Sigrid Kehl

.

Welches Weihnachtsoratorium für die Feier in den eigenen vier Wänden? Es soll schon etwas Besonderes sein. In meinen Beständen findet sich der Videomitschnitt aus der Leipziger Universitätskirche vom 15. Dezember 1963. Der dürfte besonders genug sein. Die Kirche im Zentrum der Stadt gibt es nicht mehr. Obwohl sie die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden hatte, wurde sie 1968 abgerissen. Proteste hatten nichts genützt. Das Gotteshaus war den hochfliegenden Neubauplänen der sozialistischen Machthaber im Wege. Leipziger Bürger haben das bis heute nie verwunden. Die Formen sind im 2017 fertiggestellten Neubau der Paulinerkirche an alter Stelle bewahrt – der Klang des Raumes in eben dieser seltenen Aufnahme. Sie kann getrost als musikalisches Denkmal gelten. Die Kameras fingen nicht nur das musikalische Geschehen ein, sie dokumentierten auch das Kirchenschiff fünf Jahre vor seiner Zerstörung. Entdeckt hatte die Fernsehaufzeichnung, die auch im Folgejahr nochmals gesendet wurde, der Leipziger Paulinerverein im Deutschen Rundfunkarchiv.

„Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn!“ Die Altpartie sang damals Sigrid Kehl. Mit einer gewissen Kühle und Distanz gelang ihr eine Wirkung der besonderen Art. Ein inniges Gefühl des Moments stellte sich nicht bei der Künstlerin, sondern beim Publikum. Nicht sie waren ergriffen, ihre Zuhörer waren es. Als mir der bewegende Mitschnitt wieder in die Hände fiel, erreichte mich die Nachricht von ihrem Tod. Neben der Kehl sind Elisabeth Breuel (Sopran), Peter Schreier (Tenor) und Günther Leib (Bariton) zu hören. Als Verkündigungsengel hat der spätere Schlagersänger und Entertainer Hans-Jürgen Beyer, einen seiner ersten öffentlichen Auftritte. Thomaskantor Erhard Mauersberger leitet den Thomanerchor, dem Bayer angehörte, und das Gewandhausorchester Leipzig.

Die Sängerin wurde am 23. November 1929 in Berlin geboren. Nach dem Studium an der Berliner Musikhochschule wurde sie in das Nachwuchsensemble der Lindenoper aufgenommen, wo besondere Begabungen zusätzliche Förderung erfuhren. Zuerst ist sie 1957 an diesem Haus als eines der Polowetzer Mädchen im zweiten Akt von Borodins Fürst Igor aufgetreten. Noch im selben Jahr wurde sie ans Opernhaus Leipzig verpflichtet, dem sie bis zum Bühnenabschied verbunden blieb. Keine Rolle ihres Fachs, die sie nicht gesungen hätte. Höhepunkt der Leipziger Karriere war die Brünnhilde in Wagners Ring in der Inszenierung von Joachim Herz, die in vielen Punkten die spektakuläre Deutung von Patrice Chéreau 1976 in Bayreuth vorwegnahm. Die Tetralogie wurde szenisch in der Entstehungszeit angesiedelt. Damit hatte sich die Sängerin nach einem allmählichen Übergang als Hochdramatische etabliert. Ihre Wirkung auf der Bühne war enorm und konnte durch Mikrophone nur bedingt eingefangen werden. Man musste die Kehl auch sehen. Sie war eine hoheitsvolle Erscheinung. Ihre Brünnhilde ist mir als kontrolliert und kühl in Erinnerung geblieben. Sie war eine stolze Wotans-Tochter, ließ sich niemals gehen – auch stimmlich nicht. Bleibenden Eindruck hinterließ sie als Amme in der damals noch selten gespielten Frau ohne Schatten von Strauss, mit der sie auch an die Berliner Staatsoper zurückkehrte. Die jeweiligen Aufführungen hatten umjubeltes Festspielniveau. Eng mit ihrer Karriere ist die Ortrud in Lohengrin verbunden gewesen, die sie auch an die Wiener Staatsoper führte.

Sigrid Kehl hat in ihrer langen und überaus erfolgreichen Karriere relativ wenige Tondokumente hinterlassen, die nicht einmal alle auf CD gelangt sind. Ihre herbe, schnörkellose Stimme mit fabelhaftem Sitz und hohem Wiedererkennungwert ist um 1970 auf einer LP aus der Reihe „Opernabend mit …“ des DDR-Labels Eterna umfassend eingefangen. Paul Schmitz, der Dirigent, wirkte damals als Generalmusikdirektor am Opernhaus Leipzig. Höhepunkt des Programms ist der Schlussgesang der Brünnhilde als Vorgriff auf die szenische Gestaltung der kompletten Partie. In einer deutsch gesungenen Gesamtaufnahme von Händels Radamisto ist sie die Zenobia. Als Mercedes wirkt die in der Leipziger Carmen-Plattenproduktion mit. In einer Szenen-Folge aus Don Carlos steuert sie die Eboli bei. Völlig in der Versenkung verschwunden ist ein Querschnitt durch Die Macht des Schicksals von Verdi mit ihrer Preziosilla, der auch bei Philips erschien.

Zwei Aufnahmen in der Diskographie verdienen besondere Erwähnung: Mitschnitte von Salome und Tannhäuser aus dem La Fenice. Sie sind in der CD-Reihe von Mondo Musica herausgekommen, deren Erlös in den Wiederaufbau des abgebrannten Opernhauses der Lagunenstadt geflossen ist. Der Klang ist nicht berauschend. Die Kehl ist als Herodias und als Venus zu hören, Rollen, die sie auch an ihrem Stammhaus in Leipzig gesungen hat. Beide Dokumente sind aber auch aus anderen Gründen interessant. Ernst Kozub gibt den Tannhäuser, während René Kollo, der sich die Partie ebenfalls erarbeiten sollte, den Walther singt. Da die so genannte Dresdener Fassung gespielt wird, bleibt Walthers schönes Solo im Sängerkrieg erhalten. Am 17. Dezember 2024 ist Sigrid Kehl gestorben. (Foto Wikipedia) Rüdiger Winter