Giuseppe Verdi – Opern-Highlights, deutsch gesungen. So steht es auf einer Box des Labels Berlin Classics (0300563BC). Früher hätte es Opernquerschnitte geheißen. Denn es handelt sich tatsächlich um Querschnitte durch die Opern Don Carlos, Die Macht des Schicksals, Aida, La Traviata und Rigoletto. Pro CD eine Oper, macht zusammen fünf. Was wir darauf hören, ist ein interessantes Kapitel deutsch-deutscher Musikgeschichte. Die Querschnitte wurden zwischen 1965 und 1974 in der DDR mit der Staatskappelle Dresden produziert. Bis zum Fall der Mauer sollten noch viele Jahre ins Land gehen. Partner im Osten war seinerzeit der VEB Deutsche Schallplatten Berlin mit seinem Label Eterna. Dieser Name ist auf CD-Hüllen längst getilgt. Bei Eterna wird heutzutage an die berühmten Hemden und allenfalls an Uhren aus der Schweiz. gedacht. Die Hemden sind aber gar nicht so weit hergeholt. Der Name des DDR-Labels soll tatsächlich darauf zurückzuführen sein. Ernst Busch, der legendäre linke Sänger – auch Barrikaden-Tauber genannt – hatte die Plattenfirma gleich nach Kriegsende mit Billigung der sowjetischen Besatzer gegründet und für die Klassiksparte eben diesen Namen gewählt, weil er selbst gern Eterna-Hemden trug. Die nämlich gibt es seit 1863, wenngleich zunächst lediglich als halbsteife Kragen. Jetzt sind sie der Hingucker in jedem guten Bekleidungshaus. Im Booklet ist davon keine Rede, es ergeht sich stattdessen in einem kurzen Abriss durch Verdis Leben.
Gesamtdeutsch auch das Aufgebot an namhaften Sängern. Gottlob Frick, nach dem Zweiten Weltkrieg am musikalischen Wiederaufbau in Dresden aktiv beteiligt, kam nach langer Abwesenheit für Philipp II. im Carlos zurück an die Elbe. Er ist der einzige Westimport in der Aufnahme mit Hanne-Lore Kuhse als Elisabeth, Sigrid Kehl als Eboli, Martin Ritzmann in der Titelrolle und Dan Jordachescu als Posa. Nicht nur wegen der deutschen Version ist das fürwahr keine italienische Interpretation. Mehr Schiller als Verdi. Und doch gehen von dieser Aufnahme eine Innigkeit und ein Tiefgang aus, die sehr berühren und dem Werk trotz des Zusammenschnitts auf diese Szenenfolge, einen starken inneren Zusammenhalt geben. Das trifft so in Teilen auch für die Macht des Schicksals zu, in der auch Frick als Pater Guardian noch einmal kurz in Erscheinung tritt. Den Löwenanteil dieser Plattenstunde – denn es handelte sich ursprünglich um Vinyl mit derart begrenzter Kapazität – bestreiten Grace Bumbry als Leonora, Nicolai Gedda als Alvaro, Hermann Prey als Carlos und – man höre und staune – Helga Dernesch als Preziosilla. Wer genau hinhört, fragt sich noch heute, wie diese Sängerin kaum zwei Jahre später bei Karajan die Brünnhilde im Nibelungen-Ring würde bewältigen können. Dem Rataplan fehlt jeglicher Peng.
Die Besetzung ist hier schon stärker auf Prominenz abgestellt und nicht mehr nur auf Passgenauigkeit. Sie ist nahe an der Fehlbesetzung. Bei Aida (Ingrid Bjoner) und La Traviata (Anneliese Rothenberger) stehen verkaufsfördernde Aspekte durch populäre Namen schließlich gänzlich im Vordergrund. Am besten schneiden die Tenöre Ludovic Spiess als Radames und Anton de Ridder als Alfred ab. Schade, dass von der Amneris fast nichts übrig geblieben ist. Gisela Schröter, die in dieser Rolle auf der Bühne der Berliner Staatsoper ein Ereignis war, hat auf der Platte lediglich ein paar Einwürfe. Besser kommen Karl-Heinz Stryczek als Amonasro und Wolfgang Anheisser als Germont mit Duetten bzw. Arien weg. Durchweg interessanter sind die Besetzungen der Nebenrollen, beispielsweise des Ramphis und des Doktor Grenvil durch Siegfried Vogel, der auch als Sparafucile im Rigoletto auftaucht, leider nicht in der gespenstischen nächtlichen Szene mit dem Hofnarr, den Ingvar Wixel mit großer Eindringlichkeit versieht. Er gefällt mir am allerbesten, weil er der Rolle eine schlichte Würde gibt und ohne Übertreibung und ohne Weltschmerz auskommt. Robert Ilosfalvy dem Herzog, bleibt die deutsche Übersetzung im Halse stecken. Mit technischer Routine und gut gelernter Gestaltungskraft rettet sich die Rothenberger über die Klippen der Gilda, für die sie zu alt ist. Annelies Burmeister, der beliebte Berliner Mezzo, ist im Quartett als Maddalena (in der Besetzungsliste des Booklets unvermittelt als Maddalene geführt!) wohltuend stilvoll und unverkennbar zu vernehmen.
