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Gerade erst, genauer vor exakt einem Jahr, war Erich Zeisls Leonce und Lena am Eduard-von-Winterstein Theater Altenburg-Buchholz für mich eine veritable Entdeckung. Es handelte sich um die deutschsprachige Erstaufführung von Zeisls einziger Oper, deren 1938 in Wien geplante Uraufführung durch den Anschluss hinfällig wurde. Die Zeisl-Wiederentdeckung schreitet voran. Nun präsentiert der Bariton Ulf Bästlein eine CD mit Liedern des 1905 in Wien geborenen jüdischen Komponisten, der 1959 in Los Angeles starb, wo seine Oper wenige Jahre zuvor am City College eine englischsprachige Aufführung erlebt hatte (Naxos 8.551459). Auch die 28 Lieder, die Bästlein im Januar 2022 in Wien aufgenommen hat, zeigen zwischen gebrochener Romantik und Volkston den vielseitigen Komponisten, der die oftmals melancholisch schwermütige Gesänge mit einem aufwendigen Klavierpart umkleidet. Letzteren setzt der eminente Charles Spencer mit begeisterndem Schwung um. 21 Lieder sind Ersteinspielungen. Der vieltalentierte Bästlein, der als Sänger, Rezitator, Gesangsprofessor, Musikfestival-Leiter und Herausgeber, so etwas wie ein Fischer-Dieskau unserer Tage ist, nennt Zeisl einen kompositorischen Prometeus, „Der verschiedene musikalische Stile perfekt beherrschte. Seine teils humorvollen, teils rhythmusorientierten Lieder blieben der Musiksprache der österreichisch-deutschen Romantik verpflichtet, loten aber immer wieder auch deren harmonische Grenzen aus“. Die Lebensdaten umreißen Zeisls Schicksal. Nach der Emigration versuchte er sich in Hollywood vergebens als Film-Komponist, überlebte als Kompositionslehrer. 1938 schrieb er sein letztes Lied in deutscher Sprache, „Zeisls Lieder verstummten im Exil. Ihre Qualität aber bleibt immerwährend: Beeindruckend ist der Reichtum an Melodien, breit die Palette an fein ausgeloteten Gefühlszuständen, die in gleißender Helligkeit ausblitzen gleichwie in düsterstes Dunkel kippen, die seufzen, klagen, toben und schreien“, beschreibt Karin Wagner sehr treffend den Stil. Diese Extreme finden sich im Gesang von Bästlein, der seinen reifen Kavalierbariton schier bis zum Bersten reizt, mit Ausdruck auffüllt und auffahrend singdeklamiert – etwa in „Schrei“ nach Walther Eidlitz – aber auch genügend Zwischentöne für die suggestive Stimmungen in „Ein buckliger Waisenknabe“ findet. „Wanderers Nachtlied“ singt er mit starker Eindringlichkeit, für „Der Briefmark“ nach Ringelnatz findet er gewitzte Zwischentöne, und die Ballade „Letzter Tanz“, das mit Abstand umfangreichste Lied in der Sammlung kurzer Miniaturen, gestaltet er als tragisch-groteske Szene. Zeisl hat Verse von Gottfried Ephraim Lessing, Goethe, Eichendorff und Mörike ebenso vertont wie von Nietzsche und Zeitgenossen, darunter von Alfons Petzoldt und dem Naturalisten Johannes Schlaf. Ein Großteil der Lieder entstand 1931, Wagner spricht vom „Liederjahr 1931“, insofern sind Ausdruck und der bänkelsängerisch harte Duktus oftmals ähnlich. Ganz anders die Spirituals, welche die deutschen Lieder umrahmen, „wann Zeisl diese Arrangements setzte, ist unklar“.
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Als hätte man es geahnt, dass die Zeisl-Wiederentdeckung weitergehen wird, findet sich auch auf der mit der Heymann- und Gilbert- Zeile „Irgendwo auf der Welt“ überschriebenen CD der Sopranistin Pia Davila und der Pianistin Linda Leine gleich zu Beginn Zeisls „Vor meinem Fenster“ auf ein Gedicht von Arno Holz, der mit dem oben bereits erwähnten Johannes Schlaf bei zentralen Dramen des deutschen Naturalismus eine Arbeitsgemeinschaft gebildet hatte (CD ES 2087). Die gezwitscherte Miniatur unterscheidet sich von anderen Liedern Zeisl, zeigt gleichwohl seine stilistische Lust und Wandlungsfähigkeit. „Zwitschern“ heißt die erste Gruppe des Duos. Und so zwitschert Davila, nachdrücklich unterstützt von Leine, soubrettenmunter in den Liedern von Joseph Achron, Arnold Schönberg, Ruth Schonthal, in einem weiteren Zeisl-Lied („Die fünf Hühnerchen“) und in Georg Kreislers gallig walzendem „Frühlingslied“ („Tauben vergiften“). Die Namen der Komponisten zeigen, dass es nicht nur um gefällig arrangierte Liedgruppen geht, bei denen Zeisl zum Thema „Rinnen“ noch „So regnet es sich langsam ein“ und „Regen“ sowie das Klavierstück „Ein Regentag“ beisteuert, sondern um die Musik verfemter, vergessener Komponisten: „Verfemung, Vertreibung und Ermordung „missliebiger“ Künstlerinnen und Künstler waren die Werkzeuge der NS- „Säuberungen“ im Kulturbetrieb. Karrieren wurden zerschlagen, Lebensspuren regelrecht ausgelöscht. Es ist den Betroffenen geschuldet, deren Biografie und Werke in die Gegenwart zu holen“. Neben Rudi Stephan und Othmar Schoeck, die das „Schicksal der Verfolgung nicht“ teilten, finden sich auf der Zusammenstellung Namen wie Ilse Weber, deren „Und der Regen rinnt“ und „Wiegala“ in Theresienstadt entstanden, wo sie 1944 ermordet wurde. Weitere Komponistinnen sind Ruth Schonthal und Ursula Mamlok, denen die Flucht in die USA gelang, die Niederländerin Rosy Wertheim lebte in ihrer Heimat im Untergrund. Spoliansky emigrierte nach London, Schönberg in die USA, Paul Frankenburger nach Tel Aviv, wo er sich fortan Paul Ben-Chaim nannte, Oskar Fried ging in die UDSSR, Stefan Wolpe zunächst nach Palästina und dann in die USA, Werner Richard Heymann sowie Bert Reisfeld nach Paris und dann nach Hollywood, Albrecht Marcuse nach Frankreich, wo er in die Fremdenlegion eintrat; der litauische Komponist Joseph Achron war bereits in den 1920er in die USA emigriert. Unmöglich auf alle einzugehen. Es ist ein enormes Pensum, das sich die Künstlerinnen vorgenommen haben, wobei die Lieder, so unterschiedlich sie auch sein mögen, durch die Zeit ihrer Entstehung erstaunlich sicher zusammengeklammert werden. Manchmal wünscht man Davilas geschmeidig elegantem Vortrag einen energischeren Zugriff, etwa bei Schönbergs Brettl-Lied „Der genügsame Liebhaber“, den Kreisler-Liedern oder Wolpes „Ansprache einer Bardame“ nach Erich Kästner, wo sie wirkungsvoll gestaltet, aber den Text etwa zu flau serviert. Bei Spolianskys „Vamp“ ist sie als verführerische Salondame in ihrem Element, den Comedian Harmonists-Hit „Mein kleiner grüner Kaktus“ singt sie mit ironischer Heiterkeit, “Irgendwo auf der Welt“ mit der Melancholie, die der Suche nach dem kleinen bisschen Glück immer innewohnt. Linda Leine ist ihr nicht nur die stilistisch wandlungsfähige Begleiterin, sondern meistert, so in Kreislers „Waltz, graceful, but not too fast“ oder den sehr anspruchsvollen Zeisl-Stücken, souverän die virtuosen Anforderungen der Solostücke. Ein schönes, klug kompiliertes Programm.
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Kreisler und Schoeck finden sich auch auf der Liedaufnahme der lyrischen Sopranistin Katharina Ruckgaber (Ännchen, Susanna, Zerlina, Nannetta, Musetta, Mélisande), die von Mozart, Schubert und Brahms bis Webern, Schönberg, Webern Eisler und Weill weit ausholt, um ihren von James Bonds Love and Let Die (Leben und sterben lassen) entlehnten Titel zu rechtfertigen. Tatsächlich beginnt sie ihr Vorwort zu der im April 2021 in Pöcking entstanden Einspielung mit dem Pianisten Jan Philip Schulze (CD Solo Musica SM 405) mit eingehenden Erklärungen zum Stellenwert von Krimis in Bücherregalen und TV, der Entwicklung der Kriminalliteratur insbesondere und fragt, „Könnte deshalb eigentlich jeder zum Mörder werden?“ Erklärungen dazu soll die Ich-Erzählerin des Albums liefern. Obwohl Liszt von vergifteten Liedern erzählt, Kreisler von einer Mörder-Verwandtschaft und Weill eindringlich vom bleichen Leib des ertrunkenen Mädchens, der „im Wasser verfaulet war“, lässt sich der 21-teilige Lieder-Krimi nur schwer erahnen. Das macht nichts. Die Auswahl ist auch ohne das unterlegte Programm ein Vergnügen. Ruckgaber ist eine versierte junge Sängerin mit einem klaren, aussagestarken Sopran, der bei leisen und fahlen Passagen nicht an Tragfähigkeit verliert, im spätromantischen Idiom bei Marx und Zemlinsky kernig leuchtet, Süße und Unschuld für Liszts „Es muss ein Wunderbares sein“ aufbietet und eine schöne Festigkeit für Schönbergs brettlliedhafte „Mahnung“ („Mädel, sei kein eitles Ding“) oder Eislers „Horatios Monolog“ besitzt. Feinfühlig begleitet von Jan Philip Schulze wird Ruckgaber der immensen Bandbreite der Stile und Handschriften, die schließlich bis zu Berios „Sequenza III“ reicht, auf vorzügliche Weise gerecht. Rolf Fath
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Vor einigen Jahren gab es unter dem Titel Wunderhorn einen Film von Clara Pons und dem Bariton Dietrich Henschel: In den Aufführungen erklangen gemeinsam mit einem Sinfonieorchester alle 24 Wunderhorn-Lieder von Gustav Mahler; die zehn Klavier-Lieder hatte Detlef Glanert im Stil Mahlers kongenial orchestriert. Bei den Aufführungen in verschiedenen europäischen Städten wurde der tonlose Film, in dem Dietrich Henschel auch als Schauspieler auftrat, auf eine Leinwand im Hintergrund der Bühne projiziert. Davor saß das örtliche Orchester, mit dem der Sänger die Lieder interpretierte. avanticlassics hat nun den im Januar 2017 im Musikforum Ruhr aufgenommenen Soundtrack herausgebracht, in dem Henschel gemeinsam mit den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane die Mahler-Lieder von Das himmlische Leben bis Urlicht ausdeutet. Der erfahrene Liedsänger setzt seinen hellen Bariton in den sängerisch anspruchsvollen Liedern durchweg differenziert ein, was in den witzigen Des Antonius von Padua Fischpredigt, Lob des hohen Verstandes und Ablösung im Sommer besonders deutlich wird; das „Duett“ Verlor‘ne Müh lässt er treffend sozusagen mit zwei Stimmen erklingen. Die Lyrismen, wie z.B. in Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald singt er mit gekonntem Legato aus. Mit der gebotenen Schlichtheit präsentiert er die volksliedhaften Rheinlegendchen, Selbstgefühl oder Wer hat dies Liedel erdacht. Auch die dramatischen Ausbrüche in Revelge, Lied des Verfolgten im Turm oder Der Tamboursgsell sowie die Gegensätze in Der Schildwache Nachtlied stellt er glaubwürdig heraus. Die Bochumer Symphoniker erweisen sich unter dem souveränen Steven Sloane als in allen Gruppen versierte Instrumentalisten, die die Mahlersche Vielfarbigkeit gekonnt zur Geltung bringen (avanti AVA10522).
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Unter dem Titel Urlicht hat der Countertenor Alois Mühlbacher mit seinem Entdecker und Mentor Franz Farnberger, seit vielen Jahren Künstlerischer Leiter der St. Florianer Sängerknaben, Lieder von Gustav Mahler und Richard Strauss aufgenommen. Manch einem, der sich in der österreichischen Musikszene auskennt, mag der Name des Counters, inzwischen ein Endzwanziger, etwas sagen. Denn aus dem einstigen Sopran-Kinderstar, der als junger Hirte im Tannhäuser in der Wiener Staatsoper und bei weiteren Solo-Auftritten gefeiert wurde, ist ein respektabler Sänger geworden, der sich mit dieser CD über das sonst für Counter übliche Barock-Repertoire herausgewagt hat. Seine Stimme hat insofern ein unverwechselbares Timbre, als sie den Klang eines Knabensoprans behalten hat. Allerdings sind die ausgewählten Rückert-Lieder sowie Urlicht und Wo die schönen Trompeten blasen aus der Wunderhorn-Sammlung, aber auch die Strauss-Lieder für die helle, schlanke Tongebung schwere Kost. Durchweg imponieren die Intonationsreinheit der Stimmführung und der vielfach erforderliche „lange Atem“, wie beispielsweise in Traum durch die Dämmerung oder Ich bin der Welt abhanden gekommen. Auch zeigen schöne Legato-Bögen im Rosenband, leuchtende Höhen in Allerseelen oder geradezu flotte Fröhlichkeit in All mein Gedanken, dass der junge Sänger bereits über beachtliche Gestaltungsmittel verfügt. Weniger gefällt die oft unnatürliche Sprechweise, die manches allzu gekünstelt erscheinen lässt; besonders fällt dies bei dem Umlaut „ei“ auf, wenn der „Sonnenschein“ wie „Sonnenscheun“ klingt und der Schluss von Ich bin der Welt abhanden gekommen unter der Aussprache von „in meinem Himmel, in meinem Lieben, in meinem Lied“ leidet. Franz Farnberger gelingt am Klavier eine sichere, partnerschaftliche Begleitung (Ars Produktion ARS 38 613). Gerhard Eckels