Morbide Opulenz

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Wieder einmal ist das Münchner Rundfunkorchester eine fruchtbringende Verbindung mit dem Palazzetto Bru Zane eingegangen. Am 29. Januar 2023 gab’s  ein Konzert von Jules Massenets Oper Ariane in München, das dann mitgeschnitten beim Palazzetto Bru Zane in dessen CD-Buch-Reihe der Französischen Romantischen Oper im Frühjahr erscheinen wird. Ein schönes Joint-venture, wie man von anderen Unternehmen dieser Art in der Vergangenheit weiß (so die Proserpine von Saint-Saens, Le Tribut de Zamora von Gounod oder dessen Cinq-Mars)

Massenets „Ariane“: Die bedeutende Lucienne Bréval war die Ariane der Uraufführung/ Wikipedia

Die Besetzung war jung (Amina Edris, Marianne Croux, Judith van Wanroij, Kate Aldrich, Julie Robard-Gendre, Jean-François Borras, Yoann Doubrouque, Jean-Sébastien Bou, Philippe Estèphe sowie Chor des Bayerischen Rundfunks und Münchner Rundfunkorchester unter Leitung von Laurent Campellone, der die Oper bereits beim Massenet-Festival in Saint Etienne 2007 dirigierte). Opernliebhaber des Besonderen, die es nicht ins Konzert geschafft haben, konnten am Radio der Live-Übertragung am 29. Januar folgen. Und man muss bei dieser Gelegenheit den wirklich fabelhaften Service des Münchner Rundfunkorchesters loben, der das französisch-deutsche Libretto in drei Druck- (bzw smartphone-) Versionen sowie den nachstehenden Einführungsartikel auf seiner Seite zum Downloaden anbietet, chapeau! das ist gut angewandtes Beitrags-Geld.

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Noch ein Massenet für den Palazzetto, fragt sich der grundsätzliche Opern-Fan? Wäre die Ariane (die es nur auf einem älteren Radio-Mitschnitt gibt/ unten mehr) nicht wirklich eine Rarität, würde man die Augenbrauen sehr hoch ziehen. Andere Palazzetto-Veröffentlichungen – wie die jüngste geplante – sind keine. Die geplante Hérodiade aus Lyon 2022 ist in der Titelpartie fragwürdig besetzt und kommt – wie inzwischen bei manchen Palazzetto-Veröffentlichungen – als Doublette oder sogar Triplette daher, unnötig wie ein Kropf (wie die Péricole oder eine erneute Vestale … Man schüttelt doch den Kopf über der Repertoirepolitik des franco-italienischen Hauses, zumal nicht immer wirklich beglückend gesungen wird).

Wie auch immer, Ariane (Uraufführung: 31. Oktober 1906 an der Pariser Oper/Palais Garnier) ist hoch willkommen. Und deshalb – nach der Konzertkritik – eine Einführung von Florian Heurich aus dem Programmheft des Münchner Rundfunk Orchesters für das besagte Konzert. G. H.

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Und nun die Rezension zur Aufführung von Herbert Schneider: Ein Fest an schmaler Opulenz. Das Herausragende an der konzertanten Aufführung von Massenets später Oper Ariane am 29. Januar 2023 waren für mich die mitwirkenden Herren, der sensationelle Chor und das raumgreifende Münchner Rundfunk Orchester unter Laurent Campellone.

Auf den Damen lag ein Schatten. Was umso bedauerlicher war, als bei der Uraufführung 1906 und späteren Wiederaufnahme 1937 immerhin solche absoluten Stars wie Lucienne Bréval oder die große Germaine Lubin die Titelrollen verkörperten, letztere unterstützt von niemandem Geringeren als Georges Thill in der Partie des Thésée. Und wenn man sich verdeutlicht, dass die Sängerinnen der Pariser Premieren zeitgleich auch Wagners Brünnhilden, Kundrys oder Ortruds sangen, hatte man doch Erwartungen an die Mutigen, die sich diesen Partien nähern.

