Römische Verwirrungen

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Max Emanuel Cencic sorgte in diesem Spätsommer für eine Sensation beim Festival Bayreuth Baroque mit seiner Produktion von Leonardo Vincis Alessandro nell’Indie in einer reinen Männerbesetzung, womit an die mitwirkenden Kastraten bei der Uraufführung erinnert wurde. Mit dabei und besonders erfolgreich war der Sopranist Bruno de Sá in der Rolle der Cleofide.  Jetzt veröffentlicht Erato eine CD mit dem Sänger, die Roma Travestita betitelt ist, also jene Arien für Frauen-Rollen vorstellt, die im 18. Jahrhundert auf Roms Bühnen von Kastraten en travestie interpretiert wurden. Das Konzept für die im Frühjahr 2021 im italienischen Lonigo produzierte CD erstellte Max Emanuel Cencic höchstpersönlich, Leider ist das Booklet mit seinen Textbeiträgen in winziger Schrift auf hellfarbigem Fond eine Zumutung für den Leser (0190296619809).

Das Programm beginnt mit zwei Arien der Titelheldin aus Alessandro Scarlattis Griselda (1721). In „Di, che sogno“ aus dem 1. Akt zwitschert der Sänger munter wie ein Vögelchen und wagt sich hinauf in Extremhöhen mit beachtlichem Ergebnis. Phänomenal ist seine Kunst, staccati perfekt und stets klangschön anzutippen. „Mi rivedi“ aus dem 2. Akt ist eine getragene Nummer, auch sie mit einem stratosphärischen Spitzenton gekrönt. Nie klingen solche Noten bei de Sà grell oder gar schrill, sie sind stets eingebunden in die Gesangslinie und wirken immer organisch.

Danach folgt eine Arie der Berenice aus Vincis Farnace (1724), also des Komponisten, mit dessen Alessandro in Bayreuth ein so immenser Erfolg errungen wurde. „Lascerò d’esser spietata“ ist die erste der insgesamt acht Weltersteinspielungen – bei dreizehn Titeln der Anthologie ein beachtliches Verhältnis. Sie ist von lieblichem Duktus und mit vielen Koloraturen und Trillern geschmückt. Zwei unterschiedliche Charaktere stellt De Sá aus Vivaldis Giustino (1724) vor. Ariannas „Per noi soave e bella“  ist eine jubilierende Arie nach ihrer Rettung von einem Felsen durch den Titelhelden. Ganze Serien von staccati sind hier zu absolvieren – für den Solisten eine leichte Übung, die sogar lustvoll klingt. Leocastas „Senza l’amato ben“  ist die schmerzliche Klagearie einer Frau, die mit ihrem Geliebten sterben will. Der Sänger formt sie mit eindringlicher Gefühlsskala und leuchtenden Spitzentönen.

Weniger bekannt sind die Komponisten Rinaldo Di Capua (1705 – 1780) und Giuseppe Arena (1713 – 1784). Ersterer ist mit seiner Oper Vologeso, re de’ Parti (1739) vertreten, aus der eine Arie der Berenice, „Nell’orror di notte oscura“, erklingt. Sie schildert den Konflikt der armenischen Königin zwischen der Freude über die Rettung ihres Gatten und der Verzweiflung, dass dieser zum Tode verurteilt wurde. Ein wiegendes Melos im Orchester steht für den aufgewühlten Seelenzustand dieser Frau, während der Singstimme virtuoses Zierwerk zugeordnet ist. Der Sänger bewältigt dieses bravourös, vermag aber auch die hybriden Gefühle der Figur plastisch zu umreißen. Aus dem Oeuvre des zweiten wählte der Sänger Achille in Sciro (1738) mit der Arietta der Deidamia „Del sen gl’ardori nessun mi vanti“ aus, ein schelmisches Stück in Menuett-Form, in welchem der Interpret eine kokette Stimmung einbringt.

Kein Unbekannter ist Baldassare Galuppi, aber seine Oper Evergete von 1747 dennoch eine Rarität. Die Arie des Candace „Qual pellegrino erante“ stellt im Programm eine Ausnahme dar, handelt es sich dabei doch um das Solo eines männlichen Helden, dem Vater der Titelfigur. In dieser Gleichnisarie wird die Arie eines Pilgers, der sich im dunklen Wald verirrt, geschildert. De Sá setzt hier sogar einige Effekte in der unteren Lage ein, die eigentlich nicht seine Stärke ist, sondern sonst eher schmal klingt.

Danach folgen wieder weniger populäre Tonsetzer mit Gioacchino Cocchi (1712 – 1796) und seiner Adelaide (1743) sowie Nicola Conforto (1718 – 1793) mit Livia Claudia Vestale (1755) und Francisco Javier García Fajer 1730 – 1809) mit Pompeo Magno in Armenia (1755). Die Titelheldin der Adelaide wird mit zwei Arien porträtiert: In „Timida pastorella“  vergleicht sie sich mit einer trauernden Schäferin, in „Nobil onda“ hofft die Gefangene auf Befreiung durch den germanischen König Ottone. Der Sopranist vermag die unterschiedlichen Stimmungen der beiden Titel eindringlich zu malen. Dazu verblüfft er im ersten mit sich immer höher schraubenden Skalen, im zweiten mit einem Koloraturfeuerwerk  der Extraklasse. Die Vestalin Livia Claudia hat vermeintlich ihr Keuschheitsgelübde gebrochen und singt in der dramatisch aufgewühlten Arie „Vadassi pure a morte“ von dem zu erwartenden Tod. De Sá klingt hier ungewöhnlich präsent in der Mittellage und eher wie ein Counter – eines der beeindruckendsten Porträts der Sammlung. Aus dem Pompeo erklingt Giulias Kavatine „Grato oblio“, in der Tochter des Giulio Cesare hofft, dass der Schlaf sie die vermeintliche Untreue ihres geliebten Pompeo vergessen lässt.

Zum Schluss noch einmal ein bekannter Titel mit der Arie der Marchesa Lucinda, „Furie di donna“, aus La buona  figliuola (1760) von Niccolò Piccinni (1728 – 1800). Es ist das Bravourstück der Anthologie schlechthin und wurde der Vergangenheit von vielen Sängerlegenden interpretiert. Hier entfacht der Solist das geforderte staccato-Geglitzer mit solcher Virtuosität, dass die Nummer völlig zu Recht am Schluss der Sammlung steht und diese krönt.

Das renommierte Barockorchester Il Pomo d’Oro, auch bei Bayreuth Baroque immer wieder im Einsatz, begleitet den Solisten unter Leitung von Francesco Corti, der interessante Akzente setzt, den Sänger aber auch zuverlässig trägt.

Bruno de Sá stellte das Programm der CD auch im Markgräflichen Opernhaus von Bayreuth im Rahmen des Festivals vor und wurde dabei von Il Pomo d’Oro unter Corti begleitet. Bernd Hoppe

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PS.: Allerdings muss auch klargestellt werden, dass heutige Falsettisten (und das sind die Counterstimmen) nicht über die Fertigkeiten und Reichweiten der damaligen Kastraten verfügen und nicht von Vivaldi oder Händel für diese Hauptpartien eingesetzt worden wären. In absentia der Kastraten, die mit dem letzten in Rom, Alessandro Moreschi (nebenstehend), ausstarben, behilft man sich heute eben mit Falsettisten, die im Barocken nur zu Nebenrollen eingesetzt wurden. Das wird gerne vergessen (oder mangels Kenntnisse nicht erinnert). In dem Film über den Kastraten Farinelli (1994) von Gérard Corbiau wurden moderne Möglichkeiten digitaler Klangmanipulation angewandt, um aus den Stimmen einer Koloratursopranistin Ewa Małas-Godlewska und eines Countertenors Derek Lee Ragin eine synthetische „Kastratenstimme“ zu mischen. Grundlage dafür waren Tondokumente des letzten Kastraten Moreschi und zeitgenössische Beschreibungen (Wiki). Für mich eine der überzeugendsten Demonstrationen. Denn in meinen Vorstellungen klangen Kastraten wie eine Mischung aus Marilyn Horne, Joan Sutherland und Mady Mesple. G. H.