Wagner alla Scala. Das klingt verlockend nach einem erlesenen Gericht auf der Speisekarte eines italienischen Restaurants. Im Italienischen wirkt vieles so als vergehe es auf der Zunge. Wir Deutsche reagieren darauf wie ein Pawlowscher Hund. Dass im Land von Verdi, Puccini, Donizetti und Mascagni Richard Wagner so hohes Ansehen genießt, ist womöglich nur die Umkehrung eines Teils jener Sehnsucht, mit der nördlich der Alpen nach dem Süden geschaut wird. Wagner selbst war Italien verfallen. Eine Leidenschaft, die er mit vielen Künstlern seines Landes teilte. In Italien hat sich sein Leben auf eine fast schon theatralische Weise vollendet. Wer auf dem Canale Grande in Venedig unterwegs ist, kommt zwangsläufig an der Villa Vendramin vorbei, in der er am 13. Februar 1883 gestorben ist.
Schon zu seinen Lebzeiten nahmen sich die Opernhäuser des Landes seiner Werke an. Eine herausgehobene Rolle spielte dabei die Mailänder Scala. Skira classica hat diesem Kapitel italienischer Theatergeschichte einen Titel gewidmet, der weit über eine gewöhnliches CD-Album hinausgeht. Im Grunde genommen handelt es sich um einen mit Musikbeispielen versehenen Bildband im handlichen Oktavformat (ISBN 978-88-6544-022-3). Inzwischen ist diese attraktive Memories-Serie zu stattlichem Umfang angewachsen. Es gibt auch noch lieferbare Nummern zu Verdi, der Callas und diversen Opern, darunter Così fan tutte mit der Schwarzkopf, Carmen mit der Simionato und Turandot mit der Nilsson. Sie machen sich hübsch im Regal und sind Fundgruben speziellen Wissens. In der Wagner gewidmeten Folge findet sich auch eine deutsche Textfassung. Sensationen werden nicht enthüllt. Der Mehrwert besteht in der reich bebilderten Konzentration auf Wesentliches.
In der Geschichte des Teatro alla Scala wurden Werke Wagners in mehr als 140 Jahren etwa tausend Mal in 127 Inszenierungen aufgeführt, ist gleich im ersten Satz des Textes von Enrico Girardi zu erfahren. Vergleichsweise ist das nicht wenig. Zuerst wurde am 20. März 1873 Lohengrin gegeben – dreizehn Jahre nach der Uraufführung unter Franz Liszt in Weimar. „Schon die schiere Zahl dieser Aufführungen bezeugt, dass Wagners Musik an der Scala nicht nur deutlich präsenter als an jedem anderen italienischen Opernhaus“ gewesen ist. Es kämen sogar mehr Vorstellungen zusammen als beispielsweise in den Musiktempeln von Paris, London oder New York. Von den frühen Werken wurde nur Rienzi 1964 in einer Inszenierung des österreichisch-amerikanischen Regisseurs Robert Graft mit Giuseppe di Stefano in der Titelrolle und Raina Kabaivanska als Irene berücksichtigt. Der Adriano war mit einem Tenor, nämlich mit Gianfranco Cecchele besetzt. Eine Praxis, die auch in Deutschland ausprobiert wurde, so 1957 mit Josef Traxel in Stuttgart. Die streng gekürzte Fassung in italienischer Sprache wurde von Hermann Scherchen dirigiert. Er lässt es gewaltig Krachen. Ein Mitschnitt in bescheidener Tonqualität hat sich erhalten, gibt die Wirklichkeit offenkundig nur verzerrt wieder. Er ist in diversen Ausgaben auf CD gelangt, zuletzt 2006 bei Golden Melodram. Wie gnadenlos die Striche ausgefallen sind, wird schon dadurch deutlich, dass auf der zweiten Scheibe noch Platz für zwanzig Minuten aus Verdis Forza übrig war.
Lohengrin markiert also den Beginn der Wagnerpflege in Mailand wie auch im restlichen Italien. Er wurde dort auch am häufigsten gespielt und bracht es – gleich der Walküre – auf siebzehn Inszenierungen. Als sich Arturo Toscanini 1900 erstmals dieser Oper annahm, dirigierte er bereits die fünfte. Wobei unter Inszenierung nicht im Entferntesten das gemeint ist, was die Gegenwart darunter versteht. Regisseure gab es noch nicht. Die szenische Einstudierung lag in den Händen der Bühnenbildner, was auch im Buch klargestellt wird. Es dürfte darauf hinausgelaufen sein, eine neue Aufführungsserie aus Vorhandenem zu arrangieren. Kulissen wurden behutsam ersetzt, wenn sie denn verschlissen waren. Textautor Girardi wundert sich, dass nicht auch die anderen früheren Werke des Bayreuther Kanons wie Holländer (sieben Inszenierungen) und Tannhäuser (zehn), die der italienischen Oper näher stünden als die späteren Musikdramen, die gleiche Beliebtheit erfahren hätten wie Lohengrin. Die wortreichen Meistersinger von Nürnberg stehen mit vierzehn Inszenierungen in der Statistik, Siegfried mit dreizehn, Rheingold und Götterdämmerung mit jeweils zwölf.
Auffällig ist, dass das Interesse des Publikums an Wagner schwankte. So werden – um Beispiele aufzugreifen – die Meistersinger „in den zwanziger Jahren wieder und wieder gespielt. Der Ring des Nibelungen dagegen in den Dreißigern. Und Parsifal in den Vierzigern. In den fünfziger bis siebziger Jahren wird der gesamte Wagner-Katalog praktisch regelmäßig gegeben, um dann in den Achtzigern (nur dünne zwei Titel) und Neunzigern (nur sechs) deutlich zu schrumpfen“. Danach habe es im 21. Jahrhundert ein fast vollständiges Comeback Wagners an der Scala gegeben. Auf die Gründe dieser Entwicklungen geht der Autor nicht ein. Inwieweit politische Entwicklungen eine Rolle spielen, wäre zu untersuchen. Die längste Auszeit ist Tristan und Isolde, dem charakteristischstem Bühnenwerk des Komponisten, beschieden gewesen. Es erschien nach fast dreißigjähriger Pause erst 2007 wieder auf dem Spielplan, geleitet von Daniel Barenboim, dem damaligen Musikdirektor. Für die Inszenierung war Patrice Chéreau gewonnen worden. Als hohes Paar traten Waltraut Meier und Ian Storey in Erscheinung.
Chéreau galt als sichere Bank für den Erfolg seit er 1976 in Bayreuth mit seiner spektakulären Neudeutung des Ring anlässlich der hundertsten Wiederkehr der ersten geschlossenen Aufführung für Furore gesorgt hatte. Wie damals im Festspielhaus traten auch an der Scala die Medien geballt auf den Plan. Eine einfache Radioübertragung tat es nicht mehr. Vom Fernsehen wurde die Aufführung auch in deutsche Wohnzimmer transportiert. Virgin Classics brachte eine DVD heraus. In der positiven Bewertung des künstlerischen Gehalts ist sich die Kritik weitestgehend einig gewesen, zumal die Kameras nicht nur draufgehalten hatten. Es wurde versucht, das Bühnengeschehen vor allem in den Details genau zu erfassen, ohne die Bühnentotale ganz zu vernachlässigen. Große Distanzen wie sie in Opernhäusern nun mal gegeben sind, wurden so geschickt verkürzt, dass sich die filmische Version als eigenständiges Kunstwerk behauptete. Davor war der Tristan 1964 von Lorin Maazel, 1978 von Carlos Kleiber geleitet worden. Etwas weiter zurückgeblättert in der Aufführungsstatistik, taucht auch Herbert von Karajan auf, der 1959 ans Pult trat, während auf der Bühne Birgit Nilsson und Wolfgang Windgassen, die unangefochtene Bayreuther Traumbesetzung, wirkten. Einen Mitschnitt haben unter anderen Myto und Golden Melodram veröffentlicht. Als Geheimtipp unter Sammler aber gilt seit jeher der gemeinsame Auftritt von Gertrude Grob-Prandl und Max Lorenz im Jahre 1951 (Myto und Archipel), dessen Leitung in den Händen des Italieners Victor de Sabata lag.
Tristan-Dirigent Barenboim sollte dann auch seinen ersten Nibelungen-Ring der Scala medial vermarkten. Als DVD-Box kam er 2015 bei Arthaus heraus, nun sogar im detailversessenen Blu-ray. Vorausgegangen waren Veröffentlichungen der einzelnen Teile. Während die technischen Konservierungsmöglichkeiten rasant an Fahrt aufgenommen hatten, stellten sich unerbittlich Besetzungsprobleme ein. Es wurden drei Wotane für ein Unternehmen gebraucht, das sich über mehrere Jahre hinzog: René Pape für Rheingold, Vitalij Kowaljow für Walküre und Terje Stensvold für den Siegfried-Wanderer. Und Siegfried (durchgehend Lance Ryan) dürfte sich gewundert haben, als ihn in der Götterdämmerung eine andere Brünnhilde, nämlich Iréne Theorin zum neuen Taten in die Welt entließ, als jene, die er auf dem Felsen aus langem Schlag erweckt hatte (Nina Stemme). Auch für Fricka tat es nicht nur eine Sängerin (Doris Soffel und Ekaterina Gubanova), für Mime auch nicht (Wolfgang Albinger-Sperrhacke und Peter Brander).
Angesichts des enormen Aufwands wurde die Tetralogie in ihrer Gesamtheit bislang nur ganze zehn Mal gegeben. Die meisten geschlossenen Aufführungen – drei an der Zahl – gab es in der dreißiger Jahren unter der Leitung von Siegfried Wagner, dem Sohn des Komponisten, der Bayreuther Atmosphäre südlich der Alpen zu verbreiten suchte. Wie mit goldenen Lettern hat sich 1950 Wilhelm Furtwängler in die Annalen eingeschrieben. Sein Ring ist schon deshalb einzigartig, weil sich ein kompletter Mitschnitt erhalten hat, was für diese Zeit nicht selbstverständlich gewesen ist. Es folgte eine Plattenausgabe nach der anderen. Firmen überboten sich bis heute um den besten Klang und das beste Remastering. Und als der Dirigent drei Jahre später bei der RAI noch einen kompletten Ring made in Italia nachlegte, traten beide Produktionen nach dem Motto, dass zwei Ringe besser seien als einer, in eine etwas verwirrende Konkurrenz.
Anders als das Nachkriegs-Bayreuth, das ein Jahr später eröffnen sollte, fühlte sich die Scala 1950 mehr der Tradition verpflichtet. Alten Glanz verbreitete Kirsten Flagstad, die sich nach langer kriegsbedingter Abstinenz noch immer alle drei Brünnhilden zutraute. Entschlossen umschiffte sie die Klippen der kräftezehrenden Partie. Gefährliche Spitzentöne passte die Fünfundfünfzigjährige den ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten an. Ihre Fähigkeit aber, Töne so zu fluten, dass der riesige Zuschauerraum ganz davon erfüllt war, hatte sie nicht verloren. Die Stimme der Flagstad schimmerte wie altes schweres Gold, dem ein paar Kratzer nichts von seinem Wert nehmen konnten. Sie sang ihre deutlich jüngeren Tenorpartner – Set Svanholm im Siegfried und Max Lorenz in der Götterdämmerung – regelrecht an die Wand. Die hatten zu kämpfen, nicht sie. Insofern ist dieser Ring nicht nur ein Denkmal für Furtwängler.
Kaum ein Dirigent, der sich nicht hätte sehen lassen bei Wagner-Abenden in Mailand. Es sei eine so „eindrucksvolle und lange Liste, dass man fast schneller aufzählen kann, wer auf ihr fehlt, als wer dabei ist“, vermerkt das Booklet und nennt auch Namen: Bruno Walter, Otto Klemperer, Dimitri Mitropoulos, Hans Knappertsbusch, Karl Böhm, Georg Solti, Clemens Krauss, Wolfgang Sawallisch, André Cluytens, James Levine, Giuseppe Sinopoli, Bernard Haitink, Leonard Bernstein. Dagegen ist die CD mit ihren neun historischen Dokumenten nur ein Schatten des wirklichen Geschehens. Die Hinwendung zu den Titanen Toscanini (Vorspiel zum dritten Aufzug Lohengrin, Karfreitagszauber, Meistersinger-Vorspiel), Furtwängler (Walkürenritt, Siegfrieds Tod und Trauermarsch), Karajan (Vorspiele zum ersten und dritten Aufzug Tristan) sowie de Sabata mit Isoldes Liebestod, den allerdings die Flagstad singt, ist gewollt. Macht zusammen knapp siebenundsechzig Minuten. Es hätte durchaus etwas mehr sein dürfen. Rüdiger Winter