Die Zeit der guten alten Opernquerschnitte, die auch einen speziellen Bildungsansatz darstellten, ist vorbei, selbst der Name verschwindet. Im Duden ist das Wort nicht zu finden, bei Wkipedia schon – was gut ist. Sie haben zwar das Genre Oper sehr populär gemacht, sind aber auch Zerrbilder der Werke. Nicht immer war die Auswahl glücklich, wurde auch in der Verkürzung das Stück als Ganzes erkennbar. Es wurde der Eindruck vermittelt, als bestehe eine Oper nur aus Highlights, wie das die Verdi-Box suggeriert. Alban Bergs Wozzeck, ebenfalls eine Eterna-Produktion, die jetzt bei Brilliant neu aufgelegt wurde (94699), ist als traditioneller Querschnitt gar nicht denkbar. Die Auswahl, die der Komponist als Bruchstücke für Gesang getroffen hat, sind etwas anderes, fast schon ein eigenständiges Werk. Jedenfalls ist die Aufnahme für mich eine der besten in der immer umfänglicher werdenden Diskographie des Werkes. Sie ist ein Mitschnitt aus Leipzig von 1973 – für DDR-Verhältnisse relativ selten. In der Regel wurde im Studio aufgenommen, was mehr Sicherheit versprach. Hier also eine konzertante Aufführung, die insofern gegen das Werk spricht, das die Aktion der Bühne braucht. Wenigstens ist live auch schon etwas. Die aufregende Gisela Schröter, die im Aida-Querschnitt so kurz wegkommt, ist als Marie das Ereignis schlechthin. Ihr Unglück ist das Unglück der Welt. Ich hatte die Aufnahme lange nicht gehört und komme nun nicht davon los. Das von der Schröter und Herbert Kegel am Pult vorgegeben Niveau verteilt sich über das ganze Ensemble. Alle Mitwirkenden sind vielleicht deshalb so überzeugend, weil sie sich mit aller Kraft auf die Aufgabe werfen. Wozzeck ist kein Belcanto, da muss nicht jeder Ton sitzen, es gelten andere Maßstäbe. Theo Adam macht die grauenhaften Ängste Wozzeck sehr glaubhaft, auch wenn er hier und da einen Schuss Vornehmheit beimischt. Dann klingt sein gehetzter Soldat, als stamme er aus einer großbürgerlichen Familie und habe gerade sein Abitur abgelegt. So ist das oft bei ihm. Horst Hiestermann ist ein schriller Hauptmann, Reiner Goldberg ein aufgeblasener Tambourmajor.
Etwas unvermittelt sind bei Brilliant in einer Doppel-CD-Box das Italienische Liederbuch und Mörike-Lieder von Hugo Wolf zusammengesteckt (94705). Das Liederbuch mit der mädchenhaften Christiane Oelze, die ihren Wolf im Meisterkurs bei Elisabeth Schwarzkopf gut gelernt hat, leidet unter dem Tenorpart von Hans Peter Blochwitz, der nur noch über die Reste seines einst hellen und jugendlichen Tenors verfügt. Über diese Klippen kann auch gestalterische Delikatesse nicht hinwegtäuschen, die er noch reichlich einsetzen kann. Siegfried Lorenz, der sich mit Norman Shetler am Klavier des Mörike annahm, bringt sich als vorzüglicher Stilist in Erinnerung – mit gelegentlichem Hang zu Übertreibungen. Während das Liederbuch 2002 eingespielt wurde, stammen die Mörike-Lieder gleichfalls aus dem Eterna-Nachlass der DDR, aufgenommen 1984 in der Lukaskirche Dresden, einem berühmten Aufnahmeort.
Gemischt ist auch die Herkunft der drei Messen von Anton Bruckner und des Te Deum in der Fassung von 1884 bei Brilliant (94669). Die Messe Nr. 1 mit dem Tenor Daniel Sans und dem Bariton Christof Fischesser, dem Chamber Choir of Europa sowie der Württembergischen Philharmonie Reutlingen unter Nicol Matt beginnt wunderbar leicht und federnd, behält diese Durchsichtigkeit selbst in den Steigerungen des ganzen Apparates. Beim Hören der verbleibenden Werke ist mir wieder bewusst geworden, was für ein vorzüglicher Dirigent der 2001 in Leipzig gestorbene Heinz Rögner gewesen ist. Er hat eine Hand für Bruckner, bringt die Ruhe für seine Musik mit und die Fähigkeit, die Spannung über die Klippen in den ausladenden Sätzen zu halten. Rögner hat auch etliche Sinfonien von Bruckner eingespielt, die eben erst wieder auf den Markt zurückgekehrt sind und ein dankbares Publikum finden werden. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Gemeinsam mit Rögner wirken in der 3. Messe und im Te Deum Solisten, die in der DDR beliebt waren: Magdaléna Hojóssyová (Sopran), Rosemarie Lang (Alt), Peter-Jürgen Schmidt (Tenor) und Hermann Christian Polster (Bass). Die 2. Messe ist bekanntlich für Chor und Blasorchester gesetzt und schon deshalb anfällig für Langeweile, die bei Rögner aber nicht aufkommt. Einmal mehr erweist sich der Rundfunkchor Berlin seiner Meisterschaft. Es spielt das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester, dessen Chef Rögner von 1973 bis 1993 gewesen ist.
Eine der besten Aufnahmen, die Peter Schreier gemacht hat, ist für mich die Serenade für Tenor, Horn und Streicher von Benjamin Britten, der in der DDR gut gelitten war und zu einer Aufführung seines War Requiem persönlich nach Ostberlin kam. Schreier findet den sehr intimen Ton dieses Liederzyklus nach Gedichten verschiedenen Autoren. Der CD, die ebenfalls von Brilliant Classics wieder aufgelegt wurde (94728), ist der Zyklus Les illumationes, bestehend aus zehn Nummern nach Versen von Arthur Rimbaud vorangestellt. Die von Kegel betreute Aufnahme entstand 1967 in Leipzig und zeigt Schreier auf seinem Höhepunkt als Sänger.
Fast zwanzig Jahre später nahm sich der Dirigent Arnold Schoenbergs Gurrelieder vor, jene monströse Kantate nach einer Novelle von Jens Peter Jacobson. Sie ist nun ebenfalls im Katalog von Brilliant Classics eingegangen (94724). Die Rundfunkchöre Berlin und Leipzig werden durch den Prager Männerchor verstärkt. Verstärkung holte sich auch die Dresdner Philharmonie vom Rundfunk-Sinfonie-Orchester aus Leipzig. Der gewaltige Apparat kommt nur selten in Gänze zum Einsatz, Kegel betont zudem die intimen Seiten. Eva-Maria Bundschuh, als Isolde gefeiert, gibt die Tove, Rosemarie Lang die Waldtaube, Manfred Jung, der Bayreuther Siegfried bei Patrice Chéreau, den Waldemar, Ulrik Cold – in Kegels Leipziger Parsifal der Gurnemanz – den Bauer. Als Erzähler wurde kein Geringerer als Gert Westphal engagiert, der einen merkwürdig altmodischen Zug in die ansonsten sehr diesseitige Aufnahme einbringt. Informationen über die Trackabfolge, die bei diesem Werk zwingend ist, muss man sich im Internet auf der Seite des Labels zusammensuchen. Das ist zu wenig.
Franz Schuberts Religiöses Drama Lazarus, das nur als Fragment überliefert ist, wurde öfter aufgenommen als zunächst zu erwarten wäre. Die Einspielung mit der Berliner Singakademie und der Staatskapelle unter Dietrich Knothe – entstanden 1978 im Studio – steht also in Konkurrenz. Erschienen ist sie als Neuauflage nun ebenfalls unter dem Brilliant-Etikett (94704). Der 2000 gestorbene Knothe galt als einer der renommiertesten Chorleiter der DDR und war zeitweise Direktor der Singakademie. Er steht für eine leichte, fast federnde Deutung ohne jede Erdenschwere. Dabei folgt ihm der Tenor Eberhard Büchner als Lazarus mit seinem hellen, jungenhaften Tenor. Eine sehr gelungene Aufnahme ist das, der ihr Alter überhaupt nicht anzuhören ist.
Rüdiger Winter