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Eine seit langem vergessene Oper, die ihre (zu kurze) Auferstehung verdiente, ist rund 185 Jahre nach der Geburt des Musikers und Komponisten Temistocle Marzano wiederentdeckt worden. Marzano, Lieblingsschüler von Mercadante, wurde von Salerno, seiner Adoptivstadt , damit geehrt, dass sie seine Oper I Normanni a Salerno im Januar 2006 mit Erfolg in eben dieser Stadt, Salerno, wiederaufführte.
Diese Oper, die 1872 das Teatro Verdi von Salerno eröffnete, ist danach wegen ihrer Komplexität nie wieder gegeben worden. Vier Akte, drei Stunden Musik, fünfzig Orchestermitglieder, vierzig Choristen, mehr als fünfzig Tänzer und Statisten – das erfordert einen enormen Aufwand. Die Wieder-Produktion und Edition der Oper stammte von Eugenio Paolantonio, dem Vorsitzenden der Salerner Organisation, die eine informative website zum Thema unterhält. Die Orchesterleitung der Wiederentdeckung hatte man Giovanni Battista Bergamo anvertraut, der sich in der Vergangenheit für seinen Einsatz im italienischen Musiktheater einen Namen gemacht hatte. Und die allgemeinen Bemühungen umfassten quasi den ganzen Ort, wie man den zum Teil anrührend-naiven Aufführungsfotos entnehmen kann – es war ein Werk der Liebe.
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Die Geschichte spielt im 12. Jahrhundert, als die Normannen unter Wilhelm Eisenarm, Sohn von Tancredi d’Altavilla, der Stadt Salerno gegen den Ansturm der Sarazenen zu Hilfe eilen. Die Geschichte erinnert an den Widerstand der Bevölkerung von Salerno und an die unglückliche Liebe zwischen Bianca, Tochter des Königs Guaimaro und Verlobte von Guglielmo, zu Ainulfo, Verräter am eigenen Volk und an seinem Glauben. Dieser dringt heimlich in den Palast ein, um Bianca vor ihrer Hochzeit zu entführen, womit er scheitert. Er droht, den König Guaimaro zu ermorden, und begeht schließlich Selbstmord, um der Selbstjustiz durch das Volk zu entgehen.
Die Wieder-Aufführung war Teil eines größeren Projektes, das sich „Die Normannen in Süditalien“ betitelt. So wurden die majestätischen Türme und Burgen entlang der Südküste, wo der Einfluss der Normannen noch abzulesen ist, zu Schauplätzen von Aufführungen, auch von Opern.
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Komponist, Oper und geschichtliches Umfeld: Die Oper I Normanni a Salerno wurde zum ersten Mal am Teatro Verdi von Salerno am 11. Juni 1872 gezeigt und hatte bei Publikum und Kritik großen Erfolg. Dirigent war der Komponist selbst, der nicht zuletzt wegen dieses Erfolgs berechtigte, aber später nicht erfüllte Hoffnungen hegte, dass sein Werk auch an größeren Bühnen aufgeführt werden würde. Die Kosten für die Salerneser erwiesen sich jedoch als zu hoch, und das Vergessen senkte sich – wie es schien, für immer – über das Werk. Einen lobenswerten Rettungsversuch unternahm dann der Mediziner und Opernenthusiast Guglielmo Longo, der in den dreißiger und später noch einmal in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Aufmerksamkeit auf den Komponisten und sein Werk lenkte.
Temistocle Marzano hat nur wenig über sein Leben hinterlassen. Herausragend ist sein Studium bei Mercadante. Neben seiner Oper I Normanni erinnert man sich vielleicht noch an La Perseveranza (Mailand 1872). Informationen über sein Leben sind fragmentarisch. Er wurde 1820 in Procida geboren und starb 1896 in Salerno. Seine Studien vollendete er am Real Collegia di Musca und am Conservatorio S. Pietro a Majella in Neapel, wo er mit Florimo (Belinis Freund) und Cesi zusammmentraf und von Zingarelli und Mercadante (seit 1840 Direktor des lnstitutes) unterrichtet wurde. Mercadante selbst hielt ihn für seinen besten Schüler. Nach seiner Ausbildung ging Marzano (so sein Biograf Longo) nach Civittavecchia, dann nach Salerno, wo er am Jesuitenkolleg als Maestro Concertatore angestellt war, danach als Leiter des bekannten Theaters La Flora. Von 1869 bis zu seinem Tode stand er dem Orchester und der der Scuola des Waisenhauses (Scuola Musicale dell’Orfanotrofio Umberto I.) und der eigens gegründeten Banda Municipale (1887) vor. Später wurde dann er Direktor des Teatro Verdi in Salerno; und als glühender Patriot und Maestro di Capella Pontificio für Pius IX. verfasste er ein reiches geistliches Oeuvre (darunter ein Requiem, ein „Magnificat„ und eine Messe) neben umfangreicher Gelegenheitsmusik.
