Erstmals nach 185 Jahren

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Seit vielen Jahren nicht mehr aus dem Berliner Opernerleben wegzudenken sind die halbszenischen Aufführungen selten oder nie in der Hauptstadt zu erleben gewesener italienischer Opern durch den und mit dem Dirigenten Felix Krieger, erst im Radialsystem an der Spree, inzwischen längst aber im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Vom Belcanto mit Donizettis Maria di Rohan oder Betly, über Verdi mit Oberto, Masnadieri, Stiffelio und Puccini mit Edgar bis hin in den tiefen Verismo mit Mascagnis Iris oder Zanetto reichen die teilweise inzwischen auf CD erhältlichen Aufführungen, die im vergangenen Jahr von einer Uraufführung gekrönt wurden.

Dalinda nennt sich Gaetano Donizettis Oper, und auf dem Cover der von dem Label Oehms herausgegebenen Doppel-CD finden sich neben lateinischen auch arabische Schriftzeichen für den Namen der Titelheldin. Diese war nämlich eigentlich nicht eine persische Fürstin, sondern die allgemein bekannte Papsttochter und angebliche Giftmischerin, Blutschänderin und Ehebrecherin Lucrezia Borgia, über die, basierend auf einem Drama Victor Hugos, Felice Romano das Libretto verfasst, Donizetti die Musik komponiert hatte und die an der Mailänder Scala mit zunächst bescheidenem, aber wachsendem Erfolg uraufgeführt worden war und die in Paris auch dem Publikum, aber nicht Hugo gefiel. Schlimmere Querelen aber gab es in Neapel, wo die Zensur trotz vieler Änderungen und Verlegungen in alle möglichen Zeiten und Milieus ihr Placet verweigerte, so dass der Komponist und der Librettist der Angelegenheit schließlich müde wurden und Dalinda, der letzte Vorschlag zur Güte, nie aufgeführt wurde. Musikalisch sind die beiden ersten Akte von Lucrezia Borgia und Dalinda fast identisch, der dritte Akt jedoch wurde von Donizetti fast vollkommen neu komponiert, so dass am 14. Mai 2022 tatsächlich vollkommen neue Musik erklingen konnte. Die Handlung wurde in die Zeit des Dritten Kreuzzugs verlegt und von Venedig und Ferrara nach Persien, es bleiben  Mutter und fern von ihr aufgezogener Sohn sowie der eifersüchtige Ehemann Acmet, der eine ehebrecherische Liebe zwischen beiden argwöhnt und ihren Tod beschließt. Wie der ursprüngliche Gennaro hat auch der Ildemaro einen treuen Freund, der Mezzosopran singt, zur Seite, wurden aus den übermütigen italienischen Adligen nun Kreuzritter. Verschärft wird die Handlung durch die Glaubensgegensätze und die Tatsache, dass Gennaro aus einer früheren Ehe stammt, Ildemaro hingegen der Fehltritt mit einem Christen sein muss. Die vielen Rettungsversuche führten letztendlich dazu, dass aus einem zumindest zu großen Teilen historisch beglaubigten Stoff ein wildes Schauermärchen wurde, was jedoch den musikalischen Wert des Werks in keiner Weise mindert, wohl aber die Wahl einer nur akustischen Übermittlung der immer sehr klug gestalteten Aufführungen der Operngruppe nachvollziehbar werden lässt.

Dalinda galt lange Zeit als verschollen, bis die italienische Musikologin Eleonora di Cintio Bruchstücke in Archiven entdeckte, zusammenfügte und der Verlag Casa Ricordi, die auch über eine Dependance in Berlin verfügt, die Herstellung einer vollständigen Partitur ermöglichte.

Wer fast alle Aufführungen der Berliner Operngruppe erlebt hat, kann nur über deren Entwicklung staunen, darüber wie sich der unüberhörbare Enthusiasmus von Chor und Orchester erhalten, ja noch verstärkt hat und gleichzeitig eine mit den institutionellen Orchestern der Stadt vergleichbare Professionalität und Virtuosität, im Erreichen von Italianità kaum zu überbietende Qualität erreicht hat. Das zeigt sich bereits bei der Sinfonia voller Brio und Slancio, es zeigt sich beim rücksichtsvollen Begleiten der Solisten und beim Spannen großer Bögen, beim nie Nachlassen an Intensität. Auch der Chor vermag in diesem Sinne mitzuhalten und verdient großes Lob.

Von Anfang an legte die Berliner Operngruppe großen Wert auf angemessene Sängersolisten, arbeitete doch schon im Radialsystem ein Francesco Ellera D’Artegna mit ihr zusammen. Für die Titelpartie von Dalinda braucht es einen echten dramatischen Koloratursopran, den man mit Lidia Fridman gefunden hatte, die über ein melancholisches, in keiner Weise anonymes Timbre verfügt, Intervallsprünge mühelos meistert, kultiviert auch bei rasanten Tempi bleibt und mit einem schmerzlich umflorten „È spento“ die Oper beschließt. Davor kann sie noch einmal, Donizetti hat seine Soprane mit wunderbaren Schlussmonologen versehen, für einen Höhepunkt der Aufnahme sorgen. Lediglich am Schluss des ersten Akts gerät das Vibrato etwas außer Kontrolle. Eigentlich bereits die schweren Verdi-Kaliber wie Radames singt der Tenor Luciano Ganci, der, vergleicht man mit berühmten Gennaros, eher ein Aragall als ein Kraus ist. Er phrasiert gut, kostet Fermaten gekonnt aus und hat eine schöne Nachdenklichkeit für das Gebet des Ildemaro. Er ist leidenschaftlich in der Cabaletta, singt ein zärtliches „mia madre“ und erfreut mit einem beachtlichen Spitzenton. Durch eine gute Diktion und das Timbre eines Brunnenvergifters ist auch der ansonsten im Buffofach tätige Paolo Bordogna mit schöner Phrasierung ein hochachtbarer Acmet. Als Ugo d’Asti erfreut Yajie Zhang mit mildem Mezzo, könnte nur in die Cabaletta ihrer Arie mehr grinta einbringen. Keinerlei Ausfall gibt es in dem umfangreichen Herrenensemble.

Der nächste Auftritt der Berliner Operngruppe findet am 2. Juni 2024 mit Puccinis Jugendwerk Le Villi in beachtlicher Besetzung und natürlich mit Felix Krieger am Dirigentenpult statt. Das ist  ärgerlicherweise auch der Tag der Premiere von Chowanschtschina in der Staatsoper (Oehms Classics 989 2 CDs). Ingrid Wanja