Judas eine Stimme geben

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„Als ich meine erste Matthäus-Passion gesungen habe, fiel es mir schwer, das Rezitativ über den Tod des Judas zu gestalten“, räumt der aus Island stammende Tenor Benedikt Kristjánsson im Booklet seiner neuen CD ein. Nicht, weil es gesangstechnisch größere Schwierigkeiten bereite als die anderen Rezitative. Er habe die Interpretation von vielen anderen Evangelisten im Ohr gehabt und sei ohne darüber nachzudenken in deren Fußstapfen getreten, nämlich den „Judas als Verräter, Feigling, Bösewicht und einen Mann, der einen grässlichen Tod verdient hat, darzustellen“. Kristjánsson weiter: „Das wolle ich aber nicht tun.“ Er spricht von seinen Versuchen, für dieses Rezitativ eine andere Interpretation anzubieten und den daraus folgenden Auseinandersetzungen mit Dirigenten. „Das Thema hat mich immer weiter beschäftigt, schicksalhaft kam es auf mich zu.“ Als eine Quelle der Inspirationen erwies sich für den jungen Sänger der Roman Judas von Amos Oz – in Deutschland bei Suhrkamp erschienen. „Weil Judas in der Passionsgeschichte eben keine eigene Stimme hat und man den Ablauf nie aus seiner Perspektive hört“, interessierte es Kristjánsson, eine solche Geschichte zu entwickeln. Sie ist auf der bei Coviello herausgekommenen CD mit dem Titel Judas zu hören (COV 92307). Es begleiten das Ensemble Continuum und Sergey Malov mit der Violine.

Es ist nur konsequent, dass bewusste Rezitativ „Und er warf die Silberlinge in den Tempel, hub sich davon, ging hin und erhängete sich selbst“ aus dem zweiten Teil der Passion wegzulassen. Stattdessen kommt Jesus beim letzten Abendmahl zu Wort und eröffnet seine Perspektive. Der Tenor muss in die tiefe Bass-Lage wechseln, was seine emotionale Wirkung nicht verfehlt und einen Höhepunkt der Interpretation beschert: „Trinket alle daraus, das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden. Ich sage euch, ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken, bis an den Tag, da ich’s neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.“ Mich euch! Also auch mit Judas, der seine dreißig Silberlingen – den Lohn für den Verrat von Jesus – bereits in der Tasche hat, als mit den anderen am Tisch Platz nahm. Ich hole mir den Essay Der Fall Judas des Literaturhistorikers und Schriftsteller Walter Jens (1923-2013) aus dem Regel und lese nach, was ich mir vor vielen Jahren in der Ausgabe von Reclams Universalbibliothek Band 1300 auf Seite 144 angestrichen: … hätte er (Judas) sich seiner Bestimmung entzogen und die Tat verschmäht, die um unser aller Erlösung willen getan werden musste, er wäre an Gott zum Verräter geworden. Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans.“ Jens gelangt zu dem Schluss, dass es „ohne diesen Mann“ keine Kirche gegeben habe.

Kristjánsson kennt sich aus bei Johann Sebastian Bach. Zu der bereits erwähnten Stelle aus der Matthäus-Passion hat er Rezitative und Arien aus insgesamt zehn Kantaten (BWV 3, 12, 55, 76, 97, 131, 154, 157, 179 und 183) ausgewählt, die der Autor Thomas Jakobi in einen inhaltlichen Bezug zur anderen, zur tragischen Seite von Judas stellt, der den undankbarsten Part in der Passionsgeschichte auf sich nahm. Sie finden sich im Booklet abgedruckt, was auch unbedingt nötig ist. Am Sänger ist es, die musikalische Ausdeutung vorzunehmen, indem er Judas mit seiner Auswahl die Stimme gibt, der er immer vermisst hat. Das funktioniert verblüffend gut und überzeugen.

„Es mag mir Leib und Geist verschmachten“ oder „Ich fürchte nicht des Todes Schrecken“. Bei welchem Zitat man immer auch innehält, es könnte auch von Judas sein. Was Kristjánsson vorschwebt, teilt sich aber nicht automatisch mit. Es will entdeckt und erfahren werden, stellt die Hörer vor besondere Herausforderungen. Die CD ist nichts für nebenbei. Man wird sie wieder und wieder spielen müssen. Dabei erweist es sich als ungemein hilfreich, dass der Sänger mit großer emotionaler Bandbreite so deutlich und genau singt. Rüdiger Winter