James Levine

 

Er war der bedeutendste US-amerikanische Dirigent seit Leonard Bernstein und doch beherrschte er zuletzt aufgrund von Missbrauchsvorwürfen die Schlagzeilen. James Levine, geboren am 23. Juni 1943 in Cincinnati, Ohio, galt bereits früh als Überflieger. Sein Debüt – allerdings als Pianist – erfolgte schon 1954 mit dem Cincinnati Symphony Orchestra. Es folgte Klavierunterricht bei niemandem Geringeren als Rudolf Serkin. Gleichwohl schlug er nach dem Besuch der renommierten Juilliard School of Music in New York (1961-1964) vornehmlich die Dirigentenlaufbahn ein. Einen ersten Höhepunkt stellte die Lehrzeit beim berühmt-berüchtigten George Szell und „seinem“ Cleveland Orchestra dar, den er zwischen 1965 und 1970 als Assistenzdirigent unterstützen durfte.

Von da an ging es Schlag auf Schlag. Es folgten erste Gastdirigate bei so berühmten Klangkörpern wie dem Philadelphia Orchestra und dem Chicago Symphony Orchestra. Sein Debüt am Metropolitan Opera House in New York City fand im Juni 1971 mit Tosca statt. Bereits 1973 wurde er, gerade 30-jährig, zum Chefdirigenten der Met berufen. 1976 schließlich wurde er dortiger Musikdirektor, was er bis 2016 bleiben sollte, und amtierte von 1986 bis 2004 zusätzlich auch als künstlerischer Leiter, womit seine Macht ins Unermessliche stieg. 85 Opern und über 2.500 Aufführungen leitete er in all den Jahrzehnten bis zu seinem letzten Auftritt im Dezember 2017 an der Met. Trotz seiner Opern-Omnipräsenz blieb Levine immer auch als Konzertdirigent im Geschäft und machte sich gerade als Mahler-Interpret einen Namen.

Der junge James Levine/courtesy of Ravinia Festival

Seine musikalische Beschäftigung abseits der Oper fand in den Chefdirigentenposten bei den Münchner Philharmonikern (1999-2004) und beim Boston Symphony Orchestra (2004-2011) ihren Höhepunkt (zuvor hatte er schon von 1973 bis 1993 das sommerliche Ravinia Festival des Chicago Symphony Orchestra geleitet). Allerdings blieben sowohl seine Münchner als auch seine Bostoner Chefdirigentenzeit vor allem auch wegen seiner häufigen, nicht zuletzt gesundheitlich bedingten Absenzen in Erinnerung. Anfang des 21. Jahrhunderts galt er als der bestverdienende Dirigent Amerikas. Daneben war er gern gesehener Gastdirigent bei den Wiener und Berliner Philharmonikern, bei der Staatskapelle Dresden sowie beim Philharmonia Orchestra in London. Sowohl bei den Salzburger als auch bei den Bayreuther Festspielen und zuletzt beim Verbier Festival gehörte er jahrelang gewissermaßen zum unverzichtbaren Inventar.

In Bayreuth dirigierte Levine unter ganz überwiegenden Lobeshymnen zunächst den Parsifal (1982-1985, 1988-1993) und anschließend den Ring des Nibelungen (1994-1998). Nachdem er sich aus München zurückgezogen hatte, machte er sich rar in Europa. Seine nachlassende Gesundheit zwang ihn bereits von 2011 bis 2013 zu einer Zwangspause. Bald nach seiner kaum mehr für möglich gehaltenen und umso mehr gefeierten Rückkehr auf das Podium beendeten Ende 2017 öffentlich gemachte, freilich schon lange zuvor gerüchteweise kolportierte Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs männlicher Jugendlicher seine aktive Karriere; der ihm 2016 verliehene Ehrentitel des emeritierten Musikdirektors der Metropolitan Opera wurde ihm wieder entzogen. Eine außergerichtliche Einigung zwischen Levine und der Met, deren Details nicht bekannt wurden, kam 2019 zustande (die Rede war von einer Abfindung in Millionenhöhe). Tatsächlich scharte er schon zu seiner Zeit in Cleveland einen fast kultischen Kreis ihm höriger „Leviniten“ um sich. Bis zuletzt wollte der stark angeschlagene Levine weiter dirigieren und hatte auch tatsächlich einen Auftritt beim italienischen Maggio Musicale Fiorentino 2021 in Aussicht. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Wie die New York Times berichtet, ist James Levine bereits am 9. März 2021 in Palm Springs, Kalifornien, im Alter von 77 Jahren verstorben.

James Levin, jahrelang an der Met als Chef, dirigierte auch viele Opernaufnahmen, hier die „Adriana Lecouvreur“ mit Renata Scotto, der er zu großem Rum an der Met verhalf/ Sony

Levines Vermächtnis auf Tonträgern sowohl im Opern- als auch im sinfonischen Bereich ist gewaltig. Hervorzuheben ist unbedingt sein Mahler. Die Sinfonien Nr. 1, 3, 4, 5, 6, 7, 9 und 10 spielte er für RCA ein, Das Lied von der Erde (mit Jessye Norman und Siegfried Jerusalem) für die Deutsche Grammophon. Der Zyklus kann durch Live-Aufnahmen ergänzt werden: Eine phänomenale zweite Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern sowie Kathleen Battle und Christa Ludwig (Orfeo) ist nach wie vor problemlos erhältlich; ein Mitschnitt der Achten aus Boston war zeitweise zumindest als offizieller Download zu beziehen. Neben je zwei Zyklen der vier Schumann- und Brahms-Sinfonien (RCA und DG) hat Levine eine sehr beachtliche Einspielung sämtlicher Sinfonien von Mozart, die einzige solche Gesamteinspielung durch die Wiener Philharmoniker überhaupt, vorgelegt (DG). Es ließe sich sinfonisch Unzähliges mehr hinzufügen, so auch Le Sacre du printemps und Bilder einer Ausstellung (DG), wo das Met-Orchester seine orchestrale Überlegenheit auch in ungewohntem Repertoire unter Beweis stellen konnte – überhaupt ein Verdienst der Ära Levine, der den einst ziemlich mediokren Klangkörper überhaupt erst zu Weltklasseniveau geführt hat. Im Opernfach fällt eine komprimierte Auswahl aufgrund der schier endlosen Hülle und Fülle noch schwerer. Für Levines Expertise in Sachen Wagner steht zuvörderst der Bayreuther Parsifal von 1985 (Philips), der vor allem wegen des monumentalen Dirigats in jeder Wagner-Kollektion seinen Ehrenplatz haben sollte. Ein mittlerweile legendärer Mitschnitt von Berlioz‘ Les Troyens aus der Met von 1983, bei der DG auf DVD erschienen, sollte hier ebenso genannt werden (es singen u. a. Tatiana Troyanos, Jessye Norman und Plácido Domingo). Wirklich vorzüglich gelungen ist auch die selten gespielte frühe Verdi-Oper Giovanna d’Arco (EMI), wo man mit Fug und Recht bis heute von einer Referenz sprechen darf (in den Hauptrollen Montserrat Caballé, Plácido Domingo und Sherrill Milnes). In die erste Liga gehört auch Rossinis Il barbiere di Siviglia mit Gedda, Sills, Milnes und Raimondi (EMI). Es ließe sich viel ergänzen. Unter einem gewissen Niveau war keine von Levines Einspielungen; krankte es an etwas, dann eher an der Sängerbesetzung. In der vierzigjährigen Ära Levine wurde das Met-Orchester zum ebenbürtigen Begleiter und überstrahlte das Vokalensemble zuweilen gar an Glanz, zumal in den späteren Jahren. Es wäre wünschenswert, erschiene der gebündelte diskographische Nachlass von James Levine bei den diversen Labels abermals in ansprechenden und gut aufbereiteten großformatigen Boxen (Foto oben Tagesschau). Daniel Hauser