So ganz stimmt der Titel Franci, Stirpe canora (Die Francis, eine singende Sippe) nicht, denn Carlo Franci, der nach Untertitel die Geschichte von Vater Benvenuto, Onkel Tommaso, Schwester Marcella und Tochter Francesca sowie seine eigene erzählen soll, ist gar kein Sänger gewesen, sondern Dirigent, Komponist und nicht zuletzt Maler. Wobei außerdem nicht zutrifft, dass er der eigentliche Autor des Buches ist, denn auf das Interview mit ihm, das Maurizio Tiberi geführt hat, entfallen gerade einmal 40 der insgesamt gut 380 Seiten des Buches.
Dieser Teil ist allerdings der mit Abstand interessanteste, ihm geht jedoch ein langes Vorwort voraus, in dem Tiberi in selbstverliebter Manier davon berichtet, mit wie vielen und mit welchen berühmten Sängern er bereits zu tun hatte, zu denen auch der allerdings zu seiner Zeit allerberühmteste Bariton Benvenuto Franci gehörte, von dem er zwei Platten herausgab und den er noch persönlich kennen lernte, wenn auch erst in sehr vorgeschrittenem Alter und wenig mitteilungsfreudig, denn „il passato è passato“. Immerhin erfährt der Leser, dass die Francis aus Pienza stammen, das der ältere Bruder Benvenutos, Tommaso Franci, Tenor war, aber nur wenige Jahre lang sang und dann der Familie zur Last fiel. Zwei Zeitungsausschnitte mit Kritiken über seinen Duca fallen denn auch wenig schmeichelhaft aus.
Auch Carlo Franci, der den Autor auf seinem Landgut nahe Città della Pieve empfing, kurz nachdem er zum allerletzten Mal und zwar das Orchester des Frankfurter Opernhauses dirigiert hatte, sieht sich erst einmal einem Schwall von Fakten gegenüber, die ihm sein Interviewer über seine Familie zu berichten weiß. Es gelingt ihm dann, darüber zu berichten, wie und auf welchen Umwegen er zur Oper kam, als Kind erlebte, wie Richard Strauss, Mascagni und Giordano das Wirken seines Vaters in ihren Opern zu schätzen wussten, wie er den Reiz der menschlichen Stimme und besonders den der Mezzosoprane erst entdecken musste. Überraschendes erfährt der Leser über Christina Deutekom, Marilyn Horne, Katia Ricciarelli, Renato Bruson, Denia Mazzola, die nicht verneinen konnte, dass er der einzige Dirigent ist, mit dem sie nicht gezankt hat. Dafür stellt er ihr das Zeugnis aus, dass sie zwar eine schlechte Sängerin, aber eine große Künstlerin sei.
Der ersten Filmmusik mit erst 19 Jahren für einen Streifen mit Gina Lollobrigida folgen viele andere, besonders im antiken Zeitalter spielende, so dass bis heute noch Tantiemen fließen.
Obwohl die Eltern wollen, dass er Jura studiert, wird Carlo Franci Dirigent, hat sein Debüt mit Hänsel und Gretel, mehr als deutsche Opern (obwohl er der Verfasserin einmal anvertraute, sein Traum sei Strauss‘ Elektra) aber haben deutsche Opernhäuser eine bedeutende Rolle in seiner Laufbahn gespielt. Bewegend war offensichtlich der Abschied von den Frankfurtern, insgesamt, weiß er deutsche Orchester sehr, deutsche Dirigenten („eins, zwei, drei….“) weniger zu schätzen. Deutschland bzw. Berlin und die Deutsche Oper bescherten ihm das spektakulärste Opernereignis mit einem Otello, der mit 45 Minuten Applaus und Domingo als klavierspielendem Canzonensänger sehr spät in der Nacht endete. Dabei erwähnt Franci nicht, dass dem Tenor vom Haus drei Dirigenten zur Auswahl vorgeschlagen wurden und dieser Franci wählte, und er irrt, wenn er meint, Pavarotti hätte versucht, diesen Rekord mit einem Edgardo zu schlagen. Es war der Nemorino.
Eine andere bedeutende Wirkungsstätte war Südafrika, dem er treu blieb, als andere Künstler das Land boykottierten, wo er durchsetzte, dass Schwarze die Generalproben besuchen durften, wohin er Orff-Instrumenten aus Deutschland zur musikalischen Erziehung der Schwarzen einführte und das ihn erst jetzt enttäuschte wegen der dort inzwischen herrschenden Korruption.
Nahe Verwandte genießen in den Ausführungen von Franci keinen besonderen Schutz, so wird von der lunga decadenza des zu lange gesungen habenden Vaters ebenso gesprochen wie von der voce stretta der Schwester. Was Franci damit meint, Domingo seit nur von der Stimme, aber zum Glück nicht vom Charakter her Tenor gewesen, bleibe unerforscht, keinen Zweifel aber lässt das Attribut matto für Bonisolli aufkommen, der in St. Gallen aus „bella figlia d’amore“ verschwand.
Über den Vater gibt es auch viel Anekdotisches zu berichten, so der Streit mit Lauri Volpi im Tell um eine Collinetta, von der beider herunter singen wollten, oder der Umstand, dass der Dirigent in Argentinien geboren wurde, weil die schwangere Mutter den Vater begleiten musste, damit der nicht die gesamte Gage seiner Leidenschaft, dem Pokerspiel, opferte. Aber nicht nur der Dirigent bedient den Interviewer mit Neuigkeiten, das geschieht auch umgekehrt, wenn letzterer mitzuteilen weiß, dass Benvenuto Franci in Toti Dal Monte verliebt gewesen sei.
Das Interview gerät trotz der selbstverliebten Vorgehensweise von Tiberi zu einer Fundgrube von nicht nur Anekdotischem, sondern durchaus auch Grundsätzlichem, dass eine Reihe seltener oder bisher noch nie veröffentlichter Fotos eingestreut ist, macht es noch wertvoller. Inzwischen kann es als eine Art Vermächtnis des Dirigenten angesehen werden, dem danach, obwohl er sich mit Gedanken an eine Masterclass trug, nicht mehr viel Zeit vergönnt war.
Die sich anschließende Chronologie ist umfangreich, aber nicht vollständig, was im Vorwort dazu zugegeben wird.
Das nächste Kapitel ist Benvenuto Franci gewidmet, handelt von einem Besuch bei dem bereits dementen Bariton, dessen Tochter von einem Koffer mit Materialien über die Karriere zu berichten weiß, der von der Mutter irrtümlicherweise weggeworfen wurde. Immerhin treibt der Verfasser bei einem Freund in Wien noch einiges Material auf, dazu kommen wenig interessante Forschungsergebnisse über die Ahnenreihe und schließlich noch Zeitungsausschnitte über die Vorstellungen, an denen Benvenuto mitwirkte, angefangen von Lodoletta 1917 als absolutes Debüt.
Wenn man das alles zur Kenntnis nimmt, staunt man erst einmal darüber, wie vielseitig der Bariton, der auch in Tenorhöhen und Basstiefen ohne Mühe gelangte, war, denn er sang auch Pizarro, Telramund, Barack, als letztes Rollendebüt Hans Sachs in Palermo unter Tullio Serafin, aber vor allem auch, wie reich das Repertoire der Opernhäuser in den Zwanzigern und Dreißigern war, wie armselig dagegen das der heutigen Theater.
Als Tamagno dei baritoni wurde Franci gehandelt, die Bösewichter, er sang auch die Uraufführung von La Cena delle Beffe, waren seine bevorzugten Rollen, aber auch Escamillo. In Berlin sang er 1929 den Luna, 1941 spielte er im Bunker des Hotels Kaiserhof Poker, 1948 sang er noch den Don Carlo mit La Callas als Leonora. Ein doppelter Schädelbruch konnte seine Karriere nicht beenden, erst ein Sturz 1956 in Palermo. Danach war er noch eine Art direttore artistico, wurde in Rom von der Tochter betreut.
Wie vielen Sängern er Vergangenheit geht es auch Benvenuto Franci, dessen Stimme auf Platten nicht so wiedergegeben wird, wie sie die im Ohr hatten, die ihn noch auf der Bühne erlebt hatten. Ihm wurde die schönste mezza voce di baritono nachgesagt, aber auch ein markerschütterndes Forte, allerdings machte sich wohl auch in den letzten Jahren ein Registerbruch bemerkbar. Eine ausführliche Discografia ab 1920 enthält Aufnahmen von Phonotype Columbia, später der Società Nazionale del Grammofono.
Zahlreiche Fotos, Karikaturen und Zeitungsartikel geben einen Einblick nicht nur in die Karriere Francis, sondern in das Opernleben in Italien ganz allgemein.
Von Tommaso Franci, dem Tenor, gibt es, da wenig überliefert ist, nur eine Chronologie ebenso von Marcella Franci, die immerhin 1944 in Rom mit Ferruccio Tagliavini und Tito Gobbi an der Seite in Rom in Gounods Faust die Margherita sang.
Von Francesca Franci, renommierte Mezzosopranistin selbst, berichtet Tiberi pikiert, dass sie ihm kein Interview gewährte, was zumindest dann nicht verwundert, wenn man sich die Rückseite des Buches ansieht, die Maurizio Tiberi im doppelten Sinne hemdsärmelig zwischen einem sehr trübsinnige aussehenden Carlo und einer übertrieben lachenden Francesca Franci zeigt. So sind dem Mezzosopran auch nur eine Cronologia teatrale und eine Discografia, beide unvollständig, gewidmet. Die dem Vater zugedachte ist vollständiger, aber nicht perfekt, ihm ist zusätzlich eine Filmografia gewidmet und auch als Komponist wird er gewürdigt mit der Ansicht der CDs, die Mittelalterliches und Afrikanisches als Stimulans hatten. Daneben gibt es viele Aufnahmen aus dem Fenice. Auf den Maler Carlo Franci wird mit www.carlofranci.it verwiesen.
Ein doppeltes Namensregister und ein zweiseitiger Artikel, der einem „amico“ gewidmet ist und eigentlich in dem Buch nichts zu suchen hat, beenden das zwar stellenweise recht konfuse, aber dank der Mitwirkung Carlo Francis überaus interessante Buch (Tima Club, kein ISBN, verfügbar bei Bongiovanni, Bologna, www.bongiovanni70.it). Ingrid Wanja