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Die Oper I Normanni muss man, ohne zu übertreiben, als eindrucksvoll bezeichnen. Der musikalische Stil Marzanos erinnert (eben in der Folge Mercadantes) weniger die überschäumenden Einfälle einer buffa Rossinis, als vielmehr Echos von Bellini und Donizetti sowie letzten Endes auch von Verdi. Die Einflüsse einer Lucia auf Bianca, der weiblichen Hauptrolle, sind nicht zu überhören. Die Rivalität zwischen zwei Familien und der Konflikt zwischen Vaterlands und persönlicher Liebe finden sich sowohl bei Bellini als auch in den Normanni.
I Normanni a Salerno sind eine opera seria in starken Farben, deren interessante Musik einerseits die vielfältigen Einflüsse des Königlichen Musikkollegs von Neapel widerspiegeln und andererseits die des zeitgenössischen(!) melodramma Verdis. Die Charakterzeichnung eines Don Carlo oder eines Ernani findet sich auch in der Psychologie einer Figur wie der des eifersüchtigen und gewalttätigen Ainulfo oder dem eher heroischen Guaimaro, der einem Bass anvertraut ist und nicht – wie damals üblich – einem Tenor. Die Rollen sind so beschaffen, dass sie nicht leichte, sondern kraftvoll heroische spinto-Stimmen für die Sopran-, Tenor- und Baritonpartie erfordern. Und in der Tat ist die Baritonrolle des Guglielmo einem Silva oder Posa nicht unähnlich.
Der Wunsch nach dem Zeitgemäß/Modischen lässt sich auch an der Verwendung von zeitgenössisch beliebten Musikstücken erkennen: man findet Triumphmärsche, Fanfaren, brillante Walzer, romantische Melodien, volkstümliche Tarantellen, Gebete und vieles von dem, was wir auch bei Verdi hören – etwa den raschen Wechsel zwischen in sich abgeschlossenen Gesangsnummern und Rezitativen. Es fehlen durchaus nicht originelle harmonische Lösungen und ungewöhnliche Melodien. Bestimmte musikalische Themen sind einzelnen Personen zugeordnet, Leitmotiven vergleichbar, aber später auch in Verdis Aida und dann von Puccini verwendet. Der Chor ist in die Handlungen eingeflochten, wie in den Opern Verdis, und kommentiert die Aktion, drückt die Meinung des Volkes aus, vergleichbar mit der Rolle des Chores im antiken Drama. Ihm gebührt auch das Erflehen des göttlichen Eingreifens, was im Intermezzo von Cavalleria erneut der Fall ist. Die Verbindungen Mascagnis mit Salerno sind ja hinreichend bekannt: Franz Carella benannte 1925 nach dem Komponisten und Freund das historische Liceo Musicale und 1933 das Orchestra Sinfonica „Mascagni“, das dieser begründet hatte und bis zu seinem Lebensende leitete.
Unüberhörbar sind in Marzanos Oper ebenfalls die Einflüsse der später von Mascagni verwendeten Tradition, die auf dem Blasorchester, der banda, von Salerno fußt und die unüberhörbar in der Instrumentation der Normanni vorhanden ist – der Hörnerchor, die Basstuba und die Blechbläser generell. Natürlich ließ auch Verdi sich von den bande musicali Italiens beeinflussen. Und Marzano war ja eine Zeitlang Chef der regionalen banda. Das positive Urteil des kompetenten und strengen Publikums der damaligen Zeit wird von den musikalischen Fachleuten heute bestätigt und lässt keinen Zweifel aufkommen an der Qualität und damit der Bedeutung der Musik Marzanos.
Das Libretto der Normanni stammt von eben jenem Leone Emanuele Bardare, der von Verdi gebeten wurde, das Libretto des Trovatore zu vollenden. Zudem passte er das Libretto von Rigoletto den Forderungen der Zensur an. Vieles erinnert im Libretto der Normanni an Ernani – die dramatische Erzählweise, die inneren Konflikte der Hauptpersonen, die plötzlichen Wendungen der Handlung, oder auch die Unterbrechung des Festes am Schluss des ersten Aktes – eine für das 19. Jahrhundert typische Klimax, die Emphase des szenischen Wortes. Ainulfos Arie „T‘ invola“ erinnert an „Ernani, Ernani, involami“ und bekundet die Erfahrung in der Zusammenarbeit des Librettisten mit Verdi.
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Die Handlung selbst fußt auf einer historisch nicht belegten Episode, nach der zu Beginn des Eindringens der Normannen in Süditalien (1016) vierzig Soldaten auf der Rückkehr von einer Pilgerfahrt ins Heilige Land In Salerno Rast machten und die Stadt von den Sarazenen belagert antrafen. Die Kreuzritter boten dem Langobardenkönig Guaimario III. ihre Hilfe an und besiegten die Ungläubigen. Wahrscheinlich hatte der König selbst die Normannen zu Hilfe gerufen, die nach Italien als Söldner gekommen waren. Auch die dann nicht vollzogene Hochzeit zwischen Bianca und Guglielmo Braccio di Ferro beruht wohl eher auf dem historischen Wissen um Hochzeiten zwischen langobardischen Prinzessinnen und normannischen Condottieri.
Das musikalische Drama scheint also auf einigen historischen Episoden zu beruhen, die in eine bewusst patriotisch gestaltete Geschichte umgeformt wurden. Das Feiern des heroischen Widerstandes von Salerno und des Opfers von Bianca stellt eine klare Verherrlichung der Stadt und ihrer politischen Klasse dar, was auch am Beginn des Librettos die Widmung für die Stadt beweist.
Nach der Einigung Italiens erlebte auch Salerno dank der Aktivitäten seines ersten Bürgermeisters einen großen Aufschwung – gekrönt vom Bau eines Opernhauses, dem Teatro Municipale, später Teatro Verdi, das 1871 vollendet wurde. Die den Aufschwung tragende liberale Bürgerschaft strebte nach einer historisch untermauerten Legitimation, was u.a. durch die Förderung der Kultur, insbesondere der Oper, gewährleistet war. Das Sujet der Normanni sollte außerdem den patriotischen Zusammenhalt der Bürger befördern. In Bezug auf die Religion war man nicht zimperlich, die Sarazenen als Ungläubige zu diskriminieren, wie es der Chor im zweiten Akt zeigt.
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Verbreitung: In dieser nur einen Aufführung der Oper in Salerno nach der Premiere 1871 nun im Januar 2006 hatte das Teatro Verdi kompetente Sänger versammelt. Die Rolle des Guaimaro, Fürst von Salerno, wurde dem Petersburger Bass llia Popov gesungen. Gianni Mongirdino/Tenor war der Condottiere Ainulfo. Der Bariton Sergio Bologna war der Herzog Guglielmo Eisenarm. Berta, die Vertraute von Bianca, wurde von der Mezzosopranistin Ekaterina Metlova gegeben. Bianca wurde von der Sopranistin Sabrina Messina gesungen. Der Tenor Massimo Ferri verkörperte Guaimaro und Agar. Der Chor Patanero aus Alessandria wurde von Gian Marco Bosio geleitet. Giovanni Battista Bergamo dirigierte das Ganze, sowohl in Salerno 2006 wie auch in einer weiteren Gastvorstellung im Politeama von Neapel im Jahr darauf (2007). 2009 gab die Sopranistin Patrizia Morandini in Lissabon ein Recital mit Auszügen aus der Oper zum Klavier. Danach versank die Oper wieder in ihren gut geübten Schlaf. Was ein Jammer ist. Zumindest kursiert ein mehr oder weniger grauer Mitschnitt auf einem dto. Label. Geerd Heinsen
Der Artikel beruht in Teilen auf der Einführung von Ginevra de Majo im Programmheft zur Aufführung in Salerno 2006. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.