Wer turnt denn da auf den Bühnen herum, die in schweren Nebel gehüllt sind? So, als ragten sie nicht aus dem Meer hervor, sondern aus einer Schlucht des Hochgebirges. Ein junger Mann setzt ein Bein vorsichtig vor das andere. Als taste er sich nach vorn, mehr entschlossen und neugierig denn ängstlich. Unter ihm der unberechenbare Abgrund. Am Himmel fliegen schwarze Vögel. Unglücksvögel. Alte Bekannte aus Mythen, Liedern und Opernstoffen. Sie verheißen nichts Gutes. Wird der waghalsige Wanderer sein unbestimmtes Ziel erreichen? Die Abstände, die zu überwinden sind, werden von Mal zu Mal größer. Das Basecap auf seinem Kopf scheint der einzige Schutz bei dem gefährlichen Abenteuer über dem Abgrund zu sein. Nicht der Tenor Ilker Arcayürek geht durch das Bild auf dem Cover seines neuen Albums bei Prospero. Es ist der marokkanischen Foto-Künstler Achraf Baznani auf einem wagehalsigen Selbstporträt. Sein Werk wurde mit Bedacht gewählt für das Programm aus Liedern von Franz Schubert. Der Titel des Coverbildes: Das Unvermeidliche (The Inevitable).
Wie in einer Galerie sind im Innern des Booklets der aufwändig gestalteten Neuerscheinung weitere Kunstwerke von Baznani zu sehen (PROSP 0009). Die CD selbst ist mit The Path of Life überschriebenen. Es handelt sich um eine Limited Edition mit einer Auflage von tausend. Jedes Exemplar ist handschriftlich nummeriert und damit formal einzigartig. Baznani wird mit den Worten zitiert, er mache keine Fotos, sondern erzähle Geschichten. Gerät bei so viel bildender Kunst die musikalische Seite der Neuerscheinung nicht etwas ins Hintertreffen? Die Frage ist falsch gestellt. Das als kleines Buch mit festem Einband gestaltete Album ist der Versuch, beides zusammenzubringen, für Lieder einen optischen Ausdruck zu finden. An sich ist das nicht neu. Neu ist, dass diese Bilder gegenwärtig sind und Gegenwart illustrieren wollen. So soll und kann uns Schubert noch näher rücken. Mittlerweilen trennen uns bald zweihundert Jahre vom Tod des Komponisten, der nicht annährend so alt wurde wie es seine Interpreten sind. Arcayürek zählt siebenunddreißig Jahre, zweiundvierzig sind der britische Pianist Simon Lepper und Baznani, der aus unerfindlichen Gründen auf dem Cover nicht genannt wird, was bedauerlich, wenn nicht gar peinlich ist.
Der in Istanbul geborene Tenor, der in Wien aufwuchs, schon als Kind in namhaften Chören sang, ist Österreicher und lebt mit seiner Familie in Zürich. Arcayürek hat also gut reden, wenn er seinen eigenen Text im Booklet mit dieser Feststellung beginnt: „Die schweizerische Liebe zum Detail, englische Finesse kombiniert mit Wiener Charme und einem Hauch orientalischer Melancholie machen dieses Album zu dem, was es ist – eine Melange an Emotionen, Kulturen und Epochen.“ Aufgenommen wurde im Juli 2020 im Rundfunkstudio Brunnenhof in Zürich, weshalb auch der SRF unter den Produzenten auftaucht und dafür überschwänglich gelobt wird. Bei der Auswahl gibt sich der Sänger nicht eben bescheiden. Selbstbewusst greift er zu den Meisterstücken aus Schuberts Werkstatt, die einzelnen Kategorien zugeteilt sind: Liebe, Sehnsucht, Suche nach innerem Frieden, Resignation – Erlösung. Zu den einzelnen Kapiteln gibt es auch ambitionierte aktuelle Deutungsversuche von Richard Stokes, dem renommierten Professor für Kunstlied an der Royal Academy of Music in London. Erfreulich großen Wert legt er auf die Texte, über die sich das Konzept für die Neuerscheinung zuerst und vor allem mitteilt. Stokes mäkelt nicht an jenen Vorlagen herum, die es literarisch nicht mit Friedrich Rückert aufnehmen können. Er respektiert die Auswahl des Komponisten. Bei einigen Titeln hält er mehr inne als bei anderen. So ein Fall ist Der Wanderer mit der berühmten Schlusszeile „Dort, wo du nicht bist, ist das Glück!“, in der die Romantik einen ihrer treffendsten literarischen Ausdrücke fand.
Das Gedicht stammt von Georg Philipp Schmidt von Lübeck (1766-1849). Hauptberuflich war er Kaufmann und brachte es in dänischem Staatsdienst zu hohem Ansehen. Er stammte aus Lübeck und liegt im Hamburger Stadtteil Ottensen neben Klopstock begraben. Schriftsteller war er nebenbei. Sein Gedicht überlebte nicht nur durch Schubert, der es leicht veränderte und den ursprünglichen Titel „Des Fremdlings Abendlied“ verwarf. Der Berliner Oberlehrer Georg Büchmann (1822-1884) hatte die Schlusszeile in seine berühmte Sammlung geflügelter Worte übernommen, die 1864 erstmals erschien und bis in die Gegenwart in unzähligen Auflagen und Ausgaben weitergeführt wurde als eines der Deutschen liebsten Bücher. Es ist als habe sich die Zeile von ihrem Verfasser gelöst. Sogar in Christa Wolfs Novelle Kein Ort. Nirgends über die fiktive Begegnung von Heinrich von Kleist mit Karoline von Günderrode, die beiden den Freitod suchten, ging sie ein.
Es darf also geschaut, gelesen und schließlich auch gehört werden. Selten dürfte ein Album so anregend gewesen sein wie dieses. Es ist nichts für Nebenbei oder für den Player im Auto. Ein digitales Angebot, so zeitgemäß es auch sein würde, verfehlte die Wirkung. Als Gesamtkunstwerk fordert die Neuerscheinung viel Aufmerksamkeit ein und kommt vielleicht deshalb gerade richtig in einer Situation, die zu Ruhe und Einkehr zwingt und Besuche von Konzerten so gut wie unmöglich macht. Musikfreunde waren selten so auf sich allein gestellt wie jetzt. Produziert und veröffentlicht in der Pandemie. Es braucht keinen gesonderten Aufdruck auf dem Cover. Man wird sich auch so lange daran erinnern. Die Folgen sind noch nicht absehbar: „The Path of Life“.
Arcayürek, der auch auf der Opernbühne aktiv ist, hat Erfahrung mit Franz Schubert. Bereits 2017 hatte er bei Champs Hill Records London eine ausschließlich diesem Komponisten gewidmete CD vorgelegt. Damals schrieb er im Booklet: „Franz Schuberts Musik und auch die Einsamkeit begleiten mich seit meiner Kindheit. Einsamkeit kann aus meiner Sicht durch viele Begebenheiten entstehen – durch Liebeskummer, einen Verlust, aber auch durch Umzug in ein neues Land.“ Die Vielfalt in Schuberts Gefühlswelt und seiner Musik hätten ihn „schon früh in ihren Bann gezogen“. Daran knüpft er nun an: „Wir hatten die Intention, ein Programm zu kreieren, das wie ein langes, durchgehendes Lied zum Erklingen gebracht wird: Dieser emotionalen Aufgabe habe ich mich gestellt, in dem ich jedes Lied persönlich nehme und auf mich beziehe.“ Junge Sänger, die auch gern in den sozialen Medien unterwegs sind, neigen zur Mitteilsamkeit wie es sie früher nicht gab. Sie sind viel offener als jene Künstler es waren, die ihre Groß- oder Urgroßeltern sein könnten. Sie haben kein Problem damit, sich zu ihren Gefühlen und Herzensangelegenheiten zu bekennen. Hohe Kunst des Liedgesangs wird mit ganz konkreter Lebens- und Alltagserfahrung angereichert. So muss man sich um den Fortbestand des Genres nicht sorgen. Nie gab es so viele Lieder auf dem Musikmarkt wie jetzt. Auch wenn Arcayürek seine neue CD mit achtzehn Liedern als fließendes in sich verbundenes Stück verstanden wissen möchte, gelingen die einzelnen Titel auf durchaus unterschiedliche individuelle Weise.
Der Auftakt mit der sehr bewegten Fischerweise klingt etwas belegt. Bereits beim Liebhaber in allen Gestalten auf Platz zwei verfliegt dieser Eindruck. Nun würde man sich den Aufstieg zur Höhe etwas eleganter wünschen. Obwohl nicht klar wird, in welcher Reihenfolge die Lieder aufgenommen wurden, bleibt der Eindruck, als müsse der Solist erst hineinfinden in seine Aufgabe. Mit Alinde gelingt eine erste Glanzleistung. Unterstützt von seinem Pianisten findet er für die unterschiedlichen balladesken Szenen, in denen mit wörtlicher Rede nicht gespart wird, auch rhythmisch angemessene Ausdrucksformen. Die Geschichte, die bei Sonnenuntergang beginnt und in „schwarzer Nacht“ endet, verlangt nach viel Farbe in der Stimme. Arcayürek hat sie zu bieten – und zwar reichlich. Du bist die Ruh wäre ein Lehrbeispiel für Legato, würde die Steigerung – wie in einigen anderen Liedern auch – etwas weniger forciert ausfallen. Für Ausdruck wird schon mal Schönheit geopfert. Eine Reihenfolge, die nicht die schlechteste ist für einen Liedsänger, der sich abheben will ohne abgehoben zu sein.
Zu den großen Vorzügen dieses Tenors gehört die Klarheit seines Vortrags. Seine auch schriftlich formulierten hohen Ansprüche an die Lieder gingen ins Leere, wäre nicht jedes Wort zu verstehen. Ein Vorzug, der heutzutage nicht immer selbstverständlich ist. Dabei unterstützt ihn Simon Lepper, sein hochsensibler Pianist, der den Sänger nicht vor sich her treibt sondern ihm Halt und Sicherheit gibt. Der Wanderer mit der berühmten letzten Zeile ist nach Des Fischers Liebesglück und Der Unglückliche mit gut fünf Minuten eines der längsten Lieder. Für mich stellt es den Höhepunkt des Programms dar. Es versammelt Begabung, Talent und Individualität des Tenors Ilker Arcayürek wie in einem Brennspiegel. Wer sich ein Bild von ihm machen will, wer herausfinden möchte, was er kann, wird hier fündig. Oder sollte ich mich am Ende nicht doch für die melancholischen Götter Griechenlands entscheiden? Rüdiger Winter
Das Foto oben zeigt den Tenor Ilker Arcayürek. Wir entnahmen es als Ausschnitt dem Booklet des neuen Albums „The Path of Life“.