Finnlands größter Komponist vor Sibelius

.

Die finnische Musiklandschaft trat erst spät ins Bewusstsein überregionaler Wahrnehmung und teilt insofern das Schicksal anderer Peripherien. Bis heute dominiert unstrittig der Name Jean Sibelius das Bild von der Musik Finnlands in geradezu omnipotenter Weise, was freilich dazu führt, dass andere Komponisten aus dem äußersten Nordosten Europas es schwer haben. Wenn das in Helsinki beheimatete, oft schon verdienstvoll hervorgetretene Label Ondine nun mit Bernhard Henrik Crusell (1775-1838) den „größten Komponisten finnischer Herkunft vor Jean Sibelius“ – so Janne Palkisto im (englischsprachigen) Einführungstext – bedenkt, kann dies gar nicht hoch genug gewürdigt werden. Obwohl die Neuerscheinung (Ondine ODE 1424-2) mit gerade 51 Minuten Spielzeit nur recht mäßig bestückt ist, soll dies mitnichten die Bedeutung dieser Veröffentlichung herabwürdigen.

Geboren wurde Crusell in der Kleinstadt Uusikaupunki (schwedisch: Nystad), im äußersten Südwesten des Landes, das seinerzeit noch zu Schweden gehörte. Glückliche Umstände führten ihn alsbald nach Stockholm, wo er als Erster Klarinettist der Königlichen Hofkapelle, als Komponist und Lehrer für Aufmerksamkeit sorgte. Drei Werke aus seiner späteren Schaffenszeit finden sich nun auf der CD versammelt. Bis Anfang der 1820er Jahre hatte Crusell vor allem für die Klarinette, sein eigenes Instrument, komponiert, darunter jeweils drei Konzerte und Quartette. Von da an widmete er sich anderen musikalischen Genres. Seine einzige Oper Den lilla slavinnan (Die kleine Sklavin) von 1824 erhielt ihren Impuls durch das tragische Ableben seiner gerade 17-jährigen Tochter Maria infolge einer banalen Erkältung. Thematisch beruht der Stoff auf Ali Baba und die vierzig Räuber von René-Charles Guilbert Pixerécourt. Inkludiert wurde die siebenminütige Ouvertüre, die an ihren düsteren Stellen an Webers Freischütz gemahnt, aber auch eine Verwandtschaft mit der Spritzigkeit von Haydns Sinfonik offenbart.

Das hochvirtuose Konzert für Fagott und Orchester entstand 1829 und galt seinem Schwiegersohn Franz Preumayr, dem Gemahl seiner anderen Tochter Sophie, der zudem Crusells Kollege in der Hofkapelle war. Das dreisätzige Werk mit einer Spielzeit von etwa 20 Minuten setzte sich in Kopenhagen, Hamburg, Ludwigslust und Paris rasch als „Schlachtross“ durch. Indem Crusell den seinerzeit sehr populären Boieldieu zitierte, schmeichelte er dem Ego der Pariser.

Noch unter Gustav III. aufgewachsen, erlebte Crusell die stürmische Zeit zwischen der Ermordung dieses Königs und der letztendlichen Etablierung der Dynastie der Bernadotte auf dem schwedischen Thron. Wiewohl Schweden Finnland an das Zarenreich abtreten musste, konnte es Norwegen (welches seinerseits den Dänen verlorenging) hinzugewinnen und auch nach dem Untergang Napoleons halten. Unter dem neuen König Karl XIV. Johann begann ab 1818 eine Rückbesinnung auf die mythologische Vergangenheit. Eine Idealisierung des nordischen Mittelalters ließ die Götter um Odin nach Jahrhunderten in der Versenkung wiederauferstehen. Eine gewichtige Rolle spielt ein diesem Zusammenhang der Historiker, Komponist und Poet Erik Gustaf Geijer. Sein Den siste kämpen (Der letzte Krieger) von 1811 setzte bereits einige Jahre zuvor den Beginn dieser Entwicklung, die sich mit den Gedichten Vikingen (Der Wikinger) und Odalbonden (Der Freibauer) fortsetzte. Crusells 1834 entstandene Vertonung von Den siste kämpen heißt sich etwas sperrig Declamatorium für Rezitation, Chor und Orchester. Die öffentliche Erstaufführung erfolgte indes erst im Dezember 1837 unter Anwesenheit des Kronprinzen (und späteren Königs) Oscar. Die Reaktionen waren eher gemischt und die Musikgeschichte ging bald über dieses eigentümliche Stück hinweg, wozu auch das nur kurze Zeit später, im August 1838, erfolgte Ableben Bernhard Henrik Crusells beitragen haben mag. Von den 23 Spielminuten werden bereits viereinhalb für die stimmungsvolle Introduktion eingenommen.Schon in dieser instrumentalen Einleitung tritt der Chor auf. Obwohl die Musik bereits romantische Anklänge hat, kommt die Rezitation noch klassisch daher, oft (nicht immer) streng abgesetzt vom Orchester. Ein merkliches Talent für einprägsame Melodien tritt immer wieder zutage. Apotheotisch wird das Werk mit dem Einzug des Kriegers in Odins Saal beschlossen und darf als Verherrlichung der sagenhaften Geschichte Skandinaviens verstanden werden.

Die Darbietung dieser nunmehrigen Weltersteinspielungen sind dazu geeignet, das Œuvre Crusells auf hohem Niveau wiederzuentdecken. Dafür sorgt die Darbietung des auf historischen Instrumenten spielenden Helsinki Baroque Orchestra unter Aapo Häkkinnen. Als Solist im Fagottkonzert tritt hinzu Jani Sunnarborg, als Rezitator im Declamatorium Frank Skog sowie die bestens aufgestellte Ingolstädter Audi Jugendchorakademie. Die Klangqualität der im Oktober 2022 im Musiikkitalo in Helsinki eingespielten Aufnahme lässt keine Wünsche offen. Der Text des Vokalwerks liegt im schwedischen Original sowie in englischer Übersetzung bei. Daniel Hauser