Diese späten Opern einer sterbenden Epoche, die ihr Ende mit dem 1. Weltkrieg fand, bedürfen der Opulenz, der unglaublichen Eleganz, der Großräumigkeit der Präsentation, um zu wirken. Sie waren für eine uns unvorstellbare Üppigkeit gedacht, für ein müdes, blasiertes Publikum und den Ikonen der Bühne auf den Leib geschrieben. Ihnen nur handwerklich-solide beizukommen, wird ihnen nicht gerecht und kann sie nur blass ins Leben zurückholen, so lobenswert der Versuch auch ist. In München kochte alles auf kleinerer Flamme, liedhafter oft und definitiv lyrisch statt heroisch, wenngleich der Ariane-erfahrene Laurent Campellone an lautem Schmackes nicht sparte und diesem gigantischen Kitschkasten zu einiger orchestraler Wiederbelebung verhalf: weniger die Streicher als vielmehr wunderbare Holzbläser und tolles Blech beim Münchner Rundfunk Orchester, dabei durchaus auch heruntergeschraubt zu leisen Passagen, um die Mitwirkenden nicht im Klang zu ertränken: sehr anständig! Und dazu der wirklich total wortverständliche Chor mit himmlischen Sopranen und sonoren dunklen Stimmen. Man hätte mitschreiben können. Und badete im Klang. Stellario Fagone  sei Dank.

Die solistischen Herren waren exzellent. Der recht helle, mir etwas zu lyrische Jean-Francois Borras gab dem Thésée vielleicht weniger Virilität denn frische Jungenhaftigkeit, aber seine Diktion – wie die seines Bariton-Kollegen Jean-Sébastien Bou als expressiver, schön singender und eben französisch timbrierter Pirithous – war exemplarisch, ein Genuss auch seine geforderte Strahlkraft der nicht sehr großen Tenorstimme. Dazu kamen Philippe Estèphe und Yoann Dubruque in kleineren Partien, ebenfalls hervorragend ebenfalls französisch im Timbre.

Vier Damen waren das Problem. Amina Edriss sang als Mezzo-Ariane in den leiseren Momenten, wenn sie nicht drücken musste, betörend tonal, nicht wirklich wortverständlich und mir viel zu liedhaft. Solange sie über mezzavoce nicht hinausgehen musste, war´s ein Fest an schmaler Opulenz, und das muss man wirklich anerkennen. Im Saal verlor sich dies auch etwas, nachgehört vom Radio fiel´s mir auf. Alles darüber klang eng, hart erarbeitet, in der knappen Höhe dann mit einem auf die Dauer nervenden Metallton, der signalisierte, das Mehr nicht möglich war. Und die Partie ist eindeutig zu groß für sie – die braucht eine Sutherland, Crespin, Esposito, auch Netrebko oder DiDonato, eben eine erfahrene Operndiva der alten Schule. Es ist eine Diven-Partie. Für diese geschrieben. Diese Opern sind nichts für junge Stimmen. Dennoch: Ich war hin-und hergerissen zwischen Bewunderung und Augenbrauenhochziehen. Singen kann Frau Edriss, sans doute, aber vielleicht nicht diese großen Partien, und nicht so hohe und nicht so große.

Der Fleck auf dem reduzierten Gemälde war die schartig gewordene Mezzostimme von Kate Aldrich als Phèdre – wobei nur im Saal klar war, wer wann sang. Am Radio waren die Stimmen oft nicht auseinanderzuhalten (Dank an das Münchner Rundfunkorchester für das auch im dunklen Saal lesbare online-Libretto!). Hier – denke ich – herrscht ein Besetzungsfehler, der sich auf der CD des Palazzetto später rächen wird. Weil Ariane ein dramatischer Sopran mit leuchtender Höhe ist  (Germaine Lubin!) und kein halber Mezzo mit knapper wie Frau Edriss. Kate Aldrich hatte ihre leisen, durchaus lyrisch-schönen Mezzo-Momente, aber unter Druck rettete sie sich auch mal in den scharfen Schrei oder in einen störenden  Brustschnarrer (ihre genannte Kollegin zweimal auch, im letzten Akt). Die Stimme gibt nach, so viele Carmen rächen sich eben.

Julie-Robard-Gendre sang die Perséphone, trotz des allgemeinen Jubels für mich viel zu unruhig und quallig, eindrucksvoll sicher, aber stimmlich bei dem starkem Registerwechsel nicht wirklich ein Gewinn. Und bei einer so tiefliegenden Erda-Ulrica-Stimme erstaunlicher Weise auf Kosten des Wortes (naja, bei dem zum Teil abenteuerlichen Text von Camille Mendès – was für ein Kitsch, wahrlich kein Hoffmannsthal!) Da hatte ihre Rollenkollegin Anne Pareuil in Saint Etienne 2007 wirklich die Nase vor und zeigte, was ein gut geführter französischer Alt ist (nachzuhören bei youtube). Wobei man auch sagen muss, dass Massenet gemeine Intervallsprünge für alle drei Frauenpartien geschrieben hat.

Judith van Wanroij, Hauskraft beim Palazzetto, bei dem das Konzert noch in diesem Jahr veröffentlicht wird, ließ (als erbarmende Göttin Cypris) herbe Verschleißspuren hören, besonders in den scharfen hohen Noten, sie verliert Farbe in der Stimme. Auch hier zu viel oder unzureichende Technik? Und auch Marianne Croux in der kleinen Partie der Eunoe machte stimmlich nicht viel her außer einer hellen, recht unruhigen Stimme. Noch mal zum Lehrer?

Dennoch: Die Begegnung mit diesem Spätwerk eines müden, ausgebufften und vielleicht auch zu erfolgreichen Komponisten war als solche lohnend, verfügt das Werk im Dauerparlando doch über viele schöne Stellen (das Finale allzumal), die in Teilen stark an Wagner erinnern. So in Akt 2 oder das Aufflammen der Leidenschaft in Akt 5 á la Tristan. Anderes erinnert an Lalo (Le Roi d´Ys) und reicht zu Massenets Esclarmonde oder zum Roi de Lahore zurück, so das Klingeling-Ballett im 4. Akt. 1906 war eben schon sehr, sehr spät, und der Rückgriff auf Vergangenes geht einher mit den sozialen/ politischen  Entwicklungen in einem Frankreich nach Versailles. Oper als etwas Spiegel der Gesellschaft zeigt sich auch hier.  Herbert Schneider

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Massenets „Ariane“: Bühnenbild zur Wiederaufführung 1937 an der Pariser Opéra Garnier/ BNF Gallica

Florian Heurich: Nach einer gewissen Fin-de siècle-Opulenz in der Kunst machte sich um 1900 zunehmend ein Interesse an der Antike bemerkbar und damit am Klassischen und Archaischen. Rund fünfzig Jahre zuvor hatte Hector Berlioz mit Les troyens bereits das unumstößliche Monument eines antiken Sujets aus dem Blick der Romantik geschaffen, und insbesondere das Spätwerk von Jules Massenet war dann geprägt von Stoffen aus dem Altertum und der Mythologie. Die 1906 uraufgeführte Ariane steht am Beginn dieser Phase, darauf folgten noch der als Fortsetzung und Partnerstück konzipierte Bacchus (Uraufführung 1909) sowie Roma (1912) und Cléopâtre (posthum 1914). „Es war vor vier oder fünf Jahren, ich hatte gerade Le jongleur de Notre-Dame beendet, als ich zu meinem Verleger sagte: Da ich schon bis ins 13. Jahrhundert zurückgegangen bin, würde ich nun gerne bis in die Antike gehen“, äußerte Massenet wenige Tage vor der Uraufführung von Ariane in einem Zeitungsartikel. Gerade in dieser Oper werden der Klassizismus und die mythologische Geschichte jedoch mit Zutaten aus der Kunst der Jahrhundertwende angereichert: Symbolismus, ein Hang zur Morbidität, Gegenüberstellung von reiner und erotischer Liebe, sinnliche Opulenz, verklärender Erlösungstod, thematische und musikalische Bezüge zu Wagner.

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Massenets „Ariane“: Lucy Arbelle war Massenets Favoritin, mit ihr verband sich eine intime Beziehung; sie sang die Perséphone/ BNF Gallica

Insbesondere in ihrer Wagner-Verehrung fanden sich mit Massenet und seinem Librettisten Catulle Mendès zwei Geistesverwandte. Beide hatten das legendäre Pariser Tannhäuser-Fiasko 1861 miterlebt, Mendès besuchte Wagner 1869 sogar in Tribschen am Vierwaldstättersee und reiste 1876 zu den ersten Festspielen nach Bayreuth. Massenet wiederum sah den Ring in Brüssel und kam 1886 nach Bayreuth. So ist Ariane nicht nur durchzogen von einigen wiederkehrenden Motiven, durch die Massenet an Wagners Leitmotivtechnik anknüpft, es gibt bisweilen auch Bezüge zu Wagners Gedankengut und zu inhaltlichen Elementen: Die Sirenen am Beginn und am Ende erinnern etwa an die Rheintöchter, der Kampf Thésées mit dem Minotaurus an Siegfrieds Drachenkampf, und in Arianes Tod schwingt die Idee eines erlösenden Selbstopfers mit. (Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass die beiden Sopranistinnen Lucienne Bréval und Louise Grandjean, die bei der Uraufführung Ariane und Phèdre sangen, fast zeitgleich in Paris und an anderen europäischen Bühnen als Brünnhilde, Isolde oder Kundry zu hören waren. In der Aufführung von 1937 war die große Germaine Lubin als Ariane zu erleben, ebenfalls eine berühmte Wagner-Sängerin. G. H.)

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Gleichzeitig ist Massenets Oper über den in der Ägäis angesiedelten Ariadne-Mythos aber auch ein mediterraner Gegenentwurf zur germanischen Sagenwelt und ein Aufbruch in eine neue künstlerische Phase mit einem neuen Themenbereich. Die zuvor entstandenen Opern Grisélidis (Uraufführung 1901) und Le jongleur de Notre-Dame (1902) sowie das über viele Jahre sich hinziehende Projekt Amadis (posthum 1922) spielten allesamt in einem mittelalterlichen Umfeld, und mit Chérubin (1905) wurde ein stilisiertes Rokoko-Ambiente à la Mozart heraufbeschworen.

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Massenets „Ariane“: Lucien Muratore war der erste Thésée/ BNF Gallica

Bei Catulle Mendès hatte es Massenet dann mit einem der prominentesten französischen Literaten des späten 19. Jahrhunderts zu tun, den eine gewisse Exzentrik umgab und in dessen Werken die Dekadenz des Fin de siècle mitschwingt. Die 1904 begonnene gemeinsame Arbeit an Ariane, die später mit Bacchus fortgesetzt werden sollte, gestaltete sich jedoch als schwierig. Obwohl – oder gerade weil – die beiden Künstler ästhetisch und gedanklich auf einer Wellenlänge lagen, führten Misstrauen und Animositäten dazu, dass sich ihre Treffen auf das absolut Notwendige beschränkten. Gegenüber der Öffentlichkeit beteuerte Massenet jedoch immer wieder die gegenseitige Inspiration: „Schon in unserem ersten Gespräch, noch bevor ich selbst etwas über die Themen, an die ich gedacht hatte, gesagt hatte, sprach der Dichter den Namen Ariadne aus: Das war mehr als genug, um mich dazu zu bringen, meine Gedanken zu präzisieren.“

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Im Oktober 1905 war das Werk fertig, und die Uraufführung am 31. Oktober 1906 im Palais Garnier geriet zu einem großen Erfolg, sodass die Oper 61 Mal gegeben wurde, bevor man sie 1908 aus dem Programm nahm. Insbesondere der III. Akt, der auf der Insel Naxos spielt und mit seinen vielfältigen Personenkonstellationen, Gefühlsumschwüngen, zentralen Handlungsmomenten und musikalischen Höhepunkten der komplexeste des Stücks ist, erhielt einhelliges Lob, und die Arie der Perséphone aus dem vierten Akt musste jeden Abend wiederholt werden. Diese nur in einer kurzen Episode auftauchende Rolle hatte Massenet eigens für die junge Mezzosopranistin Lucy Arbell (mit bürgerlichem Namen Georgette Wallace) konzipiert, inspiriert durch deren Anregungen während eines Sommeraufenthaltes in ihrem Haus in Saint-Aubin-sur-Mer in der Normandie im August 1905. Überhaupt hatte er den in die Unterwelt führenden IV. Akt nur dieser Sängerin zuliebe in die Oper eingefügt, und als Widmung schrieb er in den Klavierauszug: „In zärtlicher und dankbarer Erinnerung an das liebe Haus in St-Aubin schenke ich Fräulein Georgette Wallace dieses Manuskript, von dem ein ganzer Akt für Lucy Arbell von der Opéra komponiert wurde.“

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Massenets „Ariane“: Szene aus der Aufführung in Saint-Etienne/ OMSTE

Neben Perséphone, dieser Figur der Unterwelt, die sich in zarter Melancholie nach allem Lebenden sehnt, haben Massenet und Mendès mit den drei Hauptfiguren Ariane, ihrer Schwester Phèdre und Thésée zwar ein klassisches Liebesdreieck aus Ehefrau, Nebenbuhlerin und untreuem Mann geschaffen, durch die familiären Beziehungen der beiden Frauen eröffnet sich jedoch ein breites Gefühlspektrum zwischen den Figuren. Zärtliche Hingabe und lodernde Passion treffen auf schwesterliche Liebe und Eifersucht. Als vierte Hauptfigur repräsentiert Pirithoüs genau jene kämpferische Kraft, die Thésée zunehmend seinen sentimentalen Gefühlen und seiner Zerrissenheit zwischen den zwei Frauen und damit zwischen Liebe und Leidenschaft opfert.

Massenets „Ariane“: Jean-Francois Delmas war der Périthoués der Uraufführung/ BNF Gallica

Mendès, der in seinen ausführlichen Szenenanweisungen sehr konkret die Schauplätze, Situationen und das Bühnengeschehen beschreibt, entwirft auch sehr genaue Charaktere: „Ariane ist die instinktive, absolute Liebe, ohne intellektuelle Hindernisse, ohne subtilen Unterton: die Liebe, die mit sich selbst zufrieden ist und sich mit allem abfindet, solange es Liebe bleibt. Ariane ist die zarte Frau, die sogar Lügen und Beleidigungen akzeptiert, solange sie geliebt wird und vor allem, solange sie liebt. […] Phèdre ist die vom Schicksal aufgezwungene Liebe, die Fatalität der Leidenschaft. […] Thésée ist die junge, sehr starke und sehr charmante Männlichkeit.“

Massenet zeichnet all diese kontrastierenden Charaktereigenschaften in der Musik nach. So ist Ariane erfüllt von lyrischer Innigkeit, während Phèdre eine zum Teil durchaus dramatische Partie voller expressiver Ausbrüche zu bewältigen hat. Schon bei ihrem ersten Auftritt, wenn Ariane a cappella in höchster Lage von ihrem „zerbrechlichen Körper“ singt, der „zu schwach für so viel Liebe“ ist, in dem darauffolgenden Gebet an die Liebesgöttin und in ihrer Arie „La fine grâce de sa force“, deren Melodie im weiteren Verlauf der Oper noch mehrmals motivisch auftaucht, offenbart sich der zarte Charakter der Titelfigur. Ihre Schwester hingegen präsentiert sich mit exaltierten Rufen von hinter der Bühne und einer wilden Verfluchung eben dieser Göttin Aphrodite. Auch während des nachfolgenden Kampfes Thésées mit dem Minotaurus werden die beiden so unterschiedlichen Frauentypen deutlich: Die eine wagt kaum hinzuschauen, die andere beobachtet voller Faszination das blutige Geschehen – die Lichtgestalt Ariane einerseits und andererseits das Nachtwesen Phèdre, die Kriegerin, die sich der Jagdgöttin Artemis verschrieben hat. Unter Fanfaren erscheint schließlich Thésée als strahlender Held, der das Ungeheuer besiegt hat, und man feiert die Abreise der drei.

Der II. Akt nimmt uns mit auf das Schiff, auf dem Ariane, Phèdre und Thésée durch die Ägäis segeln, und in der sanft wiegenden ersten Szene werden all die Inseln aufgezählt und bestaunt, an denen man vorbeifährt: Delos, Paros, Melos, Andros, Lemnos. Damit ist die passende Atmosphäre geschaffen für das sinnliche Zwiegespräch von Ariane und Thésée. In diese Meeresidylle bricht Phèdre quasi als Vorbotin des Sturms ein, der sogleich ausbricht, begleitet von Phèdres rasender Anrufung des Hades. Dieser Akt, in dem sich das Gefühlsleben der Figuren in den unberechenbaren Naturgewalten widerspiegelt, endet in der Idylle des Anfangs. Dadurch kündigt sich die Insel Naxos, an der das Schiff anlegen wird, als paradiesischer Sehnsuchtsort an.

Der auf dieser Insel spielende III. Akt, das Herzstück der Oper, galt schon bei der Uraufführung als „großartiges Meisterwerk, das von allen Seiten bejubelt wurde“. Man sieht Thésée, der zunehmend Arianes überdrüssig wird, man sieht die Zuneigung zwischen den beiden Schwestern in einem intimen Duett – und die Gewissensbisse Phèdres, die sich schließlich doch zu einem leidenschaftlichen Liebesduett mit Thésée hinreißen lässt. Arianes Monolog bildet den emotionalen Höhepunkt des Akts, wenn sie erkennt, dass sie sowohl von der Schwester als auch vom Ehemann betrogen wurde. Schließlich siegt jedoch die schwesterliche Liebe, als ein Trauerzug den Tod Phèdres ankündigt. Ariane beschließt, die Schwester aus der Unterwelt zurück ins Leben zu holen.

Der IV. Akt, in dem Ariane in den Hades hinabsteigt, wirkt wie ein musikalisch und theatralisch wirkungsvolles Intermezzo, das durch das morbide, irreale Ambiente und die episodisch vorkