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Es ist angerichtet. Der Bariton Benjamin Appl bittet zu Tisch. Gereicht werden verbotene Früchte. Die schmecken bekanntlich besonders gut. Wenngleich streng vegan, können sie durchaus der Fleischeslust förderlich sein. Diese Erfahrung machten schon die ersten Menschen im Garten Eden. Dort ließ sich Eva von der Schlange dazu überreden, den verlockenden Apfel vom Baum der Erkenntnis zu probieren. Die Unschuld war hin. „Wir streben immer zum Verbotenen und begehren das, was uns versagt wird.“ Dieses Zitat des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) aus dessen Amores-Gedichten stellt Appl einem eigenen Text im Booklet seiner neuen CD mit dem verheißungsvollen Titel „Forbidden Fruit“ voran. Sie ist bei Alpha Records erschienen (ALPHA 912). Für die stimmungsvolle Begleitung am Klavier sorgt James Baillieu. Die Ausstattung gelang betont verschwenderisch. Auf theatralisch inszenierten Fotos stechen stilistische Anleihen bei der Renaissance ins Auge. Als seien Caravaccios Obstkörbe geplündert worden. „Auch wir stehen immer in diesem Spannungsfeld, wollen Erfahrungen sammeln, essen ,verbotene Früchte‘, die uns etwas Unbekanntes versprechen“, so Appl. Aber selbst nach dem „Kosten“ keimten Unzufriedenheit und der Wunsch auf, neu auftretende Grenzen zu durchbrechen. Werde das Leben dadurch besser? Erlange man wirklich mehr Freiheit, mehr Glück? „Musik und Poesie zeigen oft einen Weg jenseits dieser ständig sich verschiebenden Grenzlinien.“ Mit Faurés „In paradisum“ beginnend, soll das Album nach den Vorstellungen des Sängers der „biblischen Erzählung folgend, einen Bogen spannen, der den Zuhörer zu Beginn ins Paradies hinein“ und am Ende, wenn der Garten Eden verschlossen wird, „wieder herausführt“. Einzelne Bibelzitate würden musikalisch wie mit einem Kaleidoskop beleuchtet. Dabei reiche die Spannweite vom Volkslied über das deutsche Kunstlied hin zum französischen Impressionismus, zu Vertonungen neuer Sachlichkeit und Melodien aus Tonfilmen sowie zeitgenössischen Kompositionen.
Das sollte reichen. Mit einundvierzig Nummern – fünfzehn davon sind kurze gesprochene Einwürfe des Interpreten – gelangt die CD zwar nicht an ihre physischen, dafür aber an ihre intellektuellen Grenzen. Im Booklet braucht es siebzehn Seiten, um die literarischen Vorlagen im Original und in Übersetzungen – darunter auch ins Deutsche – abzubilden. Mitlesen ist Pflicht. Der Wechsel zwischen den Sprachen und Stilen will auch für den Sänger bewältigt sein, was ihm nicht durchgehend gelingt. Immerhin wird sein unverwechselbares einnehmendes Timbre zur Konstante der Interpretation. Viele Titel haben es inhaltlich und musikalisch in sich wie Hanns Eislers Ballade vom Paragraphen 218. Oder Goethes Ganymed in der Vertonung durch Hugo Wolf, der nach gut fünf Minuten mit hartem Schnitt von Kurt Weills Sehnsuchtslied Youkali abgelöst wird. Wolf wird noch mehrfach vorkommen, Robert Schumann auch. Von Franz Schubert sind das Heideröslein und – das ist jetzt kein Tippfehler – Gretchen am Spinnrade im Angebot, jenes Lied also, vor dem selbst Dietrich Fischer-Dieskau in seinem Streben nach enzyklopädischer Vollständigkeit zurückschreckte. Appl, sein letzter Schüler, singt es – womöglich gar als erster Mann in der Aufnahmegeschichte. Es ist ihm vor allem wegen des Schicksals von Gretchen wichtig, die sich Faust in Liebe hingibt und als Kindsmörderin endet.
„Kann denn Liebe Sünde sein?“ Wer auf das Lied, welches Zarah Leander im Ufa-Film Der Blaufuchs zum besten gab und das danach ein unverwüstliches Eigenleben entwickelte, nicht gefasst gewesen ist, soll nur genau hinhören. Es gibt nämlich noch eine Geschichte hinter dem Lied. Dessen Text stammt von Bruno Balz, der dem eigenen Geschlecht zuneigt gewesen ist und deshalb von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Vor diesem Hintergrund kann das Lied auch als sein Outing verstanden werden – als spreche er, Balz, der von der schwulen Community als Aktivist verehrt wird, für seinesgleichen und für sich selbst. Die einzelnen Begründungen des Sängers für seinen Kanon sind zwar plausibel, teilen sich aber nur selten von selbst mit. Zu oft fragt man sich, warum nun dieses oder jenes Lied eine verbotene Frucht sein soll? Über die meisten Verbote ist nämlich die Zeit hinweggegangen. So wird aus verbotenen Früchten schnell gemischtes Obst (16. 08. 23). Rüdiger Winter