Claudio Abbado

Was für ein eleganter Mann war er doch, welch unaufdringliche, diskrete  Persönlichkeit, und was für ein sprühender Geist! Ich werde seine Auftritte bei den Berliner Philharmonikern ebenso wenig vergessen wie die Essen mit ihm bei seinem Lieblingsitaliener, wo er in ansteckender  Post-68er-Begeisterung durchaus lebhaft und engagiert diskutieren konnte. Er war für uns Nach-Karajan-Berliner der Inbegriff des italienischen Intellektuellen, des eleganten Signore aus der Lombardei, ein wenig wie aus Bertoluccis 1900 entsprungen, sportlich und schick zugleich. Vor allem zu Beginn seiner Philharmoniker-Zeit freute man sich über die Themenvielfalt seiner Programme, die nach der schleichenden Lähmung nun wieder Schwung brachten, Ungewöhnliches boten, Erfrischendes. Ich erinnere mich an das Themenjahr Tristan, wo es Martins Vin herbé gab, wo Wagner ebenso wie Literarisches und Philosophisches geboten wurde, wo er es schaffte, in der Stadt eben diese künstlerische Einheit herzustellen, deren akute Abwesenheit man sonst immer beklagt, weil jedes Institut nur das Eigene macht. Unter Claudio Abbado (Foto oben © Cordula Groth/Berliner Philharmonisches Orhester) klang sein Orchester anders, war lockerer, spontaner, auch individueller. Er brachte die Musiker in die Gegenwart und nach Jahren der vereisten Stilisierung  in die Sinnlichkeit zurück. Seine Opern als Konzerte füllten die Philharmonie bis auf den letzten Platz, und was hatten alle für einen Spaß beim Viaggio a Reims! Und ich erinnere mich gut an die erste, originale Aufführung dieser Oper in Pesaro, mit der absolut himmlischen Besetzung und der köstlichen Badewannenoptik, die später auch nach Wien ging. Aber in Pesaro war´s eben zum ersten Mal, abgefahren und einfach toll. Er interessierte sich für´s Ungewöhnliche, so seine mehr als diskutable Aufnahme des französischen Don Carlos bei DG, irregeleitet in der Besetzung, aber die erste („offizielle“) Aufnahme in der Originalsprache trotz der beklagenswerten Schnitte – immerhin! Wie auch seine wenigen Auftritte an der Deutschen Oper Berlin, wo es in Urzeiten einen Tristan gegeben hatte, eine Aida (noch mit Jessye Norman), wo italienische Klangsprache zeigte, was Oper sein kann – eben Sinnlichkeit und kontrollierter Rausch. So bleiben auch seine Mendelssohn-Sinfonien bei DG für mich nach wie vor die überbordendsten, unbekümmertsten, maßstäblichen. Das gilt in Teilen auch für seinen Mahler, Brahms und Schubert, wenngleich dort die Konzerte spannender waren als die festgebannten Dokumente. Vielleicht war er – um es zusammenfassend zu sagen – der Mann für den Moment, für das spontane Erleben, für die überspringende Begeisterung eher als für die Ewigkeit der silbernen Scheiben, von denen sein Amtsvorgänger so unendliche viele (zu viele) hinterlassen hatte. Sein Wechsel von der DG zur Sony brachte nicht wirklich Glück, und schon bei der DG stand er im langen Schatten Karajans. Abbado war, vor allem später, ein unauffälliger Mann, einer, der sich im zunehmend aggressiven Dschungel des Dirigentenberufes zurückhielt, sich nicht drängelte, in der Stille arbeitete und dort überzeugte. Man musste bei ihm hinhören – da war nichts flashiges, nichts Billiges, keine kalkulierten Effekte, sondern beste Kennerschaft, Handwerk und eine ganz sichere Hand für die Valeurs. Was für ein Verlust für uns Musikliebhaber! G. H.

Im  Nachfolgenden noch einmal seine Lebensdaten, wie stets mit Dank an Wikipedia!: Claudio Abbado (* 26. Juni 1933 in Mailand; † 20. Januar 2014 in Bologna) war der Sohn des Violinisten und Musiklehrers Michelangelo Abbado, seine Mutter, Maria Carmela Savagnone, war Klavierlehrerin und Kinderbuchautorin. Bei seinem Vater studierte er zunächst Klavierspiel. Mit 16 Jahren begann er in Mailand ein Studium in Klavier, Komposition, Harmonielehre, Kontrapunkt und später erst Orchesterleitung. Außerdem belegte er einen Literaturkurs beim späteren Nobelpreisträger Salvatore Quasimodo. Als jugendlicher Organist arbeitete er intensiv an Johann Sebastian Bachs Werken; bei einem Hauskonzert spielte er 1952 Toscanini Bachs d-Moll-Konzert vor. 1953 schloss er sein Studium in Mailand ab und musizierte mit verschiedenen Kammermusikensembles – Grundlage für sein späteres Musizieren. „Es ist wie ein Gespräch, bei dem man nicht nur aufmerksam lauscht, sondern auf den anderen eingeht und versucht, auch das Unausgesprochene, Gefühle und Gedanken zu erfassen.“

Bei einem Dirigierkurs in Siena lernte Abbado den elfjährigen Daniel Barenboim und Zubin Mehta kennen. Mehta vermittelte ihn zum weiteren Studium an Hans Swarowsky nach Wien. Claudio Abbado gewann 1958 in Tanglewood einen der wichtigsten Preise für junge Musiker, den Kussewitzky-Preis für Dirigenten. Abbado vermied den Weg in die große Karriere als Dirigent, ging nach Italien zurück und nahm einen Lehrauftrag für Kammermusik in Parma an. In Triest dirigierte er mit Die Liebe zu den drei Orangen von Prokofjew seine erste Opernaufführung. Ab 1961 dann dirigierte er auch regelmäßig an der Mailänder Scala.

1963 erhielt Claudio Abbado in New York den 1. Preis bei dem Mitropoulos-Wettbewerb. Verbunden war mit dem New Yorker Preis – neben der internationalen Anerkennung – eine Assistentenzeit von fünf Monaten bei Leonard Bernstein, der damals Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker war. Während seiner Assistenzzeit bei Leonard Bernstein 1963 bekam er auch erste Einladungen zum Radio-Symphonie-Orchester Berlin und zu den Wiener Philharmonikern, mit denen er 1965 bei den Salzburger Festspielen debütierte. Auf dem Programm stand Gustav Mahlers zweite Sinfonie. Außerdem entstanden erste Schallplattenaufnahmen mit Abbado.

1966 kam es zu einer ersten Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern. 1968 eröffnete Abbado die Opernsaison der Mailänder Scala. Er debütierte an der Covent Garden Opera in London mit seiner ersten Verdi-Oper (Don Carlo). Später überraschte er das Publikum in London mit Strawinskis Oedipus Rex und Alban Bergs Wozzeck.

Wichtige Impulse für die Musik der Moderne bekam Abbado in dieser Zeit von Maurizio Pollini und Luigi Nono. 1969 erhielt er eine feste Anstellung als Dirigent an der Mailänder Scala und wurde 1971 zusätzlich Musikdirektor der Scala. 1979 bis 1987 war er Chefdirigent beim London Symphony Orchestra. Von 1980 bis 1986 war er Chefdirigent der Mailänder Scala. In den Jahren 1982 bis 1985 arbeitete er als Erster Gastdirigent mit dem Chicago Symphony Orchestra. Von 1983 bis 1986 war er Musikdirektor beim London Symphony Orchestra. 1984 gab Abbado sein Debüt an der Wiener Staatsoper, wurde 1986 Musikdirektor und 1987 Generalmusikdirektor der Stadt Wien. 1988 gründete Abbado das Festival Wien Modern, das sich Aufführungen internationaler zeitgenössischer Musik widmet.

Im Oktober 1989 wurde Abbado von den Berliner Philharmonikern als Künstlerischer Leiter des Orchesters zum Nachfolger Herbert von Karajans gewählt. Im Jahr 1994 wurde Abbado auch Leiter der Salzburger Osterfestspiele. Die Zeit in Berlin war nicht frei von Spannungen. Abbados offenes Musizierverständnis, das im Kontrast zum eher autoritären Auftreten Karajans stand, provozierte beim Orchester Widerspruch. Im Jahr 2000 erkrankte Claudio Abbado an Krebs, von dem er zwischenzeitlich geheilt war. Im Jahr 2002 beendete er, wie bereits 1998 angekündigt, seine Arbeit als Künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker – mit einem für ihn typischen breitgefächerten Programm: mit Brahms’ Schicksalslied, Mahlers Rückert-Lieder und Schostakowitschs Musik zu König Lear.

Claudio Abbado ging nach Italien zurück, war zunächst in Ferrara und ging dann nach Bologna, wo er das Mozart Orchestra mit jungen Musikern aufbaute und wo er bis zu seinem Tod lebte. Mit diesem Orchester aus Bologna begann er später die Arbeit für den Aufbau des neu gegründeten Lucerne Festival Orchestra – zusammen mit Musikern der weltweit großen Orchester, die Abbado von früher kennt, und die sich als Lehrer mit den jungen Musikern des Mozart Orchestra Bologna zu gemeinsamen Konzerten im Frühjahr und Sommer in Luzern trafen.

Diese Art des Musizierens junger Musiker gemeinsam mit erfahrenenen Solisten, die sich als Teamer im Orchester engagieren, war für Claudio Abbado typisch. Schon als Gründer des European Community Youth Orchestra (1978) und später des Gustav Mahler Jugendorchesters (1986) widmete er sich der Förderung des musikalischen Nachwuchses. Daraus entstanden die Gründung des Chamber Orchestra of Europe (1981) sowie die Gründung des Mahler Chamber Orchestra (1997), die wiederum die Basis für die Gründung des Lucerne Festival Orchestra (2003) und des Orchestra Mozart in Bologna in den Jahren 2003 / 2004 bildeten.

1958 gewann Claudio Abbado den Kussewitzky-Preis für Dirigenten in Tanglewood, 1963 den ersten Preis beim nach Dimitri Mitropoulos benannten Mitropoulos-Wettbewerb in New York, der mit einer fünfmonatigen Assistenzzeit bei Leonard Bernstein verbunden war. 1984 erhielt er das Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik. 1994 erhielt Abbado den Ernst von Siemens Musikpreis, den Ehrenring der Stadt Wien sowie das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, 2001 den Würth-Preis der Jeunesses Musicales Deutschland. 2002 wurde er vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau mit dem Großen Verdienstkreuz mit Sterndes Bundesverdienstkreuzes ausgezeichnet. 2002 bekam Abbado den Deutschen Kritikerpreis, 2003 den Praemium Imperiale, 2004 den Kythera-Preis und 2008 den Wolf-Preis. Seit 2005 war Abbado Ehrenbürger der Stadt Luzern. 2013 wurde sein Buch „Meine Welt der Musik“ als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet. Am 30. August 2013 wurde Claudio Abbado vom Staatspräsidenten Giorgio Napolitano zum Senator auf Lebenszeit ernannt.

Von Abbado sind CDs mit Werken von nahezu jedem namhaften Komponisten erschienen. Er dirigierte auch die Werke zahlreicher Gegenwarts-Komponisten wie Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, György Ligeti, György Kurtág, Wolfgang Rihm und Beat Furrer. 1965 führt er an der Scala die Oper Atomtod von Giacomo Manzoni auf. Trotzdem gibt es Komponisten, die auffallend oft vertreten sind: Gustav Mahler, Claude Debussy, Franz Schubert und auch Wolfgang Amadeus Mozart. Besonders in letzter Zeit fiel eine Rückkehr zu seinen „Favoriten“ auf. So dirigierte er 2009 die Berliner Philharmoniker mit einem Programm bestehend aus Schubert, Mahler und Debussy; im Mai 2010 bestand das Programm an derselben Stelle aus Schubert, Schönberg und Brahms.