Mit Spannung erwartet kam die „neue“ Iris Mascagnis von der Berliner Operngruppe bei Oehms heraus – auch angesichts älterer konkurrierender Einspielungen (Tokody/CBS/Sony, Dessi/Ricordi live, Marrocu/ Bongiovanni live, 2 x Olivero/diverse live oder Petrella/dto) langerwartet, weil sie wie die Vorgängerinnen dieser konzertanten Opernversion auf besondere Publikums-Begeisterung im Konzerthaus gestoßen war. Überhaupt hat sich die Berliner Operngruppe fest in Berlin und seinem Umfeld etabliert, wie die ausverkauften Vorstellungen zeigen – angesichts mancher regielicher Verirrungen an den drei (!!!) Berliner Opernhäusern ist wohl der run auf rein konzertante Aufführungen akut gewachsen. Zumal die Operngruppe mit so hervorragenden Besetzungen aufwarten kann. Spiritus rector ist dabei der Dirigent Felix Krieger, mit dem wir im Zusammenhang mit der Rezension zur neuen Aufnahme ein Interview von Ingrid Wanja bringen. G. H.
Das Erscheinen der CD Iris ein Jahr nach ihrer Aufführung im ausverkauften Konzerthaus Berlin könnte ein vorläufiger Höhepunkt in der zehnjährigen Geschichte der Berliner Operngruppe sein, ist es aber dennoch nicht, denn eigentlich wäre inzwischen bereits eine neue Ausgabe der alljährlich stattfindenden Aufführungen unbekannter italienischer Opern unter Ihrer Leitung fällig gewesen. Warum sie noch nicht zu erleben war, wissen wir nur allzu gut. Wie geht es der Berliner Operngruppe und ihrem Schöpfer und Dirigenten heute? Wie die allermeisten Kulturschaffenden sind natürlich auch wir massiv von dieser Krise getroffen. Im Orchester der BOG spielen exzellente MusikerInnen der freien professionellen Berliner Szene, die Solistinnen und Solisten sind wie ich fast ausschließlich freischaffende Künstler. Viele stecken derzeit in einer prekären Situation, und wir hoffen daher sehr, dass diese Pandemie bis zum Sommer unter Kontrolle sein wird, um endlich wieder unseren Beruf ausüben zu können. Iris war ein vorläufiger Höhepunkt in der Entwicklung der BOG, dem aber hoffentlich in Zukunft noch weitere folgen werden.
Wird es die Berliner Operngruppe in der bisherigen Zusammensetzung weiterhin geben? Fürs erste, ja: eine nächste Produktion, wenngleich sie wesentlich kleiner ausfallen wird, ist derzeit für den 1.September 2021 geplant. Wir haben in den letzten Jahren zum Glück gut gehaushaltet, so dass dies noch möglich sein wird. Ob die BOG nach dieser Krise aber mittelfristig eine Zukunft haben wird, hängt stark davon ab, ob wir auch öffentliche Fördergelder zugesagt bekommen oder nicht. Wir haben während der Krise zahlreiche Anträge geschrieben, und wir hoffen noch auf eine positive Rückmeldung.
Werfen wir einen Blick 11 Jahre zurück: Wie kam es zu Gründung der Gruppe, wie hat sie sich entwickelt, wer gehört ihr an und nach welchen Gesichtspunkten gestalten Sie das Repertoire? Ich hatte 2002 erstmals in London die Chelsea Opera Group geleitet, die ebenfalls selten zu hörende Opern aufführt mit hervorragenden Solisten und deren Herz ein Chor aus wunderbaren Amateursängern ist. Auf dem Programm standen zwei sehr interessante Operneinakter von Rachmaninoff, Francesca da Rimini und Der geizige Ritter. Ich war damals sehr beeindruckt von der Qualität dieser 1950 von Sir Colin Davis gegründeten Institution, deren Ehrenpräsident er auch noch war, als ich dort verschiedene Produktionen in der Queen Elisabeth Hall dirigiert habe. Und so gründete ich 2007 den Verein Berliner Operngruppe mit dem Ziel, etwas Ähnliches in Berlin aufzubauen. Es hat dann noch knapp 3 Jahre gedauert, bis ich genügend Geld eingesammelt hatte, um mit Verdis Opernerstling Oberto und einem hervorragenden Cast starten zu können. Dabei war zielführend, dass die Stiftung Zukunft Berlin uns eine großzügige Anschub-Förderung gewährt hat und ich 2009 bei einem Dinner den Mäzen Nicolaus von Oppenheim kennengelernt habe, der begeistert war von der Idee und der dann selbst tatkräftig mithalf, die noch fehlenden Gelder zu akquirieren. Als ersten Aufführungsort wählten wir das Radialsystem V, es schien uns der richtige Ort in Berlin für dieses Experiment, und wir haben uns dort sehr wohl gefühlt, wenngleich die Akustik für unser großes Format an ihre Grenzen kam. Nachdem das Publikumsinteresse von Jahr zu Jahr zugenommen hatte, haben wir es 2013 gewagt, ins wesentlich größere Konzerthaus zu wechseln. Die Entscheidung war richtig, denn bereits unsere erste Aufführung dort, Beatrice di Tenda von Bellini, war ausverkauft! Es sprach sich schnell herum, dass wir ein hervorragendes Niveau bieten, nicht nur beim Publikum, sondern auch in Musikerkreisen, so dass in den folgenden Jahren immer mehr exzellente MusikerInnen der freien professionellen Berliner Szene im Orchester mitspielen wollten. In unserem wunderbaren Chor singen hingegen viele begabte Laien und semiprofessionelle SängerInnen mit, die aber alle Chorerfahrung mitbringen und in Vorsingen ausgewählt werden. Einige von ihnen sind bereits von Anfang an dabei, wie auch unser fantastischer Chorleiter Steffen Schubert, und so bildet der Chor auch bei uns das Herz der BOG.
2016 habe ich Helen Müller kennen gelernt, die Leiterin für Cultural Affairs und Colporate History bei Bertelsmann, und so konnte eine fruchtbare Verbindung zu dem zu Bertelsmann gehörenden Archivio Storico Ricordi in Mailand geknüpft werden, wo die Autographe zu all den italienischen Opern lagen, auf die wir mittlerweile spezialisiert waren. Für mich ist das natürlich eine Fundgrube, und ich empfinde es als ein großes Glück, direkten Zugang zu den Quellen zu haben und die originalen Handschriften einsehen zu können, denn der unmittelbare Einblick in die „Werkstatt“ des Komponisten vertieft ungemein das Verständnis für seine Musik. Die Berliner Erstaufführung von Verdis Stiffelio 2017 war die erste Veranstaltung, die Bertelsmann mit unterstützt hat, und dies bedeutete in verschiedenerlei Hinsicht noch einmal einen großen qualitativen Sprung für die BOG. Auch seitdem haben wir stetig weiter an der Perfektionierung gefeilt und unsere IRIS dokumentiert, wo wir in unserer Entwicklung 2020 nach zehn Jahren kontinuierlicher Aufbauarbeit angelangt waren.
Das Repertoire der Gruppe reicht vom Belcanto bis zum Verismo. Warum geht es nicht über diesen hinaus? Gab es danach keine aufführungswerten Opern mehr? Natürlich gibt es noch viele aufführungswerte Opern aus allen Epochen, aber man muss doch eine Auswahl treffen. Als ich mit der BOG begann, hatte ich ein großes persönliches Interesse daran, den frühen Verdi besser kennen zu lernen, auch, um den späteren noch besser zu verstehen und kompositorische Entwicklungen noch besser nachvollziehen zu können.
Ich bin in meiner Kindheit und Jugend als Jungstudent (Klavier) an der Musikhochschule Freiburg hauptsächlich mit der deutschen-österreichischen Musiktradition von Bach bis zur 2ten Wiener Schule groß geworden, diese bildete das Fundament meiner musikalischen Ausbildung, und dieser Tradition fühle ich mich daher naturgemäß immer noch am nächsten. Allerdings wurde ich als angehender Kapellmeister von zwei der bedeutendsten italienischen Dirigenten geprägt, von Claudio Abbado und von Carlo Maria Giulini. Wenngleich ich mit beiden hauptsächlich deutsches symphonisches Repertoire gelernt habe, so habe ich in dieser Lehrzeit dennoch sehr viel über die italienische Kultur und die italienische Art zu denken und zu musizieren verstanden. Für Abbado habe ich dann an der Staatsoper Berlin auch den Falstaff einstudiert und viele Proben geleitet. Dies war meine erste intensive Begegnung mit einer Verdi-Oper und hat mein besonderes Interesse an italienischer Musik geweckt.
Wie gelingt es Ihnen immer wieder, hochkarätige Solisten für Ihre Aufführungen zu gewinnen? Im Laufe der Jahre habe ich mit vielen SängerInnen zusammengearbeitet, und so konnte ich bereits für die allererste BOG-Produktion 2010 mit Francesco Ellero d´Artegna einen bekannten italienischen Bass für OBERTO gewinnen. Und so hing von Anfang an die Messlatte des gesanglichen Niveaus hoch. Grundsätzlich ist Berlin und insbesondere ein Auftritt im Konzerthaus mit der BOG sehr attraktiv, insofern ist es nicht allzu schwer, hochkarätige Solisten für unsere Aufführungen zu gewinnen. Natürlich haben wir nicht die finanziellen Mittel der öffentlichen Institutionen, aber wir versuchen immer, mit dem, was uns an Budget zur Verfügung steht, das Bestmögliche auf die Beine zu stellen.
Die drei großen Opernhäuser in Berlin können mit riesigen finanziellen Mitteln aufwändige, oft aber bei der Premiere in einem Buhgewitter untergehende Produktionen auf die Bühne bringen. Die von Ihrer Gruppe aufgewendeten Mittel hingegen sind äußerst bescheiden, finden jedoch durchweg die Zustimmung des Publikums. Warum entscheiden Sie sich nicht gleich für konzertante Aufführungen? Ich persönlich mag keine rein konzertanten Opernaufführungen, und mir ist es sehr wichtig, dass das Wesentliche einer Handlung durch eine szenische Einrichtung mit geschickter Personenführung verdeutlicht und lebendig wird. Die BOG hat kein Budget für aufwendige Inszenierungen, und so fokussieren wir uns ganz bewusst auf die Musik und auf die wesentlichen szenisch-dramaturgischen Vorgänge. Wir bekommen allerdings tatsächlich sehr oft von Zuschauern zu hören, dass ihnen bei uns gar kein Bühnenbild gefehlt hat und sie gerade von diesem sehr konzentrierten Format mit wenigen Requisiten und angedeuteten Kostümen begeistert waren. Dies spricht allerdings nicht gegen große szenische Produktionen und Regietheater, denn Oper ist grundsätzlich immer für das Theater gedacht und lebt von neuen, auch umstrittenen Deutungen, es spricht vielmehr für die BOG, dass sie mit ihren begrenzten finanziellen Mitteln überzeugende Aufführungen schafft.
Durch Corona fielen für Sie persönlich nicht nur Dirigate in Deutschland, u.a. auch an der Semperoper Dresden, weg, sondern auch international. Wie geht man dort, wo sie auch regelmäßig arbeiten, nämlich in Lateinamerika oder in Italien, mit der Pandemie um, gibt es dort Arbeitsmöglichkeiten für Sie? Momentan ist es leider fast überall gleich, es herrscht weltweit eine extreme Ungewissheit und dadurch ein enormes Planungschaos. Man setzt vielerorts mehr auf nationale/regionale KünstlerInnen, auch weil Reisen zusätzliche Unsicherheiten bringen und für die Veranstalter teurer sind. Ich kann mir leider vorstellen, dass sich diese Entwicklung aufgrund leerer Kassen nach der Pandemie weltweit fortsetzen wird und die Möglichkeiten daher begrenzter werden. Eine Neuproduktion von Ariadne auf Naxos, die ich im letzten Jahr in Sao Paulo hätte dirigieren sollen, wurde damals verschoben auf den kommenden Herbst. Nun wurde diese Produktion gerade wegen des Infektionsgeschehens schon wieder abgesagt und soll vorsichtshalber nach 2022 verschoben werden. Diese Absagen und ständigen Verschiebungen sind sehr mühsam und belastend.
Sie sind nicht nur Dirigent, sondern auch Komponist. Konnte der Letztere von Corona profitieren? Wie sind Sie sonst mit Ihrer freien Zeit umgegangen? Tatsächlich habe ich die Zeit so kreativ wie möglich zu nutzen versucht, und so sind drei neue Werke entstanden. Zunächst habe ich ein komplexes Werk für dreizehn-köpfiges Kammerensemble komponiert, Cantus III – Íthymbus. Außerdem ist ein Duo für Altflöte und Kontrabass entstanden, dieses wurde erfreulicherweise bereits im November 2020 auf dem 53. Festival Musica Nova Gilberto Mendes in virtueller Form uraufgeführt. Und zuletzt habe ich Lieder für Sopran und großes Orchester nach Gedichten von Peter Härtling und Ulla Hahn geschrieben, diese sind gerade fertig geworden. Ich hoffe nach der Krise Möglichkeiten zu finden, diese Werke uraufzuführen. Immerhin ist die UA des dreiteiligen Cantus-Zyklus bereits anvisiert.
Ansonsten habe ich viel gelesen und mich um die von mir mitbegründete Al-Farabi Musikakademie (www.al-farabi.de) gekümmert, deren Vorstand ich angehöre. Dass es der Musikakademie gelungen ist, trotz Pandemie in den letzten Monaten zu wachsen, darüber freue ich mich in dieser Zeit besonders.
Im Privaten habe ich mich im letzten Herbst ein paar Wochen lang intensiv mit Familiengenealogie beschäftigt und gründlich recherchiert. So habe ich herausgefunden, u.a. anhand alter Dokumente in digitalisierten Berliner Archiven, aber auch in Rahel Levin Varnhagens Familienbriefen, dass mein Ur-Ur-Urgroßvater eigentlich gebürtig Oppenheimer hieß und seinen Nachnamen später in Oppert geändert hat, um antisemitischer Diskriminierung zu entgehen, als er als Arzt 1814/15 in der preußischen Armee an den Befreiungskriegen teilnahm. Und so kam heraus, dass es bei mir nicht nur eine direkte Blutsverwandtschaft zum langjährigen Hauptförderer der BOG, Nicolaus von Oppenheim gibt, sondern auch zu Felix Mendelssohn Bartholdy, Heinrich Heine und Arnold Schönberg. Ohne die Pandemie und die „freie“ Zeit hätte ich diesen schönen Zusammenhang vermutlich nie herausgefunden, allerdings kann ich auf weitere freie Zeit sehr gut verzichten.
Es bleibt jetzt zu hoffen, dass Corona durch ausreichende Testungen und Impfungen bald unter Kontrolle ist und bald funktionierende Lösungen zur Öffnung der Kultureinrichtungen gefunden werden, damit der Schaden nicht noch größer wird als er bereits ist.
Und was wünschen Sie sich, auch an die Adresse der Politik gerichtet, für „Ihre“ Berliner Operngruppe? Nach dieser Pandemie wird es schwerer denn je sein, Produktionen fast ausschließlich privat zu finanzieren. Ich bezweifle stark, dass die BOG angesichts der bevorstehenden Wirtschaftskrise ohne eine öffentliche Förderung mittelfristig wird weiterexistieren können. Wir hoffen daher sehr, dass auch die Politik unsere bereits 10-jährige erfolgreiche künstlerische Arbeit in Berlin würdigt und sich für eine institutionelle Förderung der BOG entscheidet. Wie sehr Institutionen wie wir auch als Arbeitgeber für die exzeptionelle professionelle freie Musiker-Szene in Berlin benötigt werden, gerade dies hat diese Krise doch sehr deutlich gemacht. Natürlich ist es mein Wunsch, dass die BOG die nötige finanzielle Unterstützung erhalten wird, um sich auch in den kommenden Jahren weiterentwickeln und ihrem Publikum weiterhin interessante vernachlässigte Werke in Berlin präsentieren zu können (Foto oben Lou Mouw). Ingrid Wanja