Nach kurzer, schwerer Krankheit ist der russische Bassist Jewgenij Nesterenko, den viele Kritiker als einen neuen Schaljapin feierten, am 20. März im Alter von 83 Jahren in seiner Wahlheimat Wien gestorben.
Am 8. Januar 1938 in Moskau geboren, absolvierte Nesterenko ein Ingenieur-Studium (Schiffbau) in Leningrad und erhielt daneben Gesangsunterricht bei Vasily Lukanin am dortigen Konservatorium. Noch während der Ausbildung debütierte er 1963 am Malij-Theater als Gremin und war in den folgenden Jahren Ensemble-Mitglied des Kirov-Theaters. 1970 gewann er den 1. Preis im Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb und wurde daraufhin ans Bolschoj-Theater berufen, dem er für mehr als drei Jahrzehnte als aktiver Sänger angehörte. Durch Gesamtgastspiele dieses Hauses wurde er auch im Westen bekannt. An der Wiener Staatsoper, an der er 1975 als Filippo II seinen Einstand gab, fand er ein zweites Stammhaus. Bis 1993 sang er hier 56 Vorstellungen mit überwiegend italienischem Repertoire und wurde danach zum Kammersänger ernannt. Durch die Fernsehübertragung des fünfaktigen (italienisch gesungenen) „Don Carlo“ aus der Mailänder Scala (Januar 1978 unter Claudio Abbado) wurde er auch international bekannt und gehörte in den 80er Jahren zu den Spitzenstars in seinem Stimmfach. Er trat in der Arena von Verona und auf anderen italienischen Bühnen auf wie am Teatre Liceu in Barcelona und an der Covent Garden Opera in London. Bei den Bregenzer Festspielen 1986 war er Enrico in „Anna Bolena“.
Nesterenko unterhielt gute Beziehungen zum Sowjet-Regime, das ihn mit mehreren Orden auszeichnete. Das tat seiner Beliebtheit beim westeuropäischen Publikum aber, selbst in Zeiten des Kalten Krieges, keinen Abbruch. An den großen deutschen Bühnen war er ein regelmäßiger und gern gesehener Gast. An der Bayerischen Staatsoper erlebte man ihn neben anderen auch in deutschen Partien wie Sarastro und Daland, an der Hamburgischen Staatsoper sang er neben Gremin italienische Partien wie Filippo, Fiesco, Basilio und Don Pasquale. Daneben war er als Konzertsänger sehr aktiv, brachte Schostakowitschs Michelangelo-Suite op. 145 in beiden Fassungen (mit Klavier und mit Orchester) zur Uraufführung (1974) und war ein gefragter Gesangsprofessor, erst am Moskauer, später auch am Wiener Konservatorium. Über seine pädagogische Arbeit hat er zwei Bücher geschrieben.
Sein diskographischer Nachlaß, darunter etwa 20 komplette Opernaufnahmen (die Live-Mitschnitte noch nicht mitgerechnet), ist stattlich und dokumentiert die wichtigsten seiner etwa 50 Bühnenpartien. Neben dem Boris waren dies vor allem Khan Kontchak („Fürst Igor“), Gremin, Kotschubej („Mazeppa“), Ivan Susanin („Das Leben für den Zaren“), Dosifey („Chowanschtchina“) und Rachmaninows „Aleko“. Die meisten russischen Aufnahmen aus dem Bolschoj-Theater erschienen auch auf dem deutschen Markt und machten das hiesige Publikum mit vorher nicht beachteten Werken wie Glinkas „Ruslan und Ludmilla“ und Rimsky-Korsakovs „Die Zarenbraut“ bekannt. Nesterenkos internationale Stellung dokumentieren Gesamteinspielungen von „Nabucco“ (unter Giuseppe Sinopoli, DG) und „Faust“ (unter Colin Davis, Decca). Beim Bayerischen Rundfunk zeigte er sich in kompletten Aufnahmen von Donizettis „L’elisir d’amore“ und „Don Pasquale“ an der Seite von Lucia Popp von seiner humoristischen Seite (Eurodisc).
Meine Eindrücke von seinen Aufnahmen sind gemischt. In seinen Glanzrollen als Boris Godunow und Filippo II, die in kompletten Videos dokumentiert sind, brillierte er mehr durch üppigen Klang als durch psychologische Innensicht. Auch in Verdi-Partien wie Attila, Zaccaria und Fiesco tritt voluminöses Auftrumpfen an die Stelle geschmeidiger Kantilene. In den Mephisto-Rollen von Gounod und Boito (davon findet sich ein kompletter Konzert-Mitschnitt aus Moskau von 1983 im Netz) fehlt es seinem Vortrag an Hintergründigkeit. Da würde ich Boris Christoff und Nicolai Ghiaurov in beiden Fällen den Vorzug geben. Dagegen ist der Khan Kontchak, mit dessen Arie Nesterenko schon beim Wettbewerb 1970 „abräumen“ konnte, in seiner Interpretation ein Kabinettstück: Mit zahlreichen mimischen und textlich-musikalischen Nuancen bringt er die Verschlagenheit des Charakters auf den Punkt. Und dass er weit mehr als ein stolzer Stimmbesitzer sein konnte, erkennt man auch bei einigen seiner Lied-Recitals, die ihn als subtilen Gestalter ausweisen und von denen mich ein Konzert mit dem Pianisten Vladimir Krainev (Moskau 1986) besonders beeindruckt (Foto Moskau News). Ekkehard Pluta