopatra, die auch auf vielen ausländischen Bühnen aufgeführt wurde, z.B. 1897 in Amsterdam mit 50 Aufführungen. In Deutschland wurde vor allem Den lille pige med svovlstikkerne (Das kleine Streichholzmädchen) nach dem Märchen von H.C. Andersen später ein großer Erfolg. Enna war von Kindheit an von H.C. Andersen begeistert, und ein ganzes Kapitel des Buches befasst sich mit dem Einfluss des Dichters auf Enna, der sich auch in der Oper Prinsessen på Ærten (Die Prinzessin auf der Erbse), dem Ballett Hyrdinden og Skorstensfejeren (Die Hirtin und der Schornsteinfeger) und dem Vokalwerk Mutterliebe niederschlug.

Ennas Oper „Kleopatra“ in Aarhus: Regisseur Ben Bauer und Kostümbildnerin Uta Meenen im Gespräch/ Trailer Jyske Opera

Der Autor weist darauf hin, dass Ennas Musik keineswegs einen speziell nordischen Stil aufweist, sondern von der internationalen Inspiration geprägt ist, die er auf seinen Reisen durch Europa erhielt, unter anderem, wenn seine Opern irgendwo aufgeführt werden sollten. Er war, wie so viele andere, von Wagner beeinflusst, war dann aber sehr fasziniert von Strauss. Für Puccini und die Verismo-Komponisten in Italien hatte er dagegen nicht viel übrig, obwohl seine Musik sicherlich auch deren Einfluss zeigt. Seine Werke, bei denen es sich nicht nur um Opern, sondern auch um Operetten, Ballette und verschiedene Formen von Orchestermusik handelte, entsprachen also nicht dem nationalen und romantischen Stil, der zu dieser Zeit in Dänemark vorherrschte. Diese Tatsache in Verbindung mit seinem Temperament war wahrscheinlich der Grund dafür, dass er vor allem bei zeitgenössischen Künstlern, Schriftstellern und Komponisten einen großen Teil der einheimischen Unterstützung verlor. Es hatte wohl auch Bedeutung, dass er erst spät begann, sich zu erneuern.
Neben dem Prädikat „temperamentvoll“ wurde ihm im Laufe der Jahre auch nachgesagt, dass er mit der Zeit immer verbitterter wurde, unter anderem weil der etwas jüngere Carl Nielsen mit seiner kühlen nordischen Musik mehr Gehör fand.
Der Autor hat sein Buch weitgehend auf Briefe, Interviews, Rezensionen und Zeitungsartikel gestützt, sowie auf das Hören der etwas spärlichen Musikaufnahmen, das Lesen von Noten und Texten, vor allem zu seinen Opern. Vor diesem Hintergrund versucht der Autor, uns ein differenzierteres Bild von Enna und seiner Musik zu vermitteln. Und es gelingt ihm.

So stellt das Buch fest, dass er und Carl Nielsen zwar Konkurrenten waren und in vielen Dingen nicht übereinstimmten, aber sie konnten sich auch beruflich umgehen. So dirigierte Carl Nielsen 1912 die Uraufführung von Ennas Nattergalen (Die Nachtigall) und dem Vokalwerk Mutterliebe.

In dem Buch wird auf ein Interview in der Zeitung Berlingske Tidende vom 2. Mai 1934 anlässlich des bevorstehenden 75. Geburtstags des Komponisten verwiesen. Geburtstag. Hier ist Enna noch bereit, einige Angriffe gegen das dänische Musikleben im Allgemeinen und gegen bestimmte Personen im Besonderen vorzubringen. Die Überschrift des Interviews lautet: „Ich habe so viele Feinde, dass ich mich nicht überwinden kann, sie alle zu grüßen!“ Aber man erlebt auch einen zugänglicheren und zurückhaltenderen Mann mit einem Augenzwinkern.
Der Autor schreibt im Vorwort, dass das 143 Seiten umfassende Buch nicht vollständig und erschöpfend zu sein scheint, aber er möchte ein gesteigertes Interesse an dieser seltenen Persönlichkeit im dänischen Musikleben wecken. Das könnte geschehen, aber da das Buch kaum ins Deutsche oder Englische übersetzt ist, wird es wahrscheinlich nur in Dänemark einen Einfluss haben. Knud Tommerup/Übersetzt mit www.DeepL.com/.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Dolmetscher

 

„Beethoven ist ein Mythos“ so lapidar lautet der erste Satz der hervorragenden RowohltMonographie Martin Gecksdie1996 zum ersten Mal erschien und immer wieder neu aufgelegt wurde. Der renommierte Musikwissenschaftler, der 2019 verstarb, war nicht nur einer der Großen der Wagner-, sondern auch der Beethovenforschung. Zu beiden Komponisten hat er viel geschrieben. Seine Bücher gehören zum Besten in Sachen Wagner wie Beethoven. Was Geck auszeichnet, dass er nie ausgetretene Pfade beschritt. Auch für seine neuste Publikation, die nun postum zum Abschluss des (von Corona verhagelten) Beethovenjahrs erschien, gilt dies. Zur Erinnerung: Martin Geck veröffentlichte zuletzt „“Die Sinfonien Beethovens“ (2017), „Beet­hoven-Bilder“ (2019) und „Beethoven hören“ (2020) sowie „Der Schöpfer und sein Universum“ (2020). Seine neuste Beethovenpublikation bietet nicht mehr, aber auch nicht weniger als „Momentaufnahmen aus zweieinhalb Jahrhunderten, eine Rezeptionsge­schichte in 78 kurzen Feuilletons“, wie Holger Noltze im Vorwort des schmalen, nur 176 Seiten umfassenden Buches schreibt.

Viele Bücher sind im Gedenkjahr des 250. Geburtstages des Komponisten erschienen (zu schweigen von CD-Veröffentlichungen), Gecks Buch zieht gewissermaßen eine Summe seiner Erkenntnisse über jenes komponierende Phänomen, dessen Musik er nie müde wurde zu hören. Aber Geck lässt andere für sich sprechen. Diese Vielfalt der Beethoven- Charakterisie­rungen ist es, die vielleicht das Wesentliche erschließt.  Jede dieser subjektiven Äußerungen, die zusammengenommen den Mythos Beethoven umreißen, kommentiert Geck mit souveräner Sachkenntnis, wissenschaftlich profund, nicht selten mit Witz, Ironie und Humor. Was für Gecks Schreiben über Musik und Musiker gilt zeigt sich in ihnen: „immer auf eine Balance der analytischen Befunde und der biographischen oder emotionalen oder psychologischen ‚Betroffenheit‘ um das schwer korrumpierte Wort hier einmal zu sagen“ bemüht. Holger Noltze hat völlig Recht.

Geck stand der Musikwissenschaft immer skeptisch gegenüber, hat all jenen stets misstraut, die sich im Besitz der Wahrheit fühlten, hat sich positiv von den meisten seiner Kollegen abgehoben. Deshalb versucht er in seinen Büchern auch gar nicht erst, das „Genie“ oder den „Titan“ verständlich zu machen, er vertraut eher dem Werk: „Beethoven beschränkt sich nicht darauf, innerhalb seines eigenen Systems immer Freiräume aufzutun und somit dieses System beständig an seine Grenzen zu führen: vielmehr vermag er das Moment subjektiver Freiheit seinem eigenen System beständig entgegenzusetzen.“ Das schreibt Geck ausgerechnet als Kommentar auf Adornos Beethoven-Fragment.  Einer von vielen Kommen­taren Gecks. Die Liste der Beethoven-Bewunderer wie -Kritiker ist lang, die er für sein Buch ausgewählt hat, es sind vergessene, aber auch prominente Namen. Goethe, Clara Wieck, Schumann, Berlioz, Heine, Nietzsche, Tolstoi, Debussy, Richard Wagner, Furtwängler, Glenn Gould, Marcel Proust, Hanns Eisler, Friedrich Nietzsche, Stalin, Becket, Thomas Mann… Ein Panorama begeisterter, ja hymnischer, aber auch verächtlicher, überraschender und skurriler Beethoven-Deutungen.

So urteilte beispielsweise der Berliner Kritiker Ernst Woldemar (Pseudonym für Heinrich Herrmann), Zeitgenosse von Carl Maria von Weber: „Allein ob sich ein Mann von ebenso reicher wie exzentrischer Einbildungskraft wie Beethoven, dermaßen in düstere, leere, trockene, plan- und geschmacklose Spekulationen – mit der schönsten der Künste – mit der Musik, verliert, dass man nicht bloß das Ruder des allgemeinen gesunden Menschensinnes, sondern selbst das seines eigenen früheren Verstandes darin vermisst.“

Der Gelehrte und Freigeist Wolfgang Robert Griepenkerl schrieb 1838 in seiner Novelle „Das Musikfest oder die Beethovener“ vom „ersten Feldgeschrei jenes Ereignisses“, der Juli-Revolution, und bescheinigte Beethovens Sinfonien ein „Stück Völkerwanderung, ein Stück Kreuzzüge, ein Stück Reformation, ein tüchtig Quantum französische Revolution mit einem ganzen Napoleon, vor allem aber einem Teufel“.

Noch der Musiktheoretiker August Halm schrieb in seinem Buch „Von zwei Kulturen der Musik“ (1920) über Beethoven: Wir „finden in seiner Sprache viel Schädliches“.

Alfred Rosenberg, Chefideologe der Nationalsozialisten, verkündete in seinem Buch „Blut und Ehre“ (Reden und Aufsätze 191.-1939) „Wir leben heute in der Eroica des deutschen Volkes“, und orakelte „dass der Deutsche Beethoven über alle Völker des Abendlands hinausragt und den besten unter ihnen als ein Zentrum echter Schöpferkraft gilt.“

Lange nach der dümmlichen wie anmaßenden Beethovenvereinnahmung der Nationalsozialisten, im Jahre 2006, holte der psychoanalytisch geschulte, slowenische Philosoph Slavoj Žižek noch einmal zu einem Tiefschlag aus und bescheinigte Beethoven in seinem Buch „Paralaxe“ ein „lächerliches Getue“, ein „hysterisches Herumfuchteln, das durchblicken lässt, dass hier ein Hochstapler am Werk ist.“

Der Autor: Dieter David Scholz ist renomierter Musikjournalist und Autor zahlreicher Bücher über musikalische Themen/ operacomique

Der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke beschließt mit seinen Anmerkungen zu Beethoven das Buch. Nach eingehender musikalischer Analyse schreibt er über das Ende der siebten Sinfonie ,,da würden „wie nach einem Bombeneinschlag zerstreute Trümmer zusammenge­sucht“.  Der Kommentar Martin Gecks dazu: „Er ist beim Schreiben über Musik nicht nur seinem Gegenstand in Klang und Partitur nahe, sondern auch seinem eigenen Erlebnis“.  Das ist der wohl persönlichste Kommentar Gecks und so etwas wie ein Selbstbekenntnis. Man denkt an Gecks großartiges Wagnerbuch von 2010, in dem man liest „Diskurse sind Sprachspiele zu bestimmten Themen – interesse­geleitet, unabgeschlossen. Und das Wort ‚Sprachspiel‘ besagt: Es hat keinen Sinn, zwischen Wahrheit oder Lüge, Recht oder Unrecht, Richtig oder Falsch unterscheiden zu wollen.“ Ebenso wenig wie Wagner will Geck Beethoven „auf die Schliche kommen“, in beiden Fällen versteht er sich „nur“ als „Dolmetscher“. Ach, gäbe es doch mehr solcher Dolmetscher! (Rowohlt Tschenbuch, 9. überarbeitete Ausgabe, 178 S.,ISBN 978-3-499-50645-1, auch als e-book) ,  Dieter-David Scholz

Rossini-Spass

 

Matilde di Shabran ist ein selbstbewusstes und resolutes Burgfräulein, das recht gut in die Reihe der starken Frauenfiguren Rossinis gehört. Seine gleichnamige Oper Matilde di Shabran gleichwohl ist ein Mauerblümchen. Nicht nur des Opernrepertoires, sondern auch jener beiden Festspiele, die sich ausschließlich Rossini widmen. Spät erst, 1996, hat sich Pesaro der Matilde zugewandt, zwei Jahre später folgte Rossini in Wildbad dicht auf dem Fuß. Bereits 2004 setzte Pesaro eine zweite Inszenierung an (die 2012 wiederaufgenommen wurde) und 2017 entschloss sich Bad Wildbad ebenfalls für eine Neuproduktion. Sehr zu Recht. So dramaturgisch zerklüftet sich die Geschichte zeigt, die Jacopo Ferretti, der mit seiner Cenerentola bedeutend mehr Geschick mit Perraults Vorlage bewiesen hatte, nach einem französischen Vorbild zurechtrupfte, so musikalisch rund ist die Oper, die allenfalls durch den überlangen ersten Akt unausgewogen wirkt. Zudem gelang, wie die Naxos-Ausgabe bezeugt (3 CDs 8.660-192-94), Rossini in Wildbad im Juli 2019 eine der gelungensten Produktionen seiner Geschichte, wie auch Charles Jernigan anlässlich der Premiere auf Opera Lounge konstatierte. Man kann in Matilde di Shabran, die den Abschied Rossinis von der Ewigen Stadt markiert, in der er u.a. zwei seiner schönsten Komödien uraufgeführt hatte, bereits einen ironischen Blick auf die mittelalterliche Ritterwelt des späteren Comte Ory erkennen. Die Bezeichnung lautet Melodramma giocoso, wobei semiseria richtiger wäre, zwar sind die Stände nicht derart durchmischt wie in der Gazza ladra, doch im Zentrum steht auch hier eine Handlung um eine verfolgte Unschuld, eben die durch eine Intrige der Rivalin bedrängte Titelfigur. Der männliche Held, der Frauenhasser Corradino mit dem Beinamen Cuor di ferro (Eisenherz), ist ein Sonderling, der nicht so schlitzohrig wie Ory, aber auf dem besten Weg dorthin ist, daneben gibt es das Bass-Bariton-Trio aus Arzt Aliprando, dem Turmwächter Ginardo und dem Dichter Isidoro; die Hosenrolle des Edoardo, kein Bauernjunge wie der Pippo in der Gazza ladra, sondern ein Krieger und Sohn von Corradinos Bass-Feind Raimondo Lopez, dazu noch die Contessa d’ Arco, die ein Auge auf den Burgherrn geworfen hat und die Ankunft der Mathilde argwöhnisch beäugt. Es gibt nicht genügend Arien für so viel Personal. Die Ensembles sind der Clou des Werkes und treiben die Handlung voran, das Quartett des Corradino mit drei tiefen Männerstimmen, das Quintett Corradinos mit den beiden Damen und Aliprando und Ginardo mit der ratternden Steigerung „Dallo stupore oppresso“ im ersten Akt, ein Terzett und ein Sextett im zweiten; zwei Duette sind der Matilde zugeteilt, eines mit Aliprando, ein zweites mit Edoardo. Solonummern sind eigentlich nur im ersten und zweiten Akt eine Cavatina des Isidoro und des Raimondo sowie das typische Rondo finale der Matilde und zuvor die in ein Ensemble eingebettete Arie des Corradino „Anima mia, Matilde“, die der Italoamerikaner Michele Angelini mit sensationellem Aplomb und Sicherheit singt, dass man sich nicht nach Flórez zu sehnen braucht. Mit allen kleinen Noten, Koloraturen und Zierungen tänzelt er sicher und keineswegs martialisch als kecker Vorbote des Ory durch die Handlung. Vor allem im zweiten Akt gelingt es dem Spanier José Miguel Pérez-Sierra mit dem Passionart Orchestra aus Krakau eine Dichte und Spannung und komödiantischen Esprit zu erzeugen, die das heterogene Stück bündeln. Seine Landsmännin Sara Blanch erweist sich als funkelnde Komödiantin, deren Bühnenpräsenz auch auf der CD zu spüren ist und die mit strahlend ausgeglichener Stimme die Ensembles bestimmt, ohne sie zu sprengen. Victoria Yarovayas leuchtend flexibler und umfangreicher Alt (Edoardo), der virile Bariton des Emmanuel Franco (Aliprando), in dessen Duett mit Matilde gerne die Nähe zum Malatesta-Norina-Duett erwähnt wird, und der runde Bass des Shi Zong, der Raimondos Arie mit Hornsolo bewegend singt, gehören wie der leidenschaftliche Górecki Chamber Choir zu den Positiva der Aufnahme. Giulio Mastrototaro als Isidoro und Ricardo Seguel, der viel aus Ginardos Solo innerhalb der Introduzione macht, und mit kleinem Abstand Lamia Beuque als Contessa runden das Ensemble ab. Dem Applaus nach zu urteilen war das Publikum entzückt. Die Hörer werden es ebenso sein. Rolf Fath

Rossini geht eigentlich immer. Bei den für Mandolinen-Quintett – in teilweise historischen Arrangements von Maciocchi und Marucelli – bearbeiteten acht Ouvertüren, die das nach dem gleichnamigen Mandolinen-Virtuosen benannten Quintetto a Plettro Giuseppe Anedda 2019 aufnahm (Brillant Classics 95904), bin ich nicht so überzeugt davon.  R.F.

Vokales – sehr gemischt

 

Wenn man in den einschlägigen Such- und Verkaufsprogrammen Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana eingibt, findet man eine Fülle von Angeboten, die kaum überschaubar ist. Dazu gehört nun auch eine bei Brilliant Classics erschienene Studio-Aufnahme der Berliner Symphoniker unter Filippo Arlia. Leider kann man die Einspielung vom November 2019 nicht empfehlen, weil sie zu viele Mängel enthält. Der kalabrische Dirigent bevorzugt bei starker dynamischer Differenzierung durchweg ruhige Tempi; dadurch kommen der Osterchor, das Intermezzo sinfonico und auch Turridus Trinklied allzu zäh daher. Zu den soliden Leistungen des Orchesters und des klangausgewogenen Coro Lirico Francesco Cilea Reggio Calabria in der Einstudierung von Bruno Tirotta wollen die sehr unterschiedlichen Solisten nicht recht passen. Da missfällt bei der serbischen Mezzosopranistin Alessandra Di Giorgio als Santuzza ein unschönes Tremolo, das auch durch ihre Höhensicherheit und ein recht ansprechendem Timbre nicht aufgewogen wird. Auch Piero Giuliacci als Turiddu kann seinen kräftigen Tenor nicht ruhig führen, was besonders in den lyrischen Passagen deutlich wird, von den störenden Unsauberkeiten der einleitenden Serenade einmal abgesehen. Dagegen gefallen in den kleineren Partien Domenico Balzani (Alfio) mit markantem, hellem Bariton, die klarstimmige Giorgia Teodoro als Lola und die bewährte Irina Dolzhenko als Lucia (BRILLIANT CLASSICS 96179).

 

In den Opern und Oratorien von Georg Friedrich Händel sind die Duette meist für Kastraten und Sopranistinnen konzipiert; nur wenige gibt es für Tenor und Sopran, die jetzt unter dem Titel Human Love, Love Divine bei harmonia mundi erschienen sind. Die ausgewiesenen Spezialisten für Alte Musik Nura Rial und Juan Sancho singen je vier Solo-Arien und gemeinsam sieben Duette; dabei werden sie begleitet von der wunderbar transparent musizierenden Capella Cracoviensis unter dem souveränen Jan Tomasz Adamus, die die Aufnahme durch Instrumentalstücke aus Ariodante, Alcina und Il pastor fide bereichert. Einiges sei hervorgehoben: So erfüllt der spanische Tenor die Arie With honour let desert be crow‘d aus Judas Maccabäus, mit der dieser seinen im Kampf gefallenen Sohn beklagt, mit trotzig-kraftvollem Duktus, während er mit stupender Koloraturen-Sicherheit die Wut des Orontes über verschmähte Liebe (Alcina) freisetzt. Mit bestechender Klarheit präsentiert die ebenfalls spanische Sopranistin die Jubel-Arie Let the bright Seraphim aus Samson, und mühelos meistert sie die hohe Tessitura in einer Arie aus der Ode for the Birthday of Queen Anne. In Duetten aus weltlichen Kantaten sowie aus Hercules, Ariodante, Esther und mit dem  fröhlichen Happy, happy we aus Acis and Galatea erfreuen die schlanken und durchweg intonationsrein geführten und aufs Feinste zusammen passenden Stimmen der beiden Gesangssolisten – eine CD, die man ausnahmslos gern anhört (deutsche harmonia mundi DHM 19439781 602).

 

Bei Brilliant Classics gibt es bereits 2018 eingespielte Kammermusik von Louis Spohr, dabei die schönen Deutschen Lieder op.103 für Sopran, Klarinette und Klavier. Joanna Klisowska musiziert diese Lieder nach Gedichten verschiedener Autoren wie Geibel oder Hoffmann von Fallersleben gemeinsam mit dem Klarinettisten Rocco Parisi und dem Pianisten Francesco Bissanti. Die polnische Sopranistin gestaltet die Volkslied-artigen Lieder mit abgerundeter Stimmführung in angemessener Schlichtheit. Außerdem enthält die feine, aber kleine (46 Minuten Dauer) CD Stücke für Klarinette und Klavier wie das Andante mit (virtuos servierten) Variationen op.34, original für Klarinette und Streichquartett, sowie Variationen über ein Thema aus der frühen, niemals auf einer Bühne gezeigten Oper Alruna, die Eulenkönigin. Dazu kommt das Potpourri op.80, in dem der versierte Bläser sein Können mit variierten Melodien aus der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts populären Oper Das unterbrochene Opferfest von Peter von Winter nachdrücklich unter Beweis stellt (BRILLIANT CLASSICS 95638).

 

Der englische Komponist Arthur Somervell (1863-1937)  wirkte vor allem als Musikpädagoge am Royal College of Music in London und leistete Pionierarbeit bei der Etablierung von Musik als anerkanntes Schulfach. Als Komponist trug er zu verschiedenen musikalischen Gattungen bei; so schuf er Kantaten und weniger erfolgreich Stücke aus der Instrumentalmusik. Als seine wichtigsten Beiträge zur englischen Musik gelten jedoch fünf Liederzyklen auf Texte englischer Poeten und Schriftsteller. Zwei Zyklen, Maud nach Gedichten von Alfred Tennyson (1809-1892) und  A Shropshire Lad nach A.E. Housman (1859-1936), hat das englische Label SOMM veröffentlicht. Der auf Tennysons Monodrama basierende Liederzyklus Maud besteht aus 13 Liedern und handelt von den Erinnerungen des Erzählers an den Freitod seines durch unglückliche Spekulationen ruinierten Vaters, wodurch seine Heirat mit Maud, der Schwester seines besten Freundes, vereitelt wird. A Shropshire Lad ist eine Sammlung von dreiundsechzig Gedichten, von denen Somervell zehn vertont hat. Der englische Opern- und Konzertsänger Roderick Williams betont den bis auf wenige Ausnahmen lyrischen Grundduktus beider Zyklen, die er mit passend warmem, in allen Lagen abgerundetem Bariton klug zu gestalten weiß. Die Pianistin Susie Allan  gefällt durch ihr partnerschaftliches Musizieren, wobei in der Interpretation der deutlich von Robert Schumann beeinflussten romantischen Lieder eigene Akzente nicht fehlen. Die hörenswerte Einspielung hierzulande kaum bekannter Liedkompositionen wird ergänzt durch zwei weitere Lieder, A Kingdom by the Sea nach einem Gedicht von Edgar Allan Poe und Shepherd’s Cradle Song, ein aus dem Deutschen übersetztes sanftes Wiegenlied (SOMMCD 0615). Gerhard Eckels

 

Auf dem Markt erscheinen immer wieder Mitschnitte von Live-Konzerten bedeutender Orchester: Da gibt es zunächst eine Aufnahme vom Oktober 2018 aus der Berliner Philharmonie mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, dort auch kurz RSB genannt, das gemeinsam mit zwei Gesangssolisten Das Lied von der Erde von Gustav Mahler musiziert. Ein großes Plus der Einspielung ist das RSB, das mit zahlreichen ausgezeichneten Instrumentalsoli nachhaltig Eindruck macht. Dazu kommt die souveräne Leitung seines Chefdirigenten Vladimir Jurowski, der die wunderbare  Vielfarbigkeit der Partitur mehr als nur angemessen herausarbeitet und damit die herb-melancholische Stimmung des außergewöhnlichen Werks in seiner Mischung von Sinfonie und Liedzyklus gut nachvollziehbar zur Geltung bringt. Die beiden Solisten mit ihren jeweils charakteristischen Stimmen werden partnerschaftlich unterstützt. Sicher und intonationsrein gestaltet Robert Dean Smith die drei Tenor-Lieder, ohne den Glanz früherer Zeiten wirklich entwickeln zu können. Auch fehlt es in Von der Jugend  an der erforderlichen Leichtigkeit; im Trinklied vom Jammer der Erde wie auch in Der Trunkene im Frühling klingt die Stimme teilweise zu stumpf und in den Höhen leicht angestrengt. Deutlich positiveren Eindruck hinterlässt Sarah Connolly mit ihrem geschmeidigen, in allen Lagen abgerundeten Mezzosopran und perfekter Diktion. Gerade in ihren Liedern ist „langer Atem“ nötig, über den die britische Sängerin wie selbstverständlich verfügt, ohne die Stimme allzu unruhig werden zu lassen, Im Beiheft fehlt leider in dem abschließenden langen Abschied der Abdruck der letzten beiden Gedicht-Strophen (PENTATONE PIC 5186 760).

 

Zur Zeit der Uraufführung der Gurre-Lieder 1913stand Arnold Schönberg mit seinen Werken an einem Wendepunkt: Nach den schon 1901 komponierten Liedern, die er bis 1911 in üppiger Spätromantik instrumentiert hatte, befand er sich zum Zeitpunkt ihrer Uraufführung längst in seiner atonalen, auf der Zwölftontechnik beruhenden Schaffensweise. Aber hier entwickelte er zur dänischen, tragisch endenden Sage von König Waldemar und dessen Liebe zur schönen Tove durch seine Besetzungswünsche (z.B. 8 Flöten, 10 Hörner, davon 4 Wagnertuben, 7 Posaunen usw.) Klänge in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß. Am 10. März 2020 fand in der Semperoper gerade noch vor dem erstem Lockdown mit den Gurre-Liedern das letzte Konzert vor der langen Corona-Pause statt: Daran waren beteiligt sechs internationale Solisten ausgesuchten Formats, der MDR-Rundfunkchor (Jörn Hinnerk Andresen) und der Staatsopernchor Dresden (Jan Hoffmann) sowie die Staatskapelle Dresden und Mitglieder des Gustav Mahler Jugendorchesters. Christian Thielemann hatte den Riesen-Apparat sicher im Griff und ließ die überaus vielfältigen Klangfarben und die zahlreichen schwelgerischen Passagen gleichsam glühend ausmalen. Auf der Aufnahme hört es sich so an, dass sich die ausgezeichneten Instrumentalisten aller Gruppen, auch mit den vielen herausragenden Soli, dann angenehm zurücknahmen, wenn die Gesangssolisten an der Reihe waren. Mit heldentenoraler Kraft und Höhensicherheit sang Stephen Gould König Waldemar; besonders begeisterte der jeweils glänzend gelungene Wechsel von gleichmäßig ausgesungenen lyrischen Phrasen zu aufbrausender Dramatik, die im 3. Teil in wütender Gottes-Anklage gipfelte. Waldemars Geliebte Tove war bei Camilla Nylund  und ihrem in allen Lagen abgerundeten, leuchtenden Sopran sehr gut aufgehoben. Mit überaus ausdrucksstarker Intensität ihres volltimbrierten Mezzo gestaltete Christa Mayer die Stimme der Waldtaube, die Toves Tod zu verkünden hat. Der klare Charaktertenor von Wolfgang Ablinger-Sperrhacke passte aufs Beste zur Partie des grotesken Klaus-Narr, während Markus Marquardt mit seinem Bassbariton großen Umfangs markant die Angst des Bauern vor den nächtlichen Horden Waldemars verdeutlichte. Die beiden klangscharfen Männerchöre konnten einem schon Angst machen, so sehr trafen sie trotz ihrer Vielschichtigkeit den rauen Ton der Kriegsgesellen. Der 82-jährige Franz Grundheber beschwor im Melodram mit melodiereicher Sprechweise die friedliche Naturstimmung, bis der Schlusschor, von knapp 140 Sängerinnen und Sängern in schöner Ausgewogenheit gesungen, das gewaltige Werk mit hymnisch strahlender, den Sonnenaufgang beschreibender Klangentfaltung beendete. Wie im zu Werk und Ausführenden sehr aufschlussreichen Beiheft mitgeteilt, erhielten die über 300 Mitwirkenden begeisterten Applaus in der Semperoper (Profil/Hänssler PH20052, 2 CD).

 

Schon 2016 hat der Norddeutsche Rundfunk (NDR) während zweier Konzerte in der Hamburger Laeiszhalle Sinfonische Dichtungen von Richard Strauss aufgenommen, die das NDR Elbphilharmonie Orchester, damals noch unter dem Namen NDR Sinfonieorchester, gespielt und ALPHA-CLASSICS jetzt herausgebracht hat. Bei den Interpretationen des jetzigen Ersten Gastdirigenten Krzysztof Urbanski  ist auffällig, wie akzentreich er das Orchester musizieren lässt. Vom berühmten, sich hier besonders schwungvoll in die Höhe schraubenden Hauptthema an lebt Don Juan davon, dass dieser fast ungebremste Elan stark gegensätzlich zu der feinen Lyrik der ruhigen Passagen steht. Auch bei Till Eugenspiegels lustigen Streichen imponiert das überaus differenzierte, auf die einzelnen Szenen sinnvoll zugeschnittene Spiel des Orchesters mit den vielen bestens präsentierten Instrumental-Soli. Das setzt sich auf wohltuende Weise in der großen Dichtung Also sprach Zarathustra fort, wenn beispielsweise in Von der großen Sehnsucht und dem folgenden Abschnitt Von den Freuden und Leidenschaften die Streicher gewaltig schwelgen dürfen. Im nachdenklichen Teil Von der Wissenschaft beruhigt sich die Situation, bis später im längeren Tanzlied pure Lebenslust Raum greift. Die insgesamt gut gelungenen Aufnahmen werden sich hoffentlich trotz des großen Angebots auf dem Markt behaupten können (ALPHA 413).

 

Heute ist Ottorino Respighi (1879-1936) im Wesentlichen noch wegen seiner ausgesprochen farbenreich instrumentierten sinfonischen Bilder aus Rom bekannt. Regelmäßig gibt es neue Aufnahmen der Römischen Trilogie, bestehend aus Fontane di Roma (1916), Pini di Roma (1924) und Feste romane (1928). So hat CHANDOS jetzt die im September 2019 in einem Londoner Studio von der Sinfonia of London unter John Wilson aufgenommenen sinfonischen Dichtungen herausgebracht. Die Einspielung besticht durch starke Kontraste bei der Wiedergabe der jeweils sehr unterschiedlichen Stimmungsbilder aus der italienischen Metropole (CHANDOS CHSA 5261). Gerhard Eckels

 

Von Giovanni Battista Pergolesi (1719-1736) haben sich im Repertoire nur sein Stabat Mater und die Kammeroper La serva padrona halten können. Dabei war er in seiner tragisch kurzen Lebenszeit in allen musikalischen Gattungen erfolgreich, von der Oper über vielfältig Geistliches bis hin zu Instrumentalmusik. Da ist es außerordentlich verdienstvoll, dass das italienische Label NovAntiqua das Dramma sacro in tre atti Li prodigi della divina grazia nella conversione e morte di S. Guglielmo duca d’Aquitania (Bekehrung und Tod des Heiligen Wilhelm, Herzog von Aquitanien) in einer gut gelungenen Aufnahme herausgebracht hat. Das Dramma sacro war zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine recht verbreitete Gattung der Neapolitanischen Musik, das sich vom Oratorium dadurch unterschied, dass es eine szenische Handlung enthielt und manche Nebenfiguren und deren Gemütszustand geradezu komisch gezeichnet waren. In der legendenhaften Geschichte um Herzog Guglielmo treten neben ihm Bernardo von Clairvaux, ein Teufel und ein Engel in jeweils verschiedenen Erscheinungen sowie der Guglielmo ergebene Capitano Cuòsemo, eine Art Buffo-Figur, auf. Der 1.Akt endet mit einem Quartett, in dem zur Zufriedenheit Bernardos und des Engels und zum Schrecken des Teufels die Bekehrung des Herzogs erfolgt. Im 2.Akt „kämpfen“ Teufel und Engel sowie der Eremit Arsenio weiter um Guglielmos Seelenheil. Im 3.Akt geht es im Kampf zwischen Engel und Teufel erneut hoch her, bis schließlich die Seele des endgültig bekehrten Guglielmo in den Himmel aufsteigt.

Das italienische, stilsicher aufspielende Instrumentalensemble Alraune wird souverän von Mario Sollazzo geleitet, der auch noch die Partie des Cuòsemo übernommen hat, dessen komische Elemente er mit prägnantem Bariton genüsslich auskostet. Das übrige hochkarätige Sängerensemble pflegt eine hohe Klangkultur, idem alle ihre Partien durchweg klar- und schlankstimmig präsentieren, ohne dass es irgendwann blutleer klingt. In der Titelrolle des bekehrten Guglielmo überzeugt Monica Piccinini mit sauber geführtem Sopran, dessen Ausdruckstiefe beeindruckt. Besonders deutlich wird dies in der großen Da-Capo-Arie im 3.Akt, wenn Guglielmo verzweifelt den Verlust des Augenlichts beklagt. Die Sopranistin Caterina di Tonno singt den Engel mit flexibler, schön aufblühender Stimme. Als Gegenspieler des Engels tritt der Teufel auf, der Mauro Borgioni anvertraut ist. Sein sehr beweglicher, vielfarbiger Bariton hat großen Umfang, der gemeinsam mit dem anderen Bariton der Aufnahme (Cuòsemo) in einem witzigen Duett die nicht wirkliche Alternative des Todes auf dem Schlachtfeld oder durch Verhungern aufzeigt. Mit schön ausgesungenen Melodiebögen gefallen die Mezzosopranistinnen Carla Nahadi Babelegoto als Bernardo und Federica Carnevale als Arsenio; in der kleinen Rolle des Alberto ergänzt Arianna Manganello das Ensemble. Insgesamt lohnt es sich, dem selten zu hörenden geistlichen Drama durch diese ausgezeichnete Aufnahme näher zu kommen (NOVANTIQUA NA39, 3 CD).

 

Wer kennt schon Christian Friedrich Ruppe, den niederländischen Musiker und Komponisten deutscher Herkunft, der von 1753 bis 1826 bis auf wenige Unterbrechungen in Leiden lebte? Er war Organist an der dortigen lutherischen Kirche sowie ab 1790 als Kapellmeister, Musikdirektor, Chorleiter und Musiklehrer an der Leidener Universität tätig. Seit 1808 hielt er Vorlesungen über Musiktheorie und wurde 1815 zum Dozenten für Tonkunst ernannt. Zu seinem kompositorischen Schaffen gehören Kantaten, Lieder, Kammermusik und Klavierstücke; aus seiner Dozententätigkeit resultierte eine zweibändige musiktheoretische Abhandlung über die Musik seiner Zeit. Brilliant Classics hat nun eine bereits 1995 erfolgte Einspielung von Ruppes Weihnachts- und Osterkantate herausgebracht. Das klangausgewogene Ensemble Bouzignac, Instrumentalisten der Musica ad Rhenum sowie ein tüchtiges Sänger-Quartett mit Francine van der Heyden, Karin van der Poel, Otto Bouwknegt und Mitchell Sandler geben unter der Leitung von Jed Wentz die etwas an die Oratorien Joseph Haydns erinnernden Kantaten in niederländischer Sprache wieder (BRILLIANT CLASSICS 96108).

 

John Milford Rutter (geb. 1945) gilt als einer der bedeutendsten und populärsten Komponisten von Chor- und Kirchenmusik. Bei NAXOS ist eine im Herbst 2019 eingespielte Aufnahme erschienen, auf der von Luc Vertommen arrangierte Anthems, Hymns and Gloria for Brass Band von der Black Dyke Band unter dem Blasmusik-Spezialisten Nicholas Childs zu hören sind. Im knapp 20-minütigen Gloria begleitet die Band mit ihrem satten Bläserklang den Sheffield Philharmonic Chorus, dirigiert vom Organisten und Chorleiter Darius Battiwalla. Wer gern Kirchenchoräle und andere geistliche Titel von Blechbläsern hört, liegt bei dieser CD richtig (NAXOS 8.574130). Gerhard Eckels

 

 

Dank Piotr Beczala wissen wir endlich, was Pieśni sind. Auch Christoph Prégardien hat sich zum Moniuszko-Jahr 2019 im Lutoslawski-Studio des Polnischen Rundfunks in Warschau im vorigen August Moniuszkos Pieśni angenommen. Darüber steht Chansons, denn Prégardien verbindet die fünf Lieder Moniuszkos mit fünf Gesängen des 30 Jahre jüngeren Henri Duparc. Die polnisch-französische Verbindung macht in vielfacher Hinsicht Sinn. Vor allem aber, weil Moniuszko bei seiner Reise 1862 nach Paris durch Vermittlung Rossinis eine erste, 37 der rund 300 Lieder Moniuszkos umfassende französische Ausgabe seiner Lieder erwirkte. Prégardiens Auswahl beinhaltet u.a. Les larmes, eines von Moniuszkos frühesten Liedern von 1840, zwei Beispiele aus dem Mickiewicz-Zyklus von 1857 sowie ein Lied, das Moniuszko seinem Vater Czeslaw widmete. Prégardien ist ein vorzüglicher Liedsänger, dem ich einen meiner schönsten Liederabende in Paris verdanke. Die Lieder stellen keine unüberwindbaren Herausforderungen. Prégardien lässt bald vergessen, dass sein Tenor an Frische und Beweglichkeit verloren hat, denn er singt mit subtiler Textdurchdringung und verfügt über hinreichend Flexibilität für den Lyra-Spieler. Ungleich weniger Lieder, nur gut ein Dutzend, hat Duparc hinterlassen, von denen Prégardien vor allem das Chanson triste, das aufbrausende Manoir de Rosemonde, das Beaudelaire-Chanson L’invitation au voyage und das feinsinnig leidenschaftliche Phidylé, in dem Christoph Schnackertz seine Kunst der Begleitung ausspielen kann, mit subtiler Hingabe gestaltet. Dazu schließlich noch Ignacy Paderewskis Douze mélodies sur des poésies de Catulle Mendès von 1903, durch die das 80minütige Programm, das in einer würdigen Ausgabe (NIFCCD 070, mit poln., engl., franz Beiheft) erschien, eine innere Geschlossenheit erfährt.

 

Moniuszko, der „Tröster der Nation“, schreibt stets so geschmeidig, schlicht, doch nicht anspruchslos, dass Amateure wie Profis ihre Freude an den Gesängen haben können. Das gilt ebenso für seine rund 90 geistlichen Werke, Messen, Messteile, Hymnen, Psalmen und Kantanten, die der fromme Moniuszkos, der jeden Morgen die Frühmesse besuchte, im Lauf seines Lebens erstellte. Im Zentrum stehen sieben Messen, vier davon in polnischer Sprache. Pawel Lukaszewski stellt in seiner Aufnahme mit dem Musica Sacra Warsaw-Praga Cathedral Choir die Messe e-Moll und die Messe a-Moll vor, erstere reicher und vielfältiger in ihrer Gestaltung der liturgischen Teile, insbesondere dem Agnus und Benedicto, die zweite, ebenfalls nur rund 20 Minuten lang, bezaubernd in ihrer volkstümlichen Schlichtheit (DUX 1648).

 

Großartig dagegen die jeder Hinsicht überquellende und reich dimensionierte Messe solenelle Nr. 2 in d-Moll, mit der sich der Haydn-Bewunderer Luigi Cherubini um eine Anstellung beim Fürsten Esterházy bewarb. Cherubini trumpft mit seiner in Paris verfeinerten Instrumentationskunst und brillanten harmonisch und kontrapunktischen Beherrschung auf. Die Messe ist ebenso feierlich wie pompös und ihre Vokalparts verhehlen trotz aller demütigen Einfachheit nicht ihren virtuosen Hintergrund. Frieder Bernius leitete beim Schleswig-Holstein Musik Festival 2001 eine Aufführung mit dem Kammerchor Stuttgart und der Klassischen Philharmonie Stuttgart, die viel Bewunderung fand und mit namhaften Sängern, darunter Ruth Ziesak, Christa Mayer, Christoph Genz und Thomas E. Bauer, auftrumpfen konnte (Carus 83.512).

 

In rund 20, unterschiedlich umfangreichen Opuszahlen hat Dmitri Schostakowitsch sein zwischen 1922 und 1975 entstandenes Liedschaffen zusammengefasst. Die Auswahl von Margarita Gritskova reicht vom ersten Lied op. 4 bis zum vorletzten Beispiel, der Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarroti op. 145.  Im Studio des Bayerischen Rundfunk stand im Juli 2019 eine eminente Bühnenpersönlichkeit vor den Mikrofonen. Die aus St. Petersburg stammende, an der Wiener Staatsoper engagierte Gritskova war schon in Bad Wildbad u.a. als Rossinis Sigismondo aufgefallen. Auch bei dieser stimmigen Auswahl fasziniert sie durch  eminente Bühnenpräsenz, hohe Musikalität und einen runden, vollen, dunkelglühenden Mezzosopran, der allen Liedern mehr als gerecht wird, der ironischen Fabel von der Libelle und der Ameise in op. 4, den eindringlichen Lermontov-Romanzen, den sprunghaft, in Farben und Stimmungen changierenden Gedichten nach Marina Zwetajewa, mal mütterlich schwer und dunkel, dann wieder verführerisch und feurig, wie in den Spanischen Liedern op. 100, melancholisch in den jüdischen Liedern op. 79. Rhythmisch geschärft in den Griechischen Liedern. Gritskova spielt und gestaltet, ist nicht zu bremsen. Maria Prinz ist ihr dabei die ideale Partnerin. Vor allem nutzt Gritskova Schostakowitsch Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu schreiben, zu intensiver gestalterischer Auseinandersetzung, was in den Satiren op. 109 und op. 123 Vorwort zu meinen gesammelten Werken und eine kurze Bemerkung zu diesem Vorwort op. 123 mit dem selbstironischen Text von Schostakowitsch zu hintergründigen, doppelbödigen Szene führt Ausgezeichnet (Naxos 8.574031). Roilf Fath

 

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(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) 

Nie sollst du mich befragen …

 

Zum ersten Mal seit der des Parsifal gab es in Bayreuth wieder eine Uraufführung, und zwar die von Klaus Langs der verschwundene hochzeiter, sich nicht nur durch die Kleinschreibung des Titels, sondern auch durch die minimalistische Musik auszeichnend. Parallel fand mit dem zweiten „Bayreuther Diskurs“ auch ein Symposion zum Thema „Verbote in der Kunst – Positionen zur Freiheit der Künste von Wagner bis heute“ statt. Allerdings ist der Untertitel nicht ganz zutreffend, da es in einem der Beiträge  auch um die Musik um 1600 ging.

Im Vorwort verweisen die Herausgeber Katharina Wagner, Holger von Berg und Marie Luise Maintz darauf, dass jederzeit die Grundrechte in Gefahr sein können, dass das Thema politische Korrektheit zunehmend an Bedeutung gewinnt und Frageverbote wie im Lohengrin durchaus nicht der Vergangenheit angehören.

An einige der Referate schlossen sich Diskussionen an, so auch an Thea Dorns und Feridun Zaimoglus, die über die me-too-Bewegung, Reaktionen auf den Echo-Preis und andere Herausforderungen für die Gesellschaft berichten, die Meinung vertreten, alle echte Kunst beginne mit Provokation als Form der Verweigerung, die Provokation der Liberalen jedoch für „eine Eselei“ halten. Von Wagner erfährt der Leser in diesem Zusammenhang kaum etwas.

Auch in der Diskussion geht es zunächst nicht um Wagner, sondern um Verdi mit der Erinnerung an die Proteststürme gegen Neuenfels‘ Inszenierung von Aida in Frankfurt, von der behauptet wird, sie habe nur das gezeigt, was im Stück steht.

Eugen Gomringer und Lucian Hölscher nahmen zum Thema, wie politisch korrekt Kunst sein müsse, Stellung, gehen weit zurück mit den Beispielen für heikle Situationen, die Folgen davon mit den Fällen Jenniger, Heitmann und Walser und fragen sich, ob Künstler sich mehr erlauben dürfen als das gemeine Volk. Einzelne Begriffe werden untersucht wie „Zigeuner“, zunehmend verfemt, und „Schwule“, zunehmend akzeptiert. Gomringer ist selbst das Opfer politischer Korrektheit, indem sein unschuldiges, in spanischer Sprache verfasstes Gedicht, das Alleen, Blumen und Frauen in eine Reihe stellt, von vorwiegend Schülerinnen mit Migrationshintergrund beanstandet und von der Mauer ihrer Schule entfernt wurde. Der Beitrag ist erfrischend sowohl durch die Meinung Dorns, wir würden uns durch Überempfindlichkeit selbst „infantilisieren“, als durch die Einsicht, dass in vielen Diskussionen ein hysterischer und selbstgefälliger Ton herrsche. Auch das „Heideröslein“ und Wagners Frauenbild erst recht müssten verboten bzw. angegriffen werden, wenn man so strenge wie ahistorische Maßstäbe anlege.

Kunst und Globalisierung hatten sich Gerhard Baum und Charlotte Seitner zum Thema gewählt, und es handelt von der Spannung zwischen künstlerischer Freiheit und Persönlichkeitsrechten, vom Bildungsauftrag von Rundfunk und Fernsehen und vom Quotenzwang, von der Digitalisierung und ihrem Einfluss auf die Kunst. Weitgespannt ist die Diskussion, in der es um Gendergerechtigkeit, passiven und proaktiven Freiheitsbegriff, um die Förderung der Freien Szene und die „Algorithmisierung unseres Menschenbilds“ geht.

Konkreter und wagnerbezogener verhält man sich im Beitrag von Detlef Brandenburg über das Frageverbot von Lohengrin. Der Verfasser sieht in ihm „eine ästhetische Revolution“, um den Versuch einer „Erneuerung des politischen Gemeinwesens durch Kunst und Liebe“, so wie er den Komponisten im Spannungsfeld zwischen Hegel und Feuerbach, zwischen Bakunin und den Romantikern“ wähnt.

Mit der Nachkriegsgeschichte wird hart ins Gericht gegangen, sie wird als Flucht der Deutschen in die unpolitische Kunst gesehen. Erst Chereau, Friedrich und Neuenfels hätten diese Haltung überwunden. Interessant ist, dass der Autor auch auf Ringinszenierungen wie die von  Flimm, Harms und rosalie eingeht.

Bernd Feuchtner begibt sich in seinem Beitrag über „Verbotene Oper“ zunächst sehr kämpferisch auf einen Waffengang mit Pfitzner und dessen Naziverstrickung, wendet sich dann einer Fülle von Fällen verbotener Oper zu, die so kurz sind, dass der Opernfreund nichts Neues erfährt, der Unkundige über zu vieles im Unklaren gelassen wird. Es werden der Fall Furtwängler (um Mathis der Maler), Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk, die Römische Kirche und die Kastraten, Dessaus Lukullus und Eislers Johann Faustus, The Death of Klinghoffer und anderes gestreift, auch übertrieben, wenn behauptet wird, Floyds Susannah an der DOB hätte nur Verrisse provoziert. Es wird nicht ganz klar, ob es dem Verfasser mehr um die Avantgarde oder die Schönheit geht.

Ute Frevert kehrt zu Lohengrin zurück, dem sie das Brechen mit drei Prinzipien zur Last legt: Gleichheit, Transparenz und Gegenseitigkeit in seiner Beziehung zu Elsa.

Hans Rudolf Vagelt befasst sich mit dem Wagnerkult im Nationalsozialismus, den damals herrschenden Frage- und Denkverboten, wobei die Forschungsstätte unter Otto Strobel eine wichtige Rolle spielt. Die „Inkubationszeit des Nationalsozialismus“ sei diejenige gewesen, in der in Deutschland Wagner landauf und landab gespielt wurde, wobei etwas vergessen wird, dass die Massen, die Hitler zujubelten, kaum die typischen Besucher Bayreuths darstellten. In der darauf folgenden Diskussion widmete man sich der Frage nach dem Antiamerikanismus in der Bundesrepublik, stehen sich die Aussagen von Ute Frevert, Antisemitismus finde sich auch in Wagners Musik, nicht nur in seinen Schriften, statt, und Hans Rudolf Vagets Hinweis, auch die Juden seien fasziniert von Wagners Musik, gegenüber. Als Ausweg aus dem Dilemma wird die Hinwendung zur Pariser Wagnertradition gesehen, womit sicherlich nicht der Skandal um den Tannhäuser gemeint ist. Am nachvollziehbarsten ist wohl der Ratschlag, man solle Wagner im Kontext seiner Zeit sehen. Einen Streitpunkt bildet die Frage danach, ob Deutschland seine imperialistischen Überlegenheitsphantasien aus der Bedeutung seiner Musik abgeleitet habe.

Relativ knapp ist der Beitrag über „Verbote“ in der Musik um 1600“, in dem Klaus Lang, Komponist der oben erwähnten Oper, sich über Musik als „hörbar gemachte Zeit“ äußert, anhand eines Trillers von Quantz und eines solchen von Frescobaldi zu seinem Thema Stellung nimmt, über Dissonanz und Konsonanz im Wandel des Geschmacks, aber nicht nur diesen, über die Tatsache, dass mit der Zeit Regeln zum „Natürlichen“ werden,referiert.

Krass wird es mit „Das Verbotene suchen“, wo über die Versuche moderner Komponisten, die Schmerzgrenze zu erkunden, berichtet wird. Das kann über trashige Aufführungen, Genre-Verwirrung, „Dunkelkonzerte“, übermäßige Länge der Werke, das Überschreiten der Schmerzgrenze geschehen. Zu all dem gehört die Uraufführung 2018 nicht, denn „der verschwundene hochzeiter“ wie das Gespräch über ihn respektieren die Grenzen, die den Sinnesorganen der Menschen gesetzt sind (190 Seiten, Bärenreiter 2019;  ISBN 978 3 7618 7207 9). Ingrid Wanja

 

Doppelte Rarität

 

Im Zeitalter der Streaming-Dienste beschweren sich die Plattenfirmen über rückläufige Verkaufszahlen ihrer CD. Tun sie aber wirklich alles, um ihre Produkte ansprechend zu machen? Da die meisten Künstler die Aufnahmen inzwischen aus eigener Tasche finanzieren, triumphiert in der Gestaltung die Selbstwerbung, und die Musiker lächeln inzwischen meistens in unmöglichen Klamotten und Posen auf den Covers dem Käufer entgegen, auch dort wo die Physis der Performer – seien wir ehrlich – eher ein schwarz-weißes Photo im Booklet empfohlen hätte. Dort findet man neben reichlichem und unnötigem Glamour-Bildmaterial dünne Texte, denen gegenüber ein Wikipedia-Artikel die Seriosität gelehrter akademischer Abhandlungen ausstrahlt (die Ausnahmen – man denke an CPO – bestätigen die Regel.).

Kommt denn niemand auf den Gedanken, dass kein Musikliebhaber für solch billige Produktionen 20 € und mehr ausgeben möchte? Der Leser wird mir ausnahmsweise nachsehen, wenn ich in einer Rezension zuerst auf die äußere Erscheinung einer CD eingehe. Aber was hier angezeigt wird, ist genau das, was ein Sammler erwerben möchte. Die zu besprechende CD kommt in einem Schuber, der neben der inzwischen üblichen Karton-Hülle für die Platte ein 100seitiges fest gebundenes Büchlein mit klug ausgewählten Farbbildern (etwa der Originalpartituren) enthält. Hinzu kommen nicht weniger als acht kurze, aber inhaltsreiche Beiträge von Spezialisten, die Dusseks Leben und Oeuvre (und in einem Falle Dusseks Hor d’oeuvre: Ivan Day zur Gastronomie der Zeit, mit Rezepten, S. 58-63) erläutern. Sogar eine – leider lückenhafte – Diskographie ist vorhanden (S. 82-84).

Das alles rechtefertigt schon für sich den Kauf. Der Musikliebhaber kommt aber genauso wie der Ästhet auf seine Kosten. Vorgestellt wird eine Messe solemnelle à quatre voix et grand orchestre von Jan Ladislas Dussek (1760-1812), die eine Rarität im doppelten Sinne ist. Richard Egarr hat zum einen ein Werk ausgegraben, das von einem nach wie vor unterschätzten Tonsetzer stammt, obwohl er danke seiner vielen Sonaten für Klavier zu den einflussreichsten und meistgespielten Komponisten der Epoche um 1800 gehörte. Zudem ist dieses Werk im Schaffen Dusseks einzigartig, weil es sich um eine großangelegte, über 60 Minuten lange Messe für Nikolaus II. von Esterházy (1765-1833) handelt, jenen musischen und prachtliebenden Fürsten, dessen verschwenderische Art sein Haus in den Ruin trieb. Dussek, der 1799 hochverschuldet sein Gastland England hatte fluchtartig verlassen müssen, hätte in ihm den richtigen Kumpanen gefunden, falls er sich mit dieser Messe um eine Anstellung in Esterházy bewerben wollte, worüber allerdings nichts bekannt ist. Beim Hören kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Der Liebling von Marie Antoinette und nach 1789 der Klavier-Favorit hochstehender adliger Häuser in England legte mit dieser Komposition, die offenbar vor 1811 entstand, ein monumentales Stück Kirchenmusik im besten mitteleuropäischen Stil vor. Der Rezensent gibt zu, dass er zuerst Zweifel an der Autorschaft hegte. Schließlich waren im 19. Jahrhundert auch andere Messen im Umlauf, die berühmten Komponisten, die in Frankreich tätig waren, zugeschrieben wurden, etwa Boieldieu und Méhul, die indes nichts damit zu tun hatten. Noch 2107 ging der Palazzetto Bru Zane den damaligen schlauen Kopisten auf den Leim und ließ eine „Krönungsmesse“ von Franz Xaver Kleinheinz (1765-1832) unter Méhuls Namen aufführen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Dusseks Bruder Benedikt (1765 – nach 1816) der Autor sein könnte. Er war ebenfalls Musiker, arbeitete in Venedig und Ljubljana tätig und schrieb u.a. auch Messen. Von ihm würde man eher ein solches Stück erwarten Das Vorhandensein einer Handschrift in Florenz, die (so die Forschung) ein Autograph ist und die Angabe „par Jean Louis Dussek, artiste attaché à Son Altesse Sérénissime le Prince de Bénévent“ (d.h. Talleyrand) trägt, muss aber jegliche Zweifel verstummen lassen. Jan Ladislas Dussek, wie sein Bruder Sohn und Neffe von Organisten und Musikern aus Mittelböhmen, wurde in seiner Heimat und später in Prag ausgebildet und brachte somit das Rüstzeug für ein solches Werk mit. Die Virtuosen der damaligen Zeit wurden nicht selten streng und konservativ ausgebildet. Beethoven selbst, Schüler von Albrechtsberger, ist hierfür ein Bespiel unter vielen anderen. Der Berliner Daniel Steibelt (1765-1823), der später zu einem berüchtigt eitlen Tastenlöwen avancierte, soll Schüler von Johann Philipp Kirnberger (1721-1783) gewesen sein und war somit nur einen Handschlag von Bach entfernt, dessen Schüler Kirnberger vielleicht war. Dusseks Messe zeichnet sich durch die großzügige Anlage und den strengen Stil aus, der aber durch im besten Sinne opernhafte Momente aufgelockert wird (etwa in einem ergreifenden Duett für Sopran und Tenor). Der Chor wird effektvoll eingesetzt, die Instrumentierung ist bewusst feierlich gehalten mit breitem Einsatz von Hörnern und Trompeten (die in der Aufnahme vielleicht zu stark in den Vordergrund geschoben wurden). Das Werk kann neben den großen Messen großer und kleiner Tonsetzer der Zeit (beide Haydns, Beethovens C-Dur-Messe, Hummel, Cherubini, Ryba, Lickl, Kleinheinz) bestehen, und diese edle Veröffentlichung kann gerade all denjenigen empfohlen werden, für die eine CD kein getarnter Download ist, sondern ein Kulturprodukt. Michele C. Ferrari

J.L. Dussek, Messe solemnelle. Stefanie True (Sopran), Helen Charlston (Mezzosopran), Gwilym Bowen (Tenor), Morgan Pearse (Bariton), Chor und Orchester der Academy of ancient Musik, Richard Egarr, CD AAM (Academy of Ancient Musik) 011

Und ganz zum Schluss …

 

Pech hat Ludwig van Beethoven mit dem Jahr seines 250. Geburtstags, denn aus vielen Vorhaben  zu seinen Ehren wurde dank Corona rein gar nichts, einige immerhin konnten wenigstens in veränderter, sich auf das Geschehen einstellende Produktionen das Licht der Welt erblicken, so wie die Aufführung der zweiten Fassung des Fidelio von 1806, der stilistisch zwischen der Leonore von 1804 und der endgültigen, dritten Fassung von 1814 steht. Von seinem Vorgänger unterscheidet sich das Werk durch die Reduzierung auf zwei Akte, von seinem Nachfolger unter anderem durch das Fehlen des schnellen Teils („Ein Engel, Leonore“) in der Arie des Florestan, eine weitere Arie des Pizarro mit Chorbegleitung oder ein Duett Marzelline-Fidelio: „Um in der Ehe froh zu leben“.

Nach einer kurzen Führung durch den Aufführungsort Theater an der Wien wird dem Zuschauer verdeutlicht, dass es sich nicht um eine Theateraufführung, sondern um eine Filmaufnahme handelt, indem viele Kameras und die Arbeit an ihnen gezeigt wird, erst danach darf die Leonore Nr. 3 erklingen, und Manfred Honeck führt die Wiener Symphoniker zu leidenschaftlichem, überaus engagiertem Spiel. Zu diesem scheint die fast abstrakte Szene gar nicht zu passen, ist aber optisch das wirklich Sensationelle der Aufnahme, ein Kunstwerk von Barkow Leidinger, eine so imposante wie schwerelos erscheinende, sich vielfach windende und zu einer Ellipse führende Treppe, auf der allerdings die Sänger wie verloren, ja bedeutungslos erscheinen. Zudem sind sie von Judith Holste in unscheinbare graue Klamotten gewandet, sogar Marzelline muss in grauen Schlabberhosen versuchen, Fidelio zu umgarnen. Nur Don Fernando ist ein Anzug in zartem Grün vergönnt, wohl weil er ein Hoffnungsträger ist. Christoph Waltz führt Regie und verdammt Solisten wie Chor dazu, bis zum Ende miesepetrig dreinzuschauen, von Befreiungsoper keine Spur. Es gibt einzelne feine Nuancen in der Personenführung, an denen man aufmerkt und sich mehr davon erhofft, jedoch gleich wieder durch Einfallslosigkeit enttäuscht wird, wenn Ausdruckslosigkeit verordnet zu sein scheint. Und nicht zu den besten, wenn auch spektakulärsten Einfällen gehört sicherlich, dass zu Beginn Florestan bzw. sein Stunt die gewaltige Treppe hinunter kullert, um an ihrem Boden, d.h. seinem Gefängnis, zu landen. So etwas muss man vorher lange trainiert haben, wenn man nicht Schaden nehmen will.

Mit hellem Sopran nicht ohne Schärfen singt Nicole Chevalier die Leonore, gefällt am meisten in den lyrischen Teilen, so in einem innigen Beitrag zu „Mir ist so wunderbar“, aber mit Problemen in „Ich folg dem innern Triebe“, wo die Stimme flach zu werden scheint. Insgesamt wünscht man sich für die Partie mehr Rundung und Wärme. Der Florestan von Eric Cutler profitiert davon, dass in dieser Fassung vom Engel Leonore nicht die Rede ist, die Stimme ist wenig geschmeidig, das Timbre nicht ansprechend, und im Dialog ist er kaum verständlich. Viele große Rollen singt seit einiger Zeit Christof Fischesser und bewährt sich auch als Rocco, der in dieser Produktion Leonore entwaffnet, was ihn nicht sympathisch macht. Ein junger Pizarro ist Gabor Bretz, der nicht brüllt, sondern singt und das textverständlich, weniger auch vokales Grimassieren beim „Er sterbe“ würde ihn noch glaubhafter erscheinen lassen. Ein feines Soubrettenstimmchen hat Mélissa Petit für die Marzelline, silberhell und mit leichtgängigen Koloraturen, die aus der ersten Fassung verblieben sind. Ein kerniger Spieltenor ist Benjamin Hulet als Jaquino, etwas verquollen hört sich die Stimme von Károly Szemerédy  für den Don Fernando an. Stellvertretend für den Florestan kugelt Gerhard Salem die Treppen hinunter. Eine Offenbarung ist weder die Regie des Oskarpreisträgers noch sind es die Leistungen der Sänger, eher schon die vom Arnold Schoenberg Chor und vom Orchester. (Unitel 803208). Ingrid Wanja

Erstmals

 

Die Veröffentlichung von Giacomo Meyerbeers Romilda e Costanza bei NAXOS schließt eine Lücke im Werkkatalog des Komponisten. Das im Jahre 1817 in Padua uraufgeführte Melodramma semisierio war die erste italienische Oper des noch unbekannten 26jährigen Komponisten. Sie spielt im Mittelalter in der Provence und handelt von zwei Töchtern – des Herzogs der Bretagne und des Grafen von Cisteran – sowie den Zwillingsbrüdern Teobaldo und Retello. Es gibt  kriegerische Konflikte und private Eifersuchtsszenen, denn Teobaldo, mit Costanza verlobt, hat sich in Romilda verliebt. Am Ende nimmt er sie zur Frau, während sich Costanza Retello zuwendet.

Die Live-Aufnahme stammt vom Festival ROSSINI in WILDBAD 2019 und folgt mehreren NAXOS-Ausgaben von seltenen Rossini-Opern – ein steter Beweis für das innovative Wirken des Unternehmens. Aufgeführt wurde die Originalversion, welche nun als World Premiere Recording auf drei CDs vorliegt (8.660495-97).

Luciano Acocella steht an Pult des Passionart Orchestra und leitet eine Besetzung von recht unterschiedlichem Niveau. Das betrifft vor allem die beiden Sängerinnen der Titelrollen. Die Sopranistin Luiza Fatyol als Costanza führt sich mit der lieblichen CavatinaGiungesti, o caro istante“ ein, lässt aber eine herbe Stimme von oft heulendem Klang hören. Ihre Aria im 2. Akt, „Ah! più non tornerà“, ist bequemer notiert in der mittleren Lage und liegt ihr deutlich besser. Die Cabaletta, „E vittima  d’amore“, offenbar dann freilich wieder grelle Spitzentöne. Auch die Altistin Chiara Brunello als Romilda beginnt mit einer Cavatina („ Tu sai qual’oggetto“) und nimmt vom ersten Ton mit ihrem dunklen, samtigen Timbre in der Mittellage für sich ein. Lediglich in der Höhe ist der Ton nicht so angenehm. Mit Pierotto, einem Jugendfreund Teobaldos, hat sie ein ausgedehntes Duett von rossinianischer Munterkeit, in welchem sich ihre Stimme mit der des Baritons  Giulio Mastrototaro perfekt verblendet. Er hat zu Beginn des 2. Aktes in der Aria „Se nel mondo“ auch Gelegenheit, solistisch mit eloquentem Vortrag zu imponieren. Natürlich haben die beiden Titelheldinnen auch ein großes Duett, welches im 2. Akt platziert ist („L’infedel punir dovrei“) und beider virtuoses Vermögen fordert. Die Szene wird zu Recht vom Publikum mit reichem Beifall bedacht. Mit der Gran scena  ed aria, „Ombre ferali della morte/Volate a sua defesa“, fällt Romilda das letzte Solo der Oper zu, welches die Interpretin mit Bravour absolviert.

Teobaldo ist der kongolesische Tenor Patrick Kabongo, der mit der Cavatina „Oh padre  mio!/Ombre amata“ auftritt. Die Stimme ist weich und schwärmerisch, bewältigt die exponierte Tessitura und das Zierwerk in der Cabaletta „Della gloria il vivo ardore“ souverän. Unbedingt erwähnenswert ist der Bariton Emmanuel Franco, der als Kastellan Albertone in der Aria „Chi sta al mondo“ mit prachtvoller, flexibler Stimme begeistert.

Die deutlich von Rossini inspirierte Musik leitet Acocella mit Verve und Esprit, was sich schon in der zweiteiligen Sinfonia ankündigt, welche er mit wirkungsvoller acellerando-Steigerung ausbreitet. Das ausgedehnte Finale primo weiß er effektvoll zu entwickeln und sorgt auch in der Scena e finaletto für einen turbulenten Wirbel. Bernd Hoppe

Lortzings „Weihnachtsabend“ & „Andreas Hofer“

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Zum Fest der eher kindlichen Liebe und Freude fällt dem journalistischen Opernfreund beim ersten Nachdenken nicht viel anderes ein als die übliche Referenz zu Hänsel und Gretel Humperdincks (was sich gar nicht für Kinder eignet und keine Kinderoper ist). Weihnachten gibt’s vielleicht noch in Massenets Werther oder in Menottis Ahmal and the nightly visitors, vielleicht noch Wagners Tannenbaum, dann wird es schon nachdenklicher und schwieriger.

Albert Lortzing und sein Librettist Philipp Reger, Daguerrographie 1848/H. Chr. Worbs/ Lortzing-Gesellschaft

Vergessen ist Albert Lortzings bezaubernde Kurzoper Der Weihnachtsabend, die es m. W. bislang in moderner Zeit nur in Freiberg/Döbeln 2001 (gekoppelt mit Der Pole und sein Kind) sowie 2014  in Annaberg-Buchholz am dortigen Eduard von Winterstein-Theater (hier nun mit Andreas Hofer), beide in der verdienstvollen Intendanz Ingolf Huhns, gegeben hat ( operalounge.de).

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Damals (2014) schrieb unser Korrespondent Rolf Fath zur Aufführung: Genauso könnte es gewesen sein, als Ludwig Richter seine biedermeierlichen Familienalben entwarf oder eben Albert Lortzing in seiner Detmolder Zeit mit seiner stetig wachsenden Familie Weihnachten feierte. In dem „launige Szenen aus dem Familienleben und Vaudeville“ bezeichneten Singspiel in einem Akt Der Weihnachtsabend stellte Lortzing, laut Jürgen Lodemann, „in jeder Weise seine persönliche Umgebung auf die Bühne, seine Detmolder Welt, ja, seine eigene Familie, und das sehr konkret.

"Der Weihnachtsabend" von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

„Der Weihnachtsabend“ von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

Es entsteht, so muss man es heute werten, ein Dokument, eines, das in die Geschichte der deutschen Familie und ihrer Rituale gehört“. Mit Der Weihnachtsabend traf Ingolf Huhn eine ausgezeichnete Wahl für sein Eduard von Winterstein-Theater, entspricht doch Weihnachten, so wie wir es uns erträumen, nirgendwo so genau unseren Vorstellungen wie im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz, wo der Weihnachtsmarkt auf dem historischen Markt, der Blick auf die St.Anna-Kirche und die von Schwibbögen illuminierten Fenster der Altstadt eine ganz besondere und einzigartige Weihnachtsatmosphäre schaffen (14. Dezember). In Tilo Staudtes lindgrünem Raum mit überdimensionierter Tür und mannshohem Fenster, an dessen Brüstung das sehnsüchtig seinen Geliebten Gottlieb herbeiwünschende Suschen kaum hinaufreicht, wirken die Figuren wie in eine Puppenstube gestellt. Niedliche Gestalten aus einer Zeit, die so harmlos nicht war, wie sie uns heute scheinen mag. Es handelt sich um die Figuren und Standardsituationen der Komödien und Lustspiele der Lortzing-Zeit, darunter der ganz in seinen Sammlungen ausgestopfter Tiere aufgehende Privatgelehrte Käferling, seine die allgemeine Teuerung beklagende Frau und ihre Besucher, der gehbehinderte Kaserneninspektor Sommer, der sich Hoffnungen auf Suschen macht, und der gütige Vetter Michel, der Suschen beisteht und Käferling und Sommer übertölpelt , indem er Gottlieb kurzerhand in einem Korb als Weihnachtsgeschenk unter den Christbaum schiebt.

Andreas Hofer/Postkarte/OBA

Andreas Hofer/Postkarte/OBA

Das ist unaufwendig liebreizend, völlig banal, zeigt aber Lortzings eminentes Gespür im Umgang mit solch typischen Bühnensituationen und seine feine Charakterisierung der Figuren, etwa des sich in Sprichwörtern ergehenden Sommer („Es sind nicht alle Engel, die weiße Gewänder tragen“, „Ein mutiges Pferd will jeder reiten“ uva.), die pralles Theaterwissen verraten und bereits auf seine volkstümlich gewordenen Figuren im Wildschütz, Zar und Zimmermann oder der Undine vorausweisen. Huhn hat die Vorbereitung für den Weihnachtsabend liebevoll umgesetzt, macht aus der Szene zwischen Suschen und ihren beiden Verehren sowie Vetter Michel eine handfeste Kasperliade, ohne dass die derbe Reminiszenz an die Commedia dell’ arte die Formen sprengt, und zeigt ein anmutiges Zeitbild. Ich fand das ganz süß. Vor allem passt das so ausgesprochen gut in das Annaberger Ambiente.

"Andreas Hofer" von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

„Andreas Hofer“ von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

Lortzings Liederspiele waren Vaudevilles, deren Sprech- und Gesangstexte von ihm stammten, bei deren Musik er aber auf bekannte Opernmelodien zurückgriff und somit eine Art Wunschkonzert oder Best of schuf. Zu den zehn unaufwendig zu singenden Nummern, fünf Solonummern, zwei Duettchen und dem obligaten Vaudeville-Reihengesang am Schluss, gehören u. a. drei Ausschnitte aus dem Don Giovanni und der Zauberflöte sowie etwas aus Isouards Cendrillon .

 

Von Ingolf Huhn, der seinem Theater mit Ausgrabungen von Goldmark und Mangold Aufmerksamkeit sicherte, erwartet man mehr: Andreas Hofer, zu Lortzings Lebzeiten nie aufgeführt, später, etwa unter Emil Nikolaus von Reznicek in einer Bearbeitung, erlebte jetzt in Annaberg seine Uraufführung. Im Gegensatz zum Weihnachtsabend handelt es sich bei Andreas Hofer um kein Stück im eigentlichen Sinne, eher um eine Episode, ein Stimmungsbild, eine höchst merkwürdige Mischung aus Kampfgetümmel und – am Tag der Verlobung von Hofers Tochter Else mit seinem Adjutanten Conrad – wiederum häuslicher Idylle.

"Andreas Hofer" von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

„Andreas Hofer“ von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

Dazu lesen wir in Band 2 der von der Albert-Lortzing-Gesellschaft herausgegebenen Schriftenreihe. „1832 und 1833 schrieb Albert Lortzing während seines Engagements als Schauspieler und Sänger am Detmolder Hoftheater vier sog. Vaudevilles, d.h. einaktige Schauspiele mit Gesang, bei denen die Musikstücke meist auf bekannte Melodien oder Kompositionen zurückgreifen. Wie bei allen seinen Singspielen und Opern schreibt Lortzing den Text zu diesen Einaktern selbst. Haben zwei der Vaudevilles, Der Weihnachtsabend und Szenen aus Mozarts Leben, für dieses Genre eher gewöhnliche Inhalte, so greift Lortzing in den anderen beiden, Der Pole und sein Kind und Andreas Hofer, dagegen  die allgemeine politische Diskussion und emotionale Stimmung der frühen 30er Jahre des 19. Jahrhunderts auf.“  Das nach dem Wiener Frieden von 1809 spielende Stück endet nach Aufdeckung eines Verrats, „mit einem Dank an den Allmächtigen und einem Lob auf den österreichischen Kaiser“. Letzteres mit Haydns „Gott erhalte Franz, den Kaiser“. Neben Ausschnitten aus der Schöpfung, einem Brösel aus Die Stumme von Portici sowie Beispielen von Spohr und Weber, ist der Anteil von Lortzings Musik, die in den dramatisch geballten Revolutionsszenen ungewohnte Dramatik annimmt, in den – Chor- und Ensemblestücken – in Andreas Hofer gibt es nur einer Arie und ein Duett – umfangreicher und gewichtiger. Das beginnt mit der Ouvertüre, die von pastoraler Idylle zu kämpferischer Entschlossenheit führt und das Orchester mit allen Farben romantischer Stimmungsbildnerei beschäftigt.

"Andreas Hofer" von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

„Andreas Hofer“ von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

GMD Naoshi Takahashi hat die engagiert spielende Erzgebirgische Philharmonie glänzend instruiert, wie denn die Einstudierung beider Werke von der liebevollen Hingabe zeugt, mit dem an diesem Haus gearbeitet wird. Beide Singspiele, die zum Großteil aus Sprechszenen bestehen, lassen sich auch nur mit einem Ensemble bewerkstelligen, das noch mit dem Genre der Spieloper und Operette vertraut ist und Sprechtexte punktgenau und pointensicher liefert. Huhn hat beste Arbeit geleistet, so dass selbst die patriotischen Wechselrufe von Hofer und seinen Vertrauten ohne größere Peinlichkeit abgehen.  Leander de Marel verfügt als Käferling, aber vor allem als Hofer, nicht mehr über die vokalen Möglichkeiten für eine solche Partie, und wird im Duett mit dem Anführer Speckbacher von dem mit gravitätischer Bassgewalt lustvoll auftrumpfenden László Varga ausgestochen. Madeleine Vogt wirkt als Suschen und Else etwas nadelspitz und streng, Marcus Sandmann versieht als Gottlieb und Conrad die Rolle des Verlobten zweimal mit spieltenoraler Wendigkeit; Michael Junge als Sommer und Pater Joachim sowie Matthias Stephan Hildebrandt als Vetter Michel und Meyer beweisen sicheren Bühneninstinkt. In die anfängliche Wohnstube stellt Tilo Staudte für den Andreas Hofer hinterleuchtete Bergwipfel, vor deren Spielzimmerpanorama Ingolf Huhn das Singspiel in einer Mischung aus Bauerntheater – die Tiroler Bauern mit Heugabeln und Dreschflegeln Statur, dazu mächtige, angeklebte Bärte –  Kriegs- und Lagerfeuerromantik und Befreiungsstück ausbreitet.  Das Stück dürfte heute kaum mehr Anhänger finden. Und trotzdem: Annaberg hat’s gewagt. Rolf Fath

Offenbachs „Rheinnixen“

Wagner war der umstrittenste Komponist seiner Zeit, Offenbach der erfolgreichste, worauf zuletzt Laurence Senelick mit Nachdruck (s. auch dessen Artikel in operalounge.de) hinwies. Beide waren unstete Reiseexistenzen, Europäer und Exilanten auf die eine und auf die andere Weise. Vor allem aber sind Wagner und Offenbach Antipoden: Man kann dem ersten großen Offenbach-Bio­graphen, Anton Henseler nur zustimmen, als er 1930 schrieb: „Offenbachs Prestis­simo-Galoppaden und Wagners in feierlichem Grave einher­schrei­tender Ernst, Offenbachs parodistische Verhöhnung alter Sagenstoffe und ihre philosophische Durchdringung bei Wagner, das sind nicht nur Gegensätze der Gestaltung, sondern auch der geistigen Haltung, wie sie als äußerste Pole die Möglichkeiten und den Reichtum der Musik nach 1850 umspannen.“  Siegfried Krakauer pflichtete dem in seinem Offenbach-Buch von 1937 bei: „Tatsächlich verkörperten er (Offenbach) und Wagner zwei Welten, die einander ausschlossen.“

Das ist auch der Ausgangspunkt Anatol Stefan Riemers für seine Untersuchung von den Rheinnixen contra Tristan und Isolde an der Wiener Hoifoper im Tectum Verlag Frankfurt. Sein Anliegen ist es, „die divergierenden ästhetischen Konzepte“ der beiden Komponisten herauszuarbeiten, „die sich in profunder Abneigung verbunden“ waren, wie Sven Hartung im Auftakt des Buches betont, dem Riemer ein grundsätzliches Kapitel über das „Verhältnis Offenbach-Wagner“ voranstellt, in dem natürlcih „der Beginn des Schlagabtauschs beider Kompo­nisten“ nicht unerwähnt bleibt: Die Karnevalsrevue („Les Carnaval des Revues“ von Grangé und Gille) in den Bouffes Parisiens, für die Offenbach 1860 eine komische Szene beigesteuert hat: „Le Musicien de l´Avenir“ (der Zukunfts­musiker), in der er Wagner eine lächerliche, kakophonische Sinfonie dirigieren und eine Zukunfts-Tyrolienne singen lässt . Darin nahm er eine clowneske Wagnerparodie auf, die er kurz zu Wagners Ankunft in Paris geschrieben hatte. Wagner gab damals in Paris Konzerte, um Schulden zu bezahlen. Er war ja notorisch pleite, bevor König Ludwig II. in seine Leben trat. In Paris verspottete man Wagner damals als den „Zukunftsmusiker“.

„Tannhauser“ 1861: Wagners Librettist für den 1. Akt und die Übersetzung ins Französische, Charles Nuitter/ Wiki, der auch an der Erstform der geplanten „Fees du Rhin“ beteiligt war.

1863, zu seinem 50. Geburtstag weilte Wagner in Wien. Dort huldigten ihm die kaufmännischen Gesangsvereine und Studenten mit einem Fackelzug. Auf einem weißen, mit Bändern in den deutschen Farben gezierten Atlaspolster wurde ihm ein Lorbeerkranz dargebracht. Das Atlaspolster trug als Aufschrift die in Gold gestickten Worte: ‚Dem verehrten Meister Richard Wagner.“ Es war das erste Mal, dass er als „Meister“ verehrt wurde, was Wagners übergroßem Ego enorm schmeichelte. Er hoffte damals, in Wien seinen „Tristan“ uraufführen zu können. Doch nach 77 Proben wurde das Werk für un­spielbar erklärt. Wagner erhielt, wie der erste Wagnerbiograph, Carl Friedrich Glasenapp berichtet – einen Bescheid der Hofoperndirektion, der ihn tief kränkte: „Man glaube’…für jetzt den Namen »Wagner« genügend berücksichtigt zu haben und finde für gut, auch einen anderen Tonsetzer zu Worte kommen zu lassen.‘ Dieser Andere war Jacques Offenbach.“ Glasenapp schreibt weiter: „Wirklich war bei diesem ein besonderes, eigens für Wien zu schreibendes, neues Werk bestellt worden: die fertige Partitur lag bereits im Pulte Direktor Salvis.“ Offenbachs große romantische Oper „Die Rheinnixen“ hatten in Wien also über Wagners „Tristan“ gesiegt. Durch diese Kränkung wurde Offenbach für Wagner endgültig zum Roten Tuch.

Ernst von Wolzogen, Dichter und Bühnenautor, besorgte in großen Teilen die Übersetzung und Neufassung des Librettos der „Rheinnixen“/ Wikipedfia

Ein Wort zum Titel (der einem on-dit zufolge auf den Wiener kritiker Eduard von Hanslick zurückgeht, der eine publikumswirksame PR-Masche vorschlug…): „Der Rhein“ war spätestens seit Friedrich Schlegel Topos der Utopie des Deutschen: „Nirgends werden die Erinnerungen an das, was die Deutschen einst waren, und was sie sein könnten, so wach als am Rhein.“ Zurecht schreibt Frank Harders-Wuthenow vom Verlag Boosey & Hawkes, der die kritische und praktische Offenbach-Edition Keck herausgibt: „Als Offenbach, sein Librettist Charles Nuitter (eigentlich Truinet, Archivar der Pariser Oper) und sein Übersetzer Alfred von Wolzogen (Vater – Ironie der Operngeschichte – Hans von Wolzogens, dem Herausgeber der Bayreuther Blätter) an den Rheinnixen arbeiten, war der Rhein allerdings längst zur politischen Demarka­tionslinie geworden. …Als der in Köln geborene Offenbach an den Rheinnixen arbeitete, war das Textbuch zu den Meistersingern bereits entstanden, in dem die ‚heilige deutsche Kunst‘ gegen ‚welschen Dunst und Tand‘ ausgespielt wird. Und wer stand für diesen welschen Tand, wenn nicht Offenbach?“

Die Oper, deren ursprüng­licher Titel „Les Fées du Rhin“ lautete und deren originales franzö­sisch­spra­chiges, aber wegen des Wiener Uraufführungsauftrags nicht vollendetes Libretto von Charles Nuitter von Alfred von Wolzo­gen (auch unter Mitwirkung von Offenbach selbst) nicht eben genial für Wien ins Deutsche übersetzt und vervollständigt wurde. Obwohl die Wiener Uraufführung ein großer Erfolg war, verschwand die Oper für 150 Jahre. Mit einer Aunahme: Am 1. Januar 1865 brachte die Kölner Oper das Werk als deutsche Erstaufführung, wie bei der Wiener Uraufführung in einer stark gekürzten dreiaktigen Fassung heraus. Schon nach der zweiten Aufführung wurde das Werk wegen der geringen Besucherzahlen abgesetzt. Die Tatsache, dass ausgerechnet ein in Frankreich reüssierender Jude rheinischer Abstammung für Wien eine Rhein-Romantik-Oper geschrieben hatte, hatte offenbar zu viele Tabus verletzt.

Offenbachs „Rheinnixen“ hatten ihre moderne Erstaufführung in Ljubljana 2005/ Scholz

Im Jahre 1999 wurde beim Verlag Boosey & Hawkes unter dem Herausgeber Jean-Christophe Keck eine Offenbach-Edition in Angriff genommen, zu der auch dieses Werk gehörte. Im Juli 2002 fand in Montpellier unter Friedmann Layer eine konzertante Urauffüh­rung der nun vorlie­genden, vollständigen deutschen Fassung der vieraktigen Oper statt, die ihren Weg auch auf die CD fand. In Deutsch.

Szenisch wurde sie erstmals aus­gegraben in Ljubliana 2005 (die deutschsprachige Aufführung wurde auch in Winterthur, St. Pölten und Bozen gezeigt) sowie Trier 2005, Cottbus 2006, Bremerhaven 2007 und an der New Sussex Opera 2009, Eine weitere deutschsprachige Aufführung gab es unter Marc Minkowski am 1. Dezember 2005 an der Opéra National de Lyon.

Die französische Originalfassung, „die der stellenweise sehr unbeholfe­nen deutschen Übersetzung Wolzogens qualitativ weit überlegen ist“ (Frank Harders-Wuthe­now), ist seit Offenbachs Lebzeiten bis zum 28. 09. 2018 nie aufgeführt worden. Im Vorfeld des Offenbach-Gedenkjahres 2019, wurde auch sie von Jean-Christophe Keck vervollständigt und komplett heraus­gegeben. Keines der großen europäischen Opernhäuser, zumal die hauptstädtischen, hat sich dafür interessiert, diese nie aufgeführte Fassung der Oper uraufzuführen. Immerhin, die Opéra de Tours und das Stadttheater Biel  brachten „Les Fees du Rhin“ 2018 erstmals in einer gemeinsamen Produktion auf die Bühne (über erstere wurde in operalounge.de berichtet).  Es scheint bemerkenswert, dass die so lautstark akklamierte französische Fassung kein internationales Echo gefunden hat und dass es ein französisches und ein schweizerisches Stadttheater waren, die die Ehre des Franzosen Offenbach hochhielten. Weder der Palazetto Bru Zane noch eine namhafte CD-Firma haben sich interessiert.

Die einzige offizielle Aufnahme der „Rheinnixen“, zudem in deutscher Sprache,“ ist der Mitschnitt aus Montpellier unter Friedemann Layer von 2002 bei Accord (vergriffen)

„Die Rheinnixen“ sind eine eindeutig pazifistische, vaterländische Oper des im französischen Exil lebenden Offenbach, der Armgard, die weibliche Hauptpartie, zur Symbolfigur deutscher Einigungssehn­süchte (lange vor 1871) macht. Ihr Deutschlandlied, das Offenbach schon 1848 komponiert hatte, wird wie die Feen-Barcarole zum Leitmotiv dieser romantischen Oper: „Du liebes Land, Du schönes Land, Du schönes, großes deutsches Vaterland.“

Es wird wie die Feen-Barcarolen-Ouvertüre, die später auch in die Oper „Les contes d´Hoffmann“ eingeht, zum Leitmotiv dieser patriotischen  Oper (des im Exil lebenden Deutschen Offenbach), die von einem friedlichen, geeinten  Deutsch­land träumt (so wie auch der im Exil lebende Wagner immer von einem utopischen Deutschland „als reinem Metaphysicum“ träumt).  Frauen (Feen) siegen in dieser Oper über Männer (Soldaten), Liebe triumphiert in ihr über Krieg.

Damit ist die Oper sehr nahe bei Wagner, dessen Frauen ja auch meist Männer erlösen oder über sie triumphieren. „Gleichzeitig, so betont Riemer, sind die „Rheinnixen“ „am stärksten der musikalischen Sprache in den Romantischen Opern Wagners bis zum Tristan annähert.“ Den „Tristan“ hat Wagner allerdings nicht als „Romantische Oper“ bezeichnet, sondern als „Handlung.“ Das Werk ist formal keine Oper mehr, sondern bereits „Wort-Ton-Dichtung“, um nicht zu sagen „Musikdrama“, Wagner mochte das Wort nicht.

Offenbach: „Les Fees du Rhin“ /Szene aus der Aufführung in Biel nach Toulouse 2019/ Foto Joel Schweizer (operalounge.de berichtete über die Aufführung)

Die Lebenswege der Komponisten Wagner und Offenbach ähneln sich in gewissem Sinne, sie überschneiden sich biografisch sogar, und was ihr Werk angeht, so verschieden es auch ist: Humor Gesellschaftskritik und Träumen von Utopischem zeichnen es in beiden Fällen aus.  Natürlich setzt das Musiktheater von Wagner und Offenbach an entgegengesetzten Enden an und arbeitet mit konträren Mitteln. Aber es ist doch in beiden Fällen europäisches Musiktheater von Rang, das aus der Romantik kommend, Gegenwart kritisiert und von Besserem träumt, das Gesellschaft und Politik, Staat und Machtinstitutionen, bürgerliche Moral und Religion in Frage stellt. Beide – Wagner wie Offenbach – glaubten an das Gute im Menschen, deshalb stellten sie den Menschen in seiner ganzen Schäbigkeit, Niedertracht und Bösartigkeit dar. Der eine – Offenbach – schuf aus diesem Widerspruch Komödien, der andere – Wagner – Tragödien.  Der eine – Wagner – brachte Monstren, psychopathologische Extremfälle auf die Bühne. Der andere – Offenbach – Menschen wie Du und ich, Menschen von der Straße. Aber unter der Oberfläche vermeintlicher Wohlanständigkeit ließ er immer wieder das Monströse, oder sagen wir: die Abgründe des sogenannten „Normalen“ augenzwinkernd durchscheinen.

Die Marschrouten und die Methoden der beiden antipodischen Komponisten waren natürlich grundverschieden: Offenbach zielte auf gesellschaftliche Aktualität, auf´s Hier und Heute, heiter-satirisch, antiken Mythos parodierend und damit eine neue Gattung kreierend, eben die „Offenbachiade“, um den Begriff von Karl Kraus zu benutzen. Seine mit allen kompositorischen Wassern gewaschene Musik zeichnete sich durch eine Kompositionsweise aus, die sich aus Einflüssen der Synagogalmusik, der jüdischen Spielmannsmusiken, der Kölner Karnevalsmusik, der Opera buffa, der Opéra comique und der französischen zeitgenössischen Musik speiste und daraus eine sehr eigene, unverwechselbare  Tonsprache entwickelte, die die Brüchigkeit der modernen urbanen Welt durch wechselnde, geistreich kontrastierende wie rhythmisch mitreißende und humoristisch persiflierte Stilidiome zum Ausdruck brachte.

Offenbachs „Rheinnixen“ in der Erstaufführung in moderner Zeit in Ljubljana 2005/ Scholz

Wagner komponierte im pathetischen Rückgriff auf die Traditionslinie Gluck, Beethoven und Weber. Seine Werke waren Musiktheater im Sinne einer Schillerschen moralischen Anstalt und zielten aufs nachrevolutionäre gesellschaftliche Übermorgen. Er zog musikalisch eine Summe der Oper des 19. Jahrhunderts, deren traditionellen Formen er in spezifisch „deutschem“ Musikidiom fortsetzte, zum absoluten spätromantischen Höhepunkt führte und im „Tristan“ überwand.  Heiter-satirisches Musiktheater war seine Sache nicht. Seine Sache war die Oper, die er für sich als „Wort-Ton-Dichtung“, im Sinne eines Gesamt­kunstwerks neu definierte.  Offenbachs Musik (mit ihrem lustgewinnbringenden Hang zu Bewegung, zum Mecha­nischen und Spieluhrenhaften, ja Tänzerischen) fuhr seinem Publikum sprichwörtlich in die Beine. Wagners Musik erschien Vielen, wie der Maler Franz von Lenbach einmal bekannte, wie „ein Lastwagen zum Him­mel­reich“. Der kluge Friedrich Nietzsche schätzte Wagner vor allem als „Orpheus“ alles heimlichen Elendes“, wusste sich aber auch für „Sankt Offenbach“, wie er ihn einmal in einem Brief an Erwin Rohde (1868) nannte, zu begeistern. Da liest man: „Wenn man unter Genie eines Künstlers die höchste Freiheit unter dem Gesetz, die göttliche Leichtigkeit, Leichtfer­tigkeit im Schwersten versteht, so hat Offenbach noch mehr Anrecht auf den Namen »Genie« als Wagner. Wagner ist schwer, schwerfällig: nichts ist ihm fremder als Augenblicke übermütigster Vollkommenheit, wie sie dieser Hanswurst Offenbach fünf-, sechsmal fast in jeder seiner bouffonneries erreicht.“ So geschrieben im Nachlass der Achtzigerjahre.

Autor Riemer untersucht in seinen akkuraten Studien, die im Wesentlich auf seiner Frankfurter Inauguraldissertation von 1919 basieren, „stilistische Merkmale von Offenbachs Kompositionstechnik“ heraus zu arbeiten, um eine „Forschungslücke zu verkleinern.“

Seine Analysen beziehen sich vor allem auf die „der Erinnerungsmotivik“ sowie die „Chorbehandlung“ und die „Rollendarstellung der ‚Bösewichte‘“ sowie „das Verhältnis und die Wechselwirkung von Parodistischem und Wahrhaftigem. Schon die legendäre Eminenz unter den Musikwissenschaftlern Carl Dahlhaus, auf den sich Riemer bezieht, forderte: Es wäre an der Zeit, eine Geschichte des Erinnerungsmotivs zu schreieben, die sich von dem Zwang befreit, um Wagners Leitmotivtechnik zu kreisen.“ Riemer nimmt Dahlhaus beim Wort.

Das Buch ist sehr gelehrt, der Autor hat mit großem Fleiß eine immense Literaturmenge gesichtet und in minutiöser Präzision seine formalen Analysen betrieben. Und doch er hat auch Humor. Beispielsweise erwähnt er, dass gut drei Wochen vor der Münchner Uraufführung des „Rheingoldes“ am 22. September 1869 das Münchner Neue Fremden Blatt ein Wiener Bonmot zitiert: „das Rheingold (von Wagner) sei überhaupt gegen die Rheinnixen (von Offenbach) rein nix, und umgekehrt diese gegen jenes rein gold.“ Wagner contra Offenbach, das ist das Thema seines Buches.  Sein Resümee:  Offenbach sei unbedingt aufzuwerten. Immerhin belegt er beispielhaft am Beispiel der Rheinnixen, die der Offenbachspezialist Peter Hawig als „Kompendium des Offenbachschen Gesamt­schaffens“ bezeichnet, „Offenbachs planvolle und ausgeklügelte Themen­konzeption“, zu schweigen von seinem „Melodienreichtum“ und seiner „rhythmischen Erfindungsgabe“.

Schon der Musikschriftsteller Paul Becker stellte 1909 in seinem kleinen, aber feinen Offenbachbuch fest: „Die Plastik der Offenbachschen Rhythmen übertrifft die Leistungen aller seiner Vorgänger in der parodistischen Literatur – sie ist es, die ihn zum Meister der musikalischen Satire erhebt. …Der Witz des Offenbachschen Rhythmus…… bildet den Wesenskern des Künstlers… Sein sicherstes Wirkungsmittel … war sein rhyth­misches Sprachvermögen… In der Fähigkeit, das gesungene Wort mit der Tanzgebärde zu verbinden, liegt eines der tiefsten Geheimnisse von Offenbachs Kunst.“

Abgesehen von wenigen Diskussionspunkten (Riemer schreibt beispielsweise auf S. 246 „von weit über hundert Opern“ Offenbachs. Er meint wahrscheinlich weit über 100 Werke, die meisten sind allerdings keine Opern, sondern Werke des heiter-satirischen Musiktheaters) ist dieser sehr  gründliche Vergleich von Wagner und Offenbach außerordentlich aufschlussreich und gereicht Letzterem zur Ehre. Nach wie vor wird Offenbachs Musik ja weit unterschätzt, obwohl schon Gioacchino Rossini den aus Köln stammenden Pariser den „Mozart der Champs-Élysees“ nannte. Offenbach erfand die „Offen­bachiade“ und hatte als konkur­renz­loser und unübertroffener Meister der musikalischen Satire die ganze Welt in­fiziert.

Dieter David Scholz ist renomierter Musikjournalist und Autor zahlreicher >>Bücher über musikalische Themen/ operacomique

Nach Biografien des  Dirigenten und Komponisten Alexander Ritter und des Geigers  August Wilhelmj (Konzertmeister und Organisator von Wagners Bayreuther Orchester, eine Besprechung des neues Buches über den Komnponisten Ritter folgt zeitnah in operalounge.de) hat der Richard Wagner-Verband Frankfurt am Main eine weitere, wichtige Publikation ermöglicht, die ein erhellendes Licht wirft auf einen bislang zu Unrecht unterschätzten Komponisten und Zeitgenossen Wagners. Dieter David Scholz

Anatol Stefan Riemer: „Die Reinnixen“ contra „Tristan und Isolde“ an der Wiener Hofoper Studien zu Jacques Offenbachs Großer romantischer Oper aus dem Jahre 1864. Frankfurter Wagner Kontexte Band 3 Tectum Verlag, Frankfurt a.M., 294 Seiten, gebunden; ISBN 978-3-8288-4538-1 . Ein Literaturverzeichnis rundet das Buch ab, das mit zahlreichen Notenbeispielen und Grafiken aufwartet.  Leider gibt es kein Register und kein Namensverzeichnis. D. D. S.

Dazu auch die Betrachtungen von Boris Kehrmann in operalounge.de (Offenbachs Grand Opéra … apropos der Erstaufführung der Fees du Rhin in moderner Zeit in Tours (in der Ergänzung durch Christophe Mirambeau in Toulon 2018, namentlich zur Zweisprachigkeit und zu den  Problemen des Librettos. Abb. oben Kaiser Franz Joseph wurden die Wiener „Rheinnixen“ gewidmet/ Wikipedia) G. H.

Ein italienischer Gentleman und seine Familie

 

So ganz stimmt der Titel Franci, Stirpe canora (Die Francis, eine singende Sippe) nicht, denn Carlo Franci, der nach Untertitel die Geschichte von Vater Benvenuto, Onkel Tommaso, Schwester Marcella und Tochter Francesca sowie seine eigene erzählen soll, ist gar kein Sänger gewesen, sondern Dirigent, Komponist und nicht zuletzt Maler. Wobei außerdem nicht zutrifft, dass er der eigentliche Autor des Buches ist, denn auf das Interview mit ihm, das Maurizio Tiberi  geführt hat, entfallen gerade einmal 40 der insgesamt gut 380 Seiten des Buches.

Dieser Teil ist allerdings der mit Abstand interessanteste, ihm geht jedoch ein langes Vorwort voraus, in dem Tiberi in selbstverliebter Manier davon berichtet, mit wie vielen und mit welchen berühmten Sängern er bereits zu tun hatte, zu denen auch der allerdings zu seiner Zeit allerberühmteste Bariton Benvenuto Franci gehörte, von dem er zwei Platten herausgab und den er noch persönlich kennen lernte, wenn auch erst in sehr vorgeschrittenem Alter und wenig mitteilungsfreudig, denn „il passato è passato“. Immerhin erfährt der Leser, dass die Francis aus Pienza stammen, das der ältere Bruder Benvenutos, Tommaso Franci, Tenor war, aber nur wenige Jahre lang sang und dann der Familie zur Last fiel. Zwei Zeitungsausschnitte mit Kritiken über seinen Duca fallen denn auch wenig schmeichelhaft aus.

Auch Carlo Franci, der den Autor auf seinem Landgut nahe Città della Pieve empfing, kurz nachdem er zum allerletzten Mal und zwar das Orchester des Frankfurter Opernhauses dirigiert hatte, sieht sich erst einmal einem Schwall von Fakten gegenüber, die ihm sein Interviewer über seine Familie zu berichten weiß. Es gelingt ihm dann, darüber zu berichten, wie  und auf welchen Umwegen er zur Oper kam, als Kind erlebte, wie Richard Strauss, Mascagni und Giordano das Wirken seines Vaters in ihren Opern zu schätzen wussten, wie er den Reiz der menschlichen Stimme und besonders den der Mezzosoprane erst entdecken musste. Überraschendes erfährt der Leser über Christina Deutekom, Marilyn Horne, Katia Ricciarelli, Renato Bruson, Denia Mazzola, die nicht verneinen konnte, dass er der einzige Dirigent ist, mit dem sie nicht gezankt hat.  Dafür stellt er ihr das Zeugnis aus, dass sie zwar eine schlechte Sängerin, aber eine große Künstlerin sei.

Der ersten Filmmusik mit erst 19 Jahren für einen Streifen mit Gina Lollobrigida folgen viele andere, besonders im antiken Zeitalter spielende, so dass bis heute noch Tantiemen fließen.

Obwohl die Eltern wollen, dass er Jura studiert, wird Carlo Franci Dirigent, hat sein Debüt mit Hänsel und Gretel, mehr als deutsche Opern (obwohl er der Verfasserin einmal anvertraute, sein Traum sei Strauss‘ Elektra) aber haben deutsche Opernhäuser eine bedeutende Rolle in seiner Laufbahn gespielt. Bewegend war offensichtlich der Abschied von den Frankfurtern, insgesamt, weiß er deutsche Orchester sehr, deutsche Dirigenten („eins, zwei, drei….“) weniger zu schätzen. Deutschland  bzw. Berlin und die Deutsche Oper bescherten ihm das spektakulärste Opernereignis mit einem Otello, der mit 45 Minuten Applaus und Domingo als klavierspielendem Canzonensänger sehr spät in der Nacht endete. Dabei erwähnt Franci nicht, dass dem Tenor vom Haus drei Dirigenten zur Auswahl vorgeschlagen wurden und dieser Franci wählte, und er irrt, wenn er meint, Pavarotti hätte versucht, diesen Rekord mit einem Edgardo zu schlagen. Es war der Nemorino.

Eine andere bedeutende Wirkungsstätte war Südafrika, dem er treu blieb, als andere Künstler das Land boykottierten, wo er durchsetzte, dass Schwarze die Generalproben besuchen durften, wohin er Orff-Instrumenten aus Deutschland zur musikalischen Erziehung der Schwarzen einführte und das ihn erst jetzt enttäuschte wegen der dort inzwischen herrschenden Korruption.

Nahe Verwandte genießen in den Ausführungen von Franci keinen besonderen Schutz, so wird von der lunga decadenza des zu lange gesungen habenden Vaters ebenso gesprochen wie von der voce stretta der Schwester. Was Franci damit meint, Domingo seit nur von der Stimme, aber zum Glück nicht vom Charakter her Tenor gewesen, bleibe unerforscht, keinen Zweifel aber lässt das Attribut matto für Bonisolli aufkommen, der in St. Gallen aus „bella figlia d’amore“  verschwand.

Über den Vater gibt es auch viel Anekdotisches zu berichten, so der Streit mit Lauri Volpi im Tell um eine Collinetta, von der beider herunter singen wollten, oder der Umstand, dass der Dirigent in Argentinien geboren wurde, weil die schwangere Mutter den Vater begleiten musste, damit der nicht die gesamte Gage seiner Leidenschaft, dem Pokerspiel, opferte. Aber nicht nur der Dirigent bedient den Interviewer mit Neuigkeiten, das geschieht auch umgekehrt, wenn letzterer mitzuteilen weiß, dass Benvenuto Franci in Toti Dal Monte verliebt gewesen sei.

Das Interview gerät trotz der selbstverliebten Vorgehensweise von Tiberi zu einer Fundgrube von nicht nur Anekdotischem, sondern durchaus auch Grundsätzlichem, dass eine Reihe seltener oder bisher noch nie veröffentlichter Fotos eingestreut ist, macht es noch wertvoller. Inzwischen kann es als eine Art Vermächtnis des Dirigenten angesehen werden, dem danach, obwohl er sich mit Gedanken an eine Masterclass trug, nicht mehr viel Zeit vergönnt war.

Die sich anschließende Chronologie ist umfangreich, aber nicht vollständig, was im Vorwort dazu zugegeben wird.

Das nächste Kapitel ist Benvenuto Franci gewidmet, handelt von einem Besuch bei dem bereits dementen Bariton, dessen Tochter von einem Koffer mit Materialien über die Karriere zu berichten weiß, der von der Mutter irrtümlicherweise weggeworfen wurde. Immerhin treibt der Verfasser bei einem Freund in Wien noch einiges Material auf, dazu kommen wenig interessante Forschungsergebnisse über die Ahnenreihe und schließlich noch Zeitungsausschnitte über die Vorstellungen, an denen Benvenuto mitwirkte, angefangen von Lodoletta 1917 als absolutes Debüt.

Wenn man das alles zur Kenntnis nimmt, staunt man erst einmal darüber, wie vielseitig der Bariton, der auch in Tenorhöhen und Basstiefen ohne Mühe gelangte, war, denn er sang auch Pizarro, Telramund, Barack, als letztes Rollendebüt Hans Sachs in Palermo unter Tullio Serafin, aber vor allem auch, wie reich das Repertoire der Opernhäuser in den Zwanzigern und Dreißigern war, wie armselig dagegen das der heutigen Theater.

Als Tamagno dei baritoni wurde Franci gehandelt, die Bösewichter, er sang auch die Uraufführung von La Cena delle Beffe, waren seine bevorzugten Rollen, aber auch Escamillo. In Berlin sang er 1929 den Luna, 1941 spielte er im Bunker des Hotels Kaiserhof Poker, 1948 sang er noch den Don Carlo mit La Callas als Leonora. Ein doppelter Schädelbruch konnte seine Karriere nicht beenden, erst ein Sturz 1956 in Palermo. Danach war er noch eine Art direttore artistico, wurde in Rom von der Tochter betreut.

Wie vielen Sängern er Vergangenheit geht es auch Benvenuto Franci, dessen Stimme auf Platten nicht so wiedergegeben wird, wie sie die im Ohr hatten, die ihn noch auf der Bühne erlebt hatten. Ihm wurde die schönste mezza voce di baritono nachgesagt, aber auch ein markerschütterndes Forte, allerdings machte sich wohl auch in den letzten Jahren ein Registerbruch bemerkbar. Eine ausführliche Discografia ab 1920 enthält Aufnahmen von Phonotype Columbia, später der Società Nazionale del Grammofono.

Zahlreiche Fotos, Karikaturen und Zeitungsartikel geben einen Einblick nicht nur in die Karriere Francis, sondern in das Opernleben in Italien ganz allgemein.

Von Tommaso Franci, dem Tenor, gibt es, da wenig überliefert ist, nur eine Chronologie ebenso von Marcella Franci, die immerhin 1944 in Rom mit Ferruccio Tagliavini und Tito Gobbi an der Seite in Rom in Gounods Faust die Margherita sang.

Von Francesca Franci, renommierte Mezzosopranistin selbst, berichtet Tiberi pikiert, dass sie ihm kein Interview gewährte, was zumindest dann nicht verwundert, wenn man sich die Rückseite des Buches ansieht, die Maurizio Tiberi im doppelten Sinne hemdsärmelig zwischen einem sehr trübsinnige aussehenden Carlo und einer übertrieben lachenden Francesca Franci zeigt. So sind dem Mezzosopran auch nur eine Cronologia teatrale und eine Discografia, beide unvollständig, gewidmet. Die dem Vater zugedachte ist vollständiger, aber nicht perfekt, ihm ist zusätzlich eine Filmografia gewidmet und auch als Komponist wird er gewürdigt mit der Ansicht der CDs, die Mittelalterliches und Afrikanisches als Stimulans hatten. Daneben gibt es viele Aufnahmen aus dem Fenice. Auf den Maler Carlo Franci wird mit  www.carlofranci.it verwiesen.

Ein doppeltes Namensregister und ein zweiseitiger Artikel, der einem „amico“ gewidmet ist und eigentlich in dem Buch nichts zu suchen hat, beenden das zwar stellenweise recht konfuse, aber dank der Mitwirkung Carlo Francis überaus interessante Buch (Tima Club, kein ISBN, verfügbar bei Bongiovanni, Bologna, www.bongiovanni70.it). Ingrid Wanja

Hommage an la Francesina

 

Der berühmten französischen Sängerin Élisabeth Duparc, genannt La Francesina, widmet die belgische Sopranistin Sophie Junker bei APARTÉ ein Recital, das den Titel Handel´s Nightingale trägt und im Juni 2019 in Lyon aufgenommen wurde (AP233). Duparc war in London zunächst ein Star in Werken von Hasse und Riccardo Broschi (an der Seite von Farinelli), bevor sie sich dem Schaffen Händels zuwandte und 1741 seine erste Deidamia wurde. Zuvor war sie 1738 im Faramondo die Clotilde – eine Partie, die sich durch hohe Virtuosität auszeichnet. Sie kreierte auch diverse Rollen in seinen Oratorien: die Titelrolle in Semele, 1744, Nitocris in Belshazzar, 1745, Michal in Saul, 1739, Iole in Hercules, 1745, und Asenath in Joseph and his Brethren, 1744. Nicht weniger als zwölf Hauptpartien komponierte Händel für seine Muse. Duparc verfügte über einen hellen, lyrischen Sopran, starb 1778, nachdem sie in ihren letzten Lebensjahren der Vergessenheit anheim gefallen war.

Viele ihrer Rollen finden sich auch auf dem Album von Sophie Junker, das mit Asenaths „Prophetic raptures“ aus dem 2. Akt von Joseph and his Brethren beginnt. Junker ist gleichfalls ein lyrischer Sopran mit leuchtender Höhe und delikater Tongebung, nimmt die Arie mit beherztem Zugriff und jubilierender Koloratur. Es folgt die Arie „What passion“ aus der Ode to St. Cecilia’s Day, in welche die Solistin lyrisches Potential und empfindsamen Ausdruck einbringen kann.

Aus Deidamia sind zwei kontrastierende Arien der Titelheldin zu hören – „Và, perfido!“ aus dem 2. und „Nasconde l’usignol“ aus dem 1. Akt. Erstere ist geprägt von energischer Attacke, die zweite von heiterem Duktus mit zwitschernden Tönen.

In Semeles Hit „Myself I shall adore“ kann Junker die Flexibilität ihrer Stimme ausstellen und gleichermaßen mit legato– wie staccato-Koloraturen brillieren. Ioles „My father!“ aus Hercules zeigt die Möglichkeiten der Sopranistin, eine dramatische Situation mit Verfärbungen des Tones auszudrücken. Clotildes „Mi parto lieta“ aus Faramondo ist ein munteres Stück, in welchem der Sopran aufstrahlt und bezaubert. Michals „In sweetest harmony“ aus Saul atmet himmlische Ausgewogenheit, in welcher sich die Stimme noch einmal von ihrer schönsten Seite zeigen kann. Das Programm beendet Romildas bewegende Arie „Nè men con l’ombre d’infedeltà“ aus Serse, in der die Solistin ein letztes Glanzlicht setzt.

Das Orchester Le Concert de l’Hostel Dieu, das unter der animierenden Leitung von Franck-Emmanuel Comte die Solistin kompetent begleitet, steuert mehrere Instrumentalbeiträge bei – die stürmische Sinfonia aus Belshazzar, die gewichtige  Overture zu Semele und die wiegende Musette aus The Occasional Oratorio, erweist sich dabei als versierter und vielseitiger Klangkörper. Bernd Hoppe

Beginn einer Reihe

 

Noch sechs bis sieben Bände über das Musical sollen im Abstand von ungefähr anderthalb Jahren diesem einen mit dem Titel Musicals – Geschichte und Interpretation folgen, denn Wolfgang Jansen hat seinen Einzug in die deutschsprachigen Lande von Anfang an verfolgt und sich unüberhörbar zum Fürsprecher dieser in Deutschland lange umstrittenen Gattung gemacht. Ab 1992 erschienen seine Betrachtungen über 25 Jahre hinweg, im ersten Band geht es um die Unfähigkeit der Operette, sich weiter zu entwickeln, wodurch ein Freiraum für die neue, aus Amerika kommende  Gattung entstand.

Im Vorwort wird allerdings darauf hingewiesen, dass es nicht nur um das Musical, sondern um das „populäre Musiktheater“ geht und zwar um gattungsgeschichtliche Zusammenhänge, einzelne Spielstätten und Werke und um die Arbeitsbedingungen der Künstler. Da das Buch in sich abgeschlossene Aufsätze enthält, kann es nicht ausbleiben, dass es manchmal zu Wiederholungen kommt, doch enthält jedes der Kapitel genug Neues, um seine Aufnahme in den Band zu legitimieren.

Der Verfasser unterschlägt nicht das Entstehen neuer Musikwerke wie Feuerwerk oder Doktor Eisenbart, führt aber auch aus, dass sie Eintagsfliegen blieben, und tritt mit seinen Arbeiten der damals allgemein herrschenden Meinung entgegen, dass die deutschen Bühnen, die „Unfähigkeit zum Musical“ auszeichne. Zwar habe es bis 1955 kaum Musicals zu erleben gegeben, doch ab 1955, nach dem Erscheinen von Kiss me, Kate! auf deutschen Bühnen, ändere sich das schlagartig. Der Autor stellt sich auch die Frage, warum der amerikanische Kurt Weill im Nachkriegsdeutschland nicht recht Fuß fasste und sieht einen der Gründe darin, dass er durch die Dreigroschenoper eng an Brecht geschmiedet schien und dass das dem Ansehen seines Werkes in Westdeutschland nicht dienlich gewesen sei.

Ein eigenes Kapitel ist den Begriffen Operette- Musicalette- Musical gewidmet, in ihm wird erläutert, inwiefern sich die Unsicherheit über das Profil der neuen Gattung auch in den vielen Bezeichnungen ausdrückt.

Als wesentlich für die Schwierigkeiten bei der Etablierung der neuen Gattung sieht Jansen auch die Tatsache an, dass es nach 1945 keine unbestrittene Metropole für die leichte Muse mehr gab. Daran änderte auch der Versuch Willi Kollos nichts, sie mit „Berlins 1. Musical-Theater“ einzuführen. Jansen bezieht  natürlich auch die Bemühungen „kleinerer“ Städte um neue Stücke ein, so die Kassels um Weills Lady in the Dark .

Der Verfasser berücksichtigt in seinen Betrachtungen auch Österreich und die deutschsprachige Schweiz, so die Aufführung von Porgy and Bess 1945 in Zürich. In Wien setzte sich Marcel Prawy besonders für das Musical ein, übersetzte vom Amerikanischen ins Deutsche, und in beiden Fällen tauchte das Problem auf, wie man die sehr unterschiedlichen Idiome in Street Scene oder Porgy und Bess und seine Sprache der Schwarzen angemessen übersetzte. Jansen macht das dem Leser durch Beispiele, in denen Original und Übersetzung einander gegenüber gestellt werden, deutlich. So entfalten die Gastspiele amerikanischer Truppen noch am ehesten Authentizität, wird Oklahoma! 1951 im Titania Palast erwähnt und auch nicht verschwiegen, dass solche Tourneen ein Teil des Umerziehungsprogramms der Amerikaner darstellten, auf der anderen Seite von der DDR-Presse heftig bekämpft wurden. Allerdings irrt der Verfasser, wenn er meint, Furtwängler habe bei der Wiedereröffnung des Schiller-Theaters in Westberlin die Berliner Symphoniker dirigiert. Es waren natürlich die Philharmoniker.

Interessant zu lesen ist die Passage über die Wirkung von Adornos Meinung über den amerikanischen Kurt Weill, ebenso die Kämpfe um die Wiener Volksoper, wo Marcel Prawy Chefdramaturg war und nacheinander Kiss me, Kate!, Wonderful Town und Annie, get your gun! herausbrachte, in die Schweiz führt die Erwähnung von Cole Porters Can Can in Basel.

Ein großer Teil des Buches ist dem ersten Erscheinen des jeweiligen Musicals auf einer deutschen Bühne gewidmet, insbesondere von My Fair Lady im Berliner Theater des Westens und der West Side Story, deren Entstehungsgeschichte in drei Etappen nachvollzogen wird.

Themen mehr am Rande wie die Anfänge des schwyzerdeutschen Musicals oder die Geschichte der Vinyl-Platte zeigen, wie vielseitig das Buch ist, das auch das Wirken Rolf Kutscheras im Theater an der Wien nicht außer Acht lässt, Harald Juhnke, Theo Lingen, Vico Torriani und viele andere Revue passieren lässt.

Viele Leser werden sich noch an My Fair Lady in der Berliner Kantstraße erinnern, ein unvergleichlicher Triumph und eine Art Trostpflaster für den kurz davor vollzogenen Mauerbau. So ausführlich wie interessant berichtet der Verfasser von den Anfängen, d.h. den Verhandlungen um die Erlaubnis der Erben Shaws, seinen Pygmalion als Vorlage zu benutzen, vom Scheitern mehrerer Komponisten an dem Stoffe, von der Uraufführung mit Rex Harrison und Judy Andrews, und auch die Baugeschichte der Städtischen Oper Berlin fehlt nicht. Der Autor scheut sich nicht zu behaupten, dass „ das populäre Musiktheater der Bundesrepublik anders aussehen“ würde, wenn es diese Aufführung nicht gegeben hätte. Nun- immerhin gab es eine „Musical-Luftbrücke“ für westdeutsche Besucher, die sich die Aufführung nicht entgehen lassen wollten. Obwohl der Fair Lady mit Annie, get your gun! mit Heidi Brühl ein Misserfolg folgte, begann nach Meinung des Verfassers, und dem kann man wohl kaum widersprechen, der Siegeszug der Gattung in Deutschland.

Es folgen nach diesem sehr ausführlichen Kapitel noch solche und kürzere über Gershwins Girl Crazy, Rio Reisers Beat Opera und Anatevka wie Man oft La Mancha. Man kann gespannt sein, was Wolfgang Jansen über die ihnen folgenden Werke zu sagen hat (308 S., 2020 Waxmann Verlag; ISBN 978 3 8309 4159 0). Ingrid Wanja

Erstmals auf CD

 

Wie in Endlosschleife rollten ab den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts Pietro Metastasios Geschichten dysfunktionaler Familien zuerst über die italienischen und rasch auch europäischen Bühnen. Die Zuschauer konnten sich in diesen barocken Opernnovelas vieler Grundmuster sicher sein: grausame Väter, gestörte Beziehungen zu Töchtern und Söhnen, Zwangsheiraten aus dynastischen Gründen, Todesurteile, vertauschte Kinder usw. Solche Standardsituationen überschrieb auch Christoph Willibald Gluck in seinen ersten italienischen Opern, die nahezu alle ausschließlich die Erfolgsmuster Metastasios nutzten. 1737 war er nach Mailand gekommen und debütierte nach Ausbildung durch Sammartini dort 1741 in dem für einen Opernkomponisten nach den Maßstäben der Zeit „reifen“ alter von 27 Jahren mit Artaserse. Nach einem Abstecher nach Venedig kehrte er 1743 mit dem zehn Jahre zuvor durch Caldara erstmals und in den folgenden Jahren von einem Dutzend weiter Komponisten vertonten Demofoonte nach Mailand zurück. Nun liegt Glucks dritte Oper erstmals auf CD (3 CDs Brilliant Classics 95283) vor.

Alan Curtis war dafür 2014 mit dem von ihm 35 Jahre zuvor gegründeten Barockensemble Il Complesso Barocco und einem handverlesenen Ensemble in das nahe Vicenza gelegene Lonigo gereist, um das dreiaktige dramma per musica zu beleben. Titelheld Demofoonte ist der König von Thrakien, der nach einem Gebot des Apoll eine Jungfrau opfern will. Seine Wahl fällt auf Dircea, die Tochter seines Fürsten Matusio. Dircea ist bereit heimlich mit Demofoontes Sohn Timante verheiratet, der vom Vater aus dem Feld zurückgerufen wird, damit er die phrygische Prinzessin Creusa heiratet. Timantes Bruder Cherinto liebt Creusa. Nachdem zum dramatischen Höhepunkt am Ende des zweiten Aktes Timante und Dircea nahc Bekanntwerden ihrer Heirat zum Tode verurteilt werden, lösen sich im dritten Akt durch plötzlich aufgetauchte Briefe die Konflikte auf: Dircea ist Demofoontes Tochter, Tigrane der Sohn des Matusio, Creusa entdeckt ihre Liebe zu Cherinto.

Nach der von Curtis aus Ipermestra entlehnten dreiteiligen Sinfonia entwickelt sich diese Geschichte in einer Folge von schätzungsweise zwei Dutzend Arien, dem Duett Dircea – Timante am Ende des zweiten Aktes und einem Chor am Ende der Oper über drei Stunden in den Bahnen feiner Gesangskunst, die jeden Freund barocker Opern entzücken muss. Im Mittelpunkt stehen der damals gerade erst 20jährige amerikanische Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen als Timante, der sich mit „Sperai vicino al lido“ tapfer und fast kriegerisch zeigt – es folgt eine entsprechend martialische Marcia – und die von dem Star-Kastraten Carestini kreierte Partie mit draufgängerischer Verve, interessantem, nicht rundem, Timbre singt. Die umfangreiche Begleitung und die Situationen durch aufregendes Orchesterspiel durchgehend erhellende Orchestersprache malen die 24 Spieler des Complesso Barocco prachtvoll aus. Mit schöner Farbe, einem silbrig feinen Vibrato singt Sylvia Schwartz die Dircea. Ihr umfangreiches Duett mit Timante „La destra ti chiedo“ schöpft ganz aus dem Reichtum einer Gefühlswelt, die Händel erschlossen hatte. Romina Basso verleiht dem Timante-Bruder Cherinto mit ihrem dunklen, recht herben und dabei sehr individuellen Mezzosopran und energisch scharfen Rezitativen ein Gesicht. Im Zusammenspiel mit der anderen Mezzosopranistin, der weichen und von Ann Hallenberg mit erlesenen Koloraturen gesungenen Creusa, ergeben sich reizvolle Kontraste. Der Bariton Vittorio Prato spielte als Matusio damals schon seine eloquente Bühnenpersönlichkeit aus, als Demofoonte steht Tenor Colin Balzer, wenngleich in der virtuosen Arie à la Händel „Perfidi! Già che in vita“ nicht überfordert, doch farblos, ein wenig im Abseits, und Nerea Berraondo bleibt mit splissigem Mezzo als Anführer der Palastwachen eine Randfigur. Rolf Fath

Aus Esterházys Truhen

 

In ihrer Esterházy Music Collection gibt ACCENT als Vol. 2 ein Oratorium von Gregor Joseph Werner mit dem Titel Der Gute Hirt heraus (ACC 26502, 2 CDs). Die Aufnahme entstand im Januar 2019 in Budapest als Produktion der Orfeo Music Foundation mit Unterstützung des Ungarischen Kulturministeriums.

Nach seiner Uraufführung 1739 in Eisenstadt ist das in der Musikbibliothek Joseph Haydns wieder entdeckte Werk nun erstmals in moderner Zeit zu hören. Der österreichische Komponist war wahrscheinlich ein Schüler von Johann Joseph Fux und stand fast 40 Jahre im Dienste der Esterházy-Fürsten. Gegen Ende seines Wirkens wurde ihm ein junger Assistent zur Seite gestellt, der kein Geringerer war als Joseph Haydn. Dieser fertigte Abschriften von Werken Werners an und bewahrte sie in seiner eigenen Musikbibliothek auf, woraus auch der Erhalt des Guten Hirten resultiert.

Die Komposition gehört zur Gattung des Sepolcro-Oratoriums, welche in der Karwoche aufgeführt wurden und das Begräbnis Jesu Christi darstellten. Von den fünf Personen der Handlung tragen einige pittoreske Namen, welche an das Personal in den Opern von Reinhard Keiser erinnern. Da finden sich neben dem Guten Hirten (der Countertenor Péter Bárány) Das Verlorene Schäflein & Das Wider Gefundene und Sehr Dankbare Schäflein, besetzt mit der Sopranistin Àgnes Kovács. In ihrer Auftrittsarie „Nun ihr, Blumen auf den Feldern“ lässt sie eine jugendlich-muntere Stimme mit sicherer Höhe hören. Sie beendet den Actus Primus mit der lebhaften Arie „Hinweg mit der Melancholie“, in der sie auch ihre Virtuosität ausstellen kann. Der Counter führt sich mit der getragenen Arie „Das Hirschlein nicht so schnell“ ein, deren klagender Duktus sein larmoyantes Timbre noch unterstreicht. In seiner Arie zu Beginn des Actus Secundus, „Auf, auf, mit hurtig schnellem Lauf“, kann sich die Stimme vorteilhafter darstellen.

Der Gute Hirt in Inänlichen Alter (der Tenor Zoltán Megyesi mit kultiviertem Vortrag in der kantabel wiegenden Arie „Steinhartes Felsenherz“), der Pilger (der Bassist Lóránt Najbauer mit flexibler Stimmgebung, aber auch der Fähigkeit zu liedhafter Lyrik) und das Echo (die Sopranistin Adriána Kalafszky) komplettieren die Besetzung. Das Orfeo Orchestra musiziert unter Leitung von Györgyi Vashegyi inspiriert und kontrastreich, wie es schon in der Introductio zu hören ist, die gewichtig einsetzt und sich dann zu hurtigem Fluss wandelt. Der Purcell Choir wartet in zwei Nummern am Ende des Werkes (Chorus deren Hirten und Chorus deren Schäflein) mit feierlichen und freudvollen Tönen auf. Bernd Hoppe