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Genau drei Zentimeter vor dem Matinée-Radio-Mikrophon starb Manon Lescaut in der stimmungsvoll-konservativen Inszenierung an der Met 1979 – Renata Scotto hatte sich durch Pappe und Wüstenersatz genau zu diesem strategischen Punkt der Riesenbühne hindurchgerobbt, um vor dem diskret aufragenden Mikrophon von Texaco unendlich wirkungsvoll an 3 Millionen Radiozuhörer ihre letzten Töne zu verhauchen. Das war Kunst, das war Chuzpe, das war Können und Raffinement. Publikum wie auch ich erstarrt, mesmerisiert, sprachlos, um dann in frenetischen Jubel auszubrechen. Diese zierliche Gestalt, die da ebenso gekonnt wie gerührt ihren unendlichen Applaus entgegen nahm („Wie? Ich? Wirklich?“ „Aber nein…“), schien nicht aus dieser Welt zu sein. Und dennoch hatte sie, Renata Scotto, uns drei Stunden lang Magie vorgeführt (Pausen an der Met sind lang), hatte uns glauben machen, sie sei ein junges Ding voller Sehnsucht nach dem Leben, voller Unschuld bis zum Schluss, voller Kraft in der in diesem Stück stark geforderten Stimme.
Ich werde auch nicht ihre Francesca da Rimini vergessen, wie sie in dieser unendlich luxuriösen Produktion (dto. 1984 recht reif an der Met und auf DVD bei DG) neben dem extrem sexy Domingo eine Jugendstil-Elfe gab, voller Poesie, voller rollengerechter Manier und erneut voller Sehnsucht nach der Liebe, nach Sterben auf höchstem Niveau, stimmlich von einer Perfektion der kleinen Noten, der schimmernden Valeurs, die sie mit sparsamen, mädchenhaften Gesten unterstrich.
Ihre Desdemona neben Domingo oder Vickers am selben Haus hatte für mich diese Modena-Entschlossenheit, dieses unglaublich Italienische, das ans Resolute grenzt und gleichzeitig mit festem Glauben am Fatalen festhält – eine wunderbare Charakterstudie einer Frau, die offenen Auges in ihr Verderben stürzt, die wie Carmen weiß, was ihr passieren wird.
Merkwürdiger Weise habe ich bei der Scotto selten nach dem Wie oder Womit gefragt – natürlich, die Stimme als solche wäre eigentlich fast immer zu klein für diese großen Partien gewesen, und die Höhe konnte auch sehr scharf klingen, manchmal auch sauer, zumal zu Beginn der Karriere. Aber die Scotto kompensierte ihre sehr lyrische Herkunft (wie man sie auf frühen Aufnahmen als Lucia oder Gilda hört) mit ungeheurer Intelligenz der Gestaltung, beherrschte ihr Instrument perfekt und über dessen natürliche Grenzen hinaus und machte aus jeder Phrase ein Ereignis, ein Puzzlestück im funkelnden Ganzen. Keine wie sie, möchte man sagen, folgte der Callas dichter nach. Keine wie sie beherrschte die Diktion so unglaublich raffiniert zur Gestaltung eines Charakters, keine wie sie machte beim Singen einen solchen Zauberladen an Illusion und Kunst auf. Sie war eine Magierin. Andere wucherten vielleicht mit mehr Kraft oder runderen Stimmen – die Scotto überzeugte durch Überzeugung. Ihr Illusionstheater war einfach perfekt.
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Über ihren Werdegang kann man alles bei Wikipedia nachlesen – eine Frau ohne Skandale, privat immer eine Dame und immer eine Künstlerin, immer eine ebenso charmante wie entzückende Person (wie ich selber sie bei mehreren Gesprächen und in Meisterkursen in Italien in Erinnerung habe). Dazu eine neugierige, die die Grenzen ihres Mediums vor allem gegen Ende ihrer Gesangskarriere auslotete mit der Femme von Poulenc, sogar mit Straussens Marschallin (in Palermo) und Klytämnestra (in Schwerin – che coraggio!) und Wagners Kundry (dto., mit Robenwechsel für den Mittelakt), letztere sehr eindrucksvoll konzentriert und erstaunlich wortdeutlich, selbst wenn dies nicht wirklich ihr Metier war zollte man doch der Künstlerin Bewunderung.
Dieser konsequente Werdegang von der Lyrischen zur Spinto-Sängerin zeitigte so viele glückliche Auftritte und Platteneinspielungen, dass sie für die Nach-Callas-Ära die ganz bestimmende Sängerin war, auch durch ihren klugen Schachzug, die Nachfolge der Tebaldi unter James Levine an der Met anzutreten, wo sie ihre größten Erfolge hatte. Aber eigentlich trat sie, außer als Einspringerin für die Callas-Sonnambula in Edinburgh 1978 (entzückend-charaktervoll hab ich sie in Erinnerung), mit ihrer allerersten Norma unter Muti 1979 in Florenz ins Rampenlicht der Welt (die bezaubernde Margherita Rinaldi als Sopran-Adalgisa nicht zu vergessen). Von nun ging´s voran. Und es gibt manche ihrer Einspielungen, ohne die ich nicht leben möchte – ihre Abigaille/EMI, Traviata/EMI, Butterfly/EMI und Sony, Francesca da Rimini/DG, Manon Lescaut/DG und Luisa Miller/DG, dazu ihre Lady Macbeth aus London und New York und vielleicht noch die für mich unerreichten Porträts liebender Frauen großen Formats auf den verschiedenen Sony-LPs/CDs. Renata Scotto hat exemplarisch vorgeführt, was man mit Willenskraft, einer bombigen Technik und vor allem größter musikalischer Intelligenz erreichen kann: die künstlerische Wahrheit. Sie starb am 16. August im Alter von 89 Jahren in Savona. Grazie Signora. Geerd Heinsen
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Nicht vergessen werden soll ihre pädagogische Tätigkeit in zahlreichen Meisterkursen, vor allem aber auch nicht ihre bedeutenden Regiearbeiten. Dazu fand sich in unserem Archiv ein Gespräch mit Samuel Zinsli anlässlich von Scottos Arbeit an der Wally Catalanis am Stadttheater Bern von 2005, das wir nachstehend noch einmal in Auszügen bringen./G. H.
„Die Oper ist für Emotionen gemacht!“: Gerade mal zwei Stunden vor der Premiere ihrer „Wally“ Produktion am Stadttheater Bern erschien die Künstlerin blendend aufgelegt im stilvollen Foyer des Theaters und nahm sich viel Zeit für ein Gespräch über’s Regieführen, über Catalanis Wally – und natürlich auch über sich selbst.
Lange sind Sie als Sängerin in allen Opernhäusern zu Hause gewesen – nun kommen Sie als Regisseurin. Ist das ein großer Unterschied? Inszenieren ist schwierig. Als Sängerin habe ich die Musik, die mich führt. Auch beim Inszenieren kann ich mich von der Musik führen lassen, aber als Regisseurin bin ich noch jung … Ich habe nun eine neue Karriere, die ich ebenso liebe wie das Singen, aber es sind zwei sehr verschiedene Dinge – jetzt trage ich die Verantwortung für die ganze Produktion, auch für die Auswahl des Bühnenbildners, des Kostümbildners, des Theaters, der Beleuchtung … Und aufs Bühnenbild lege ich besonderen Wert. „La Wally“ in Bern ist nun meine vierte Produktion mit Carlo Diappi, der mein Lieblingsbühnen- und Kostümbildner ist. Ich mag Theater, das modern ist – und auch wieder nicht modern. Das heißt, ich vertraue auf die Musik, deshalb ziehe ich einfache, stilisierende Bühnenbilder vor, die eine klare Idee von der Handlung vermitteln. Und der romanticismo, den die Musik vorgibt, wird in den Kostümen und der Lichtgestaltung wiederaufgenommen. Mich interessiert das Ganze – da sind die Solisten und der Chor, und alle sind Menschen, die es zu respektieren und zu führen gilt. Die Arbeit mit den Sängern fällt mir verhältnismäßig leicht, weil ich ja selbst Sängerin war – sie vertrauen darauf , dass ich die vokalen Anforderungen verstehe und ihnen Bedingungen schaffe, in denen sie singen und spielen können. Denn für mich ist der perfekte Sänger der, der es schafft, singend darzustellen und darstellend zu singen.
Wie sind Sie Regisseurin geworden? Ach, ganz zufällig! Ich hatte die Butterfly an der Met schon unzählige Male gesungen und wurde wieder dafür angefragt. Aber ich wollte es nicht mehr machen und sagte: „Gebt mir eine andere Oper!“ Und da kam die Antwort von der Met: „Dann geben wir dir die ganze Produktion – mach damit, was du willst!“ Ich hab drei, vier Monate lang überlegt. Das war eine sehr schöne Inszenierung von einem Japaner, in der ich oft aufgetreten war, die ich also sehr gut kannte. Aber im Laufe der Zeit hatten andere Regisseure und Assistenten sie verdorben, lauter unnützes Zeug dazugetan. Deshalb habe ich mir schließlich gesagt: Vielleicht könnte man zurück zum Original gehen – und dann habe ich eingewilligt. Das war ziemlich mühsam, aber an der Met kriegt man ja alle Hilfe, die man braucht. Das war 1986. Ich bin also – mit der Met! – ziemlich weit oben eingestiegen. Dann hat man mir schon für’s nächste Jahr eine neue „Butterfly“ in der Arena di Verona angeboten. 80 Choristen, 45 Geishas, 25 ballerine! Und einen künstlichen See haben wir konstruiert – ein schönes, untraditionelles Bühnenbild. Das war eine Erfahrung… Ich habe dabei fünf Kilo abgenommen. Aber man wächst ja mit seinen Aufgaben.
Von da an habe ich versucht, alle Aspekte des Theaters kennenzulernen, auch die Technik, die Arbeit der Bühnenarbeiter und der Elektriker. Dann kamen auch Regiearbeiten, um die Sängerinnen und Sänger mich gebeten haben, z. B. Deborah Voigts Tosca-Debüt in Miami. Und dann eine Traviata, auch in Miami, eine in New York an der City Opera, wo ich einen Emmy für die Fernsehübertragung gewonnen habe, Sonnambula, Adriana Lecouvreur in Santiago, eben komme ich von einer Butterfly in Dallas – Sie sehen, ich bin fürchterlich beschäftigt! Ach ja, ich habe auch einmal Regie geführt und selber mitgesungen, das war im Medium von Menotti – da war ebenfalls Carlo Diappi der Bühnenbildner. Mit ihm habe ich dazu Pirata und Norma gemacht. Norma inszenieren – ah, che lavoro! Aber eine schöne Arbeit! Wir hatten zwei sehr gute Sängerinnen, Serena Farnocchia als Adalgisa und Cynthia Makris als Norma – und ihr Mann Raimo Sirkiä als Pollione. Das war eine unglaubliche Anstrengung, aber ich habe es sehr genossen, denn ich liebe Norma. Diappi hat dafür nur Holz verwendet, finnisches Holz in neoklassischen Strukturen, mit neoklassischen Kostümen.
Gibt es Regisseure, die Ihnen besondere Vorbilder geworden sind? Ja, mindestens fünf! Vor allem John Dexter, der mein großer Maestro an der Met war, ein unvergesslicher Regisseur. Piero Faggioni, Mauro Bolognini, Raf Vallone, Peter Hall, mit dem ich Macbeth gemacht habe – unvergesslich , wie er mit mir die Figur der Lady geformt hat. Mit Franco Zeffirelli habe ich leider nur die Musetta an der Met gemacht. Ich erinnere mich auch gern an Renato Castellani, aber das ist länger her. Von Faggioni, Hall und Dexter habe ich besonders viel gelernt – wie ich mich auf der Bühne bewegen muss, wie ich die Worte verinnerlichen kann und sie nicht nur singe. Ich muss sagen, ich habe immer versucht zuzuhören und zu lernen. Oft kann man auch von nicht besonders guten Regisseuren etwas lernen.
Singen Sie noch? Es gab Gerüchte über eine Pique Dame: No, cantare basta. Ho chiuso. Nein! Ich mag keine alte Frau spielen, auch wenn ich nun eine bin. Genau, ich bin für die Rolle noch zu jung! Nein, ernsthaft, das wäre auch nicht mein Fach. Gut, ich habe Klytämnestra gesungen, aber dann hab ich gesagt: Jetzt ist Schluss! Man braucht zum Singen Körper und Geist, und – ich singe zwar noch gelegentlich in den zwei Kursen, die ich jährlich an der Accademia Santa Cecilia gebe, aber wenn ich heute eine Mädchenrolle interpretieren soll, fühle ich mich dabei nicht mehr wohl – das passt nicht. Und ich bin zufrieden damit, denn nun stehe ich morgens auf und muss nicht sofort testen, ob die Stimme in Ordnung ist, ich kann plaudern, lang aufbleiben … Ich habe so viele schöne Erinnerungen und Aufnahmen, warum also immer noch singen, jetzt, wo meine Stimme nicht mehr so schön ist wie vor 20 Jahren? Mir gefällt mein Leben, wie es ist. Ich bin Großmutter und genieße die Zeit mit meinem Enkel, der schon dreieinhalb ist, ich unterrichte und inszeniere – und ich gehe für mein Leben gern ins Theater, auch ins Sprechtheater, auch Modemes. Diese Woche war ich in Zürich in „Ariane et Barbe Bleu“, das hat mir sehr gefallen! Dagegen fällt es mir schwerer, z. B. in eine „Butterfly“ zu gehen – außer, es singt eine meiner Schülerinnen.
Wie stehen Sie zu der verbreiteten Meinung, es gebe heute weniger große Sängerpersönlichkeiten als früher? Wissen Sie, ich spreche nicht gern von der Vergangenheit , mich interessiert die Gegenwart. Wir haben heute großartige Sängerinnen und Sänger wie eine Renée Fleming, eine Deborah Voigt , einen Marcello Giordani und andere, und ich glaube, das sind die Künstler, die die Oper weitertragen. Es ist heute anders – die jungen Sänger glauben, sie hätten nur wenig Zeit zum Wachsen, zum Entwickeln. Es gibt unglaublich viel Konkurrenz, man braucht sofort die Aufmerksamkeit der Medien – und das ist nicht die beste Methode für organisches Wachsen, nicht wahr? Was man schnell, schnell aufbaut, hält meist auch nicht lange. Ich rate den Jungen immer, es adagio anzugehen – sie haben ja so viel Zeit. Ich habe aber Angst für das Genre Oper heute – dass das Publikum sich zu sehr an spektakuläre Effekte gewöhnt. Manche jungen Regisseure kennen und lieben die Musik nicht mehr, bedienen sich des Theaters nur noch. Und das ist kein Dienst am neuen Publikum. Das Publikum braucht Emotionen – wenn es kalt aus der Oper kommt, bringen wir das Theater nicht weiter. Auch manche Dirigenten verderben viel mit der Mode, alles ganz präzis und streng im Metrum und genau wie notiert zu nehmen. Die Oper ist doch für Emotionen gemacht , da muss mal eine Note länger gehalten werden, und dann wird applaudiert. Man applaudiert heute weniger in der Oper – warum? Fehlt da der Enthusiasmus, die Emotion? So. Ich habe alles gesagt – jetzt muss ich gehen (Foto oben Renata Scotto als Francesca da Rimini an deer Met/Foto DG Video).