Händels Oratorium von 1743 Semele gibt EuroArts in einer ungewöhnlichen Fassung auf zwei DVDs heraus (2057618). Das von Thomas Guthrie inszenierte Konzert fand im Mai 2019 im Londoner Alexandra Palace Theatre statt und war Teil der Initiative Monteverdi Choir & Orchestra. Deren Spiritus rector ist John Eliot Gardiner. 1978 gründete er die English Baroque Soloists, das Orchester wirkt auch in dieser Aufführung mit, ebenso der Monteverdi Choir, mit dem der Dirigent seit Jahrzehnten eng zusammenarbeitet.
Die von Patricia Hofstede kostümierten Gesangssolisten werden angeführt von Louise Alder in der Titelrolle, die in Ausdruck und Bravour gleichermaßen überzeugt. Im fließenden weißen Gewand führt sie sich mit dem Air „O Jove!“ ein und lässt einen klaren, leuchtenden Sopran hören. Ihr„Endless pleasure“ am Ende des 1. Aktes hat Gardiner seltsamerweise dem Wahrsager Augur zugeteilt, der im sportlichen Outfit mit Schiebermütze auf einem Fahrrad hereinfährt. Angharad Rowlands absolviert die berühmte Nummer mit lieblichem Sopran. Im 2. Akt singt Semele auf einer Ottomane das träumerische „O sleep“ und Louise Alder kann hier mit schönen lyrischen Valeurs aufwarten. Im folgenden „With fond desiring“ während Semeles Liebesspiels mit Jupiter bringt die Interpretin dagegen gurrend-sinnliche Töne ein. Mehrere Airs ganz unterschiedlichen Charakters hat die Titelheldin im letzten Akt zu bewältigen. Im kokett-selbstverliebten „Myself I shall adore“ bezaubert die Sopranistin mit fein getupften staccati, im innigen „Thus let my thanks be paid“ mit reicher Lyrik. Dem launischen „ I ever am granting“ folgt mit dem trotzigen „No, no, I’ll take no less“ der virtuose Höhepunkt der Titelpartie mit schier endlosen, rasenden Koloraturläufen, die Alder in stupender Manier meistert. Daneben ist Lucile Richardot in der Doppelrolle der Juno/Ino ein weiteres Ereignis der Aufführung. Die Altistin macht schon als griechisch gewandete Ino, Semeles Schwester, mit dem energischen dunklen Timbre auf sich aufmerksam, doch als Juno, Jupiters Gattin, nimmt sie dem Zuschauer durch ihre furios-keifende Tongebung und die donnernden Ausbrüche geradezu den Atem. So werden trotz unorthodoxer Stimmführung ihr rasendes Air„Hence, Iris, hence away“ im 2. und das Air „Above measure“ im 3. Akt zu Höhepunkten der Aufführung.
Am Ende wird Ino auf Jupiters Beschluss mit dem Prinzen Athamas getraut, den Carlo Vistoli mit klangvollem Countertenor singt. Die Freude auf die bevorstehende Vermählung weiß er im Air „Despair no more shall wound me“ mit souverän geformten Koloraturgirlanden auszudrücken. Ungewöhnlich jugendlich besetzt ist der Jupiter mit Hugo Hymas, dessen Tenor jung und schwärmerisch klingt. Das Air „I must speed amuse her“ zeigt seine Koloraturversiertheit, das berühmte „Where’er you walk“ die lyrische Gesangskultur. Mit schmeichelnden, lockenden Tönen weiß er in „Come to my arms“ im 3. Akt sein Verlangen nach Semele zu formulieren. Gianluca Buratto gefällt mit seinem schlanken, kultivierten Bass in der Doppelrolle von Semeles Vater Cadmus und dem Gott des Schlafes Somnus. Ein zartes Geschöpf ist Angela Hicks als Liebesgott Cupid, die das lieblich wiegende Air „Come, zephyrs“ mit kindlicher Stimme singt.
Ungewöhnlich platziert bis an die Rampe ist der Monteverdi Choir, der wie stets für aufregende musikalische Momente sorgt – so mit dem dramatisch aufgepeitschten „Avert these omens“ im 1. oder dem auftrumpfenden „Now Love“ und dem feierlichen „Bless the glad earth“ im 2. Akt. In „O terror and astonishment“ drückt der Chor am Ende die Betroffenheit ob Semeles Schicksal aus, während das unmittelbar folgende „Happy, happy“ mit jauchzendem Schwung den glücklichen Ausgang preist. Denn Apollo prophezeit, dass aus Semeles Asche Bacchus aufsteigen wird – und alle sind in Sektlaune. Auch die Musiker bekommen ein Glas gereicht – mit ihrem differenzierten Spiel, ob von gravitätischem Ernst oder bewegter Munterkeit, haben sie es mehr als verdient (weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Bernd Hoppe