Wie in Endlosschleife rollten ab den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts Pietro Metastasios Geschichten dysfunktionaler Familien zuerst über die italienischen und rasch auch europäischen Bühnen. Die Zuschauer konnten sich in diesen barocken Opernnovelas vieler Grundmuster sicher sein: grausame Väter, gestörte Beziehungen zu Töchtern und Söhnen, Zwangsheiraten aus dynastischen Gründen, Todesurteile, vertauschte Kinder usw. Solche Standardsituationen überschrieb auch Christoph Willibald Gluck in seinen ersten italienischen Opern, die nahezu alle ausschließlich die Erfolgsmuster Metastasios nutzten. 1737 war er nach Mailand gekommen und debütierte nach Ausbildung durch Sammartini dort 1741 in dem für einen Opernkomponisten nach den Maßstäben der Zeit „reifen“ alter von 27 Jahren mit Artaserse. Nach einem Abstecher nach Venedig kehrte er 1743 mit dem zehn Jahre zuvor durch Caldara erstmals und in den folgenden Jahren von einem Dutzend weiter Komponisten vertonten Demofoonte nach Mailand zurück. Nun liegt Glucks dritte Oper erstmals auf CD (3 CDs Brilliant Classics 95283) vor.
Alan Curtis war dafür 2014 mit dem von ihm 35 Jahre zuvor gegründeten Barockensemble Il Complesso Barocco und einem handverlesenen Ensemble in das nahe Vicenza gelegene Lonigo gereist, um das dreiaktige dramma per musica zu beleben. Titelheld Demofoonte ist der König von Thrakien, der nach einem Gebot des Apoll eine Jungfrau opfern will. Seine Wahl fällt auf Dircea, die Tochter seines Fürsten Matusio. Dircea ist bereit heimlich mit Demofoontes Sohn Timante verheiratet, der vom Vater aus dem Feld zurückgerufen wird, damit er die phrygische Prinzessin Creusa heiratet. Timantes Bruder Cherinto liebt Creusa. Nachdem zum dramatischen Höhepunkt am Ende des zweiten Aktes Timante und Dircea nahc Bekanntwerden ihrer Heirat zum Tode verurteilt werden, lösen sich im dritten Akt durch plötzlich aufgetauchte Briefe die Konflikte auf: Dircea ist Demofoontes Tochter, Tigrane der Sohn des Matusio, Creusa entdeckt ihre Liebe zu Cherinto.
Nach der von Curtis aus Ipermestra entlehnten dreiteiligen Sinfonia entwickelt sich diese Geschichte in einer Folge von schätzungsweise zwei Dutzend Arien, dem Duett Dircea – Timante am Ende des zweiten Aktes und einem Chor am Ende der Oper über drei Stunden in den Bahnen feiner Gesangskunst, die jeden Freund barocker Opern entzücken muss. Im Mittelpunkt stehen der damals gerade erst 20jährige amerikanische Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen als Timante, der sich mit „Sperai vicino al lido“ tapfer und fast kriegerisch zeigt – es folgt eine entsprechend martialische Marcia – und die von dem Star-Kastraten Carestini kreierte Partie mit draufgängerischer Verve, interessantem, nicht rundem, Timbre singt. Die umfangreiche Begleitung und die Situationen durch aufregendes Orchesterspiel durchgehend erhellende Orchestersprache malen die 24 Spieler des Complesso Barocco prachtvoll aus. Mit schöner Farbe, einem silbrig feinen Vibrato singt Sylvia Schwartz die Dircea. Ihr umfangreiches Duett mit Timante „La destra ti chiedo“ schöpft ganz aus dem Reichtum einer Gefühlswelt, die Händel erschlossen hatte. Romina Basso verleiht dem Timante-Bruder Cherinto mit ihrem dunklen, recht herben und dabei sehr individuellen Mezzosopran und energisch scharfen Rezitativen ein Gesicht. Im Zusammenspiel mit der anderen Mezzosopranistin, der weichen und von Ann Hallenberg mit erlesenen Koloraturen gesungenen Creusa, ergeben sich reizvolle Kontraste. Der Bariton Vittorio Prato spielte als Matusio damals schon seine eloquente Bühnenpersönlichkeit aus, als Demofoonte steht Tenor Colin Balzer, wenngleich in der virtuosen Arie à la Händel „Perfidi! Già che in vita“ nicht überfordert, doch farblos, ein wenig im Abseits, und Nerea Berraondo bleibt mit splissigem Mezzo als Anführer der Palastwachen eine Randfigur. Rolf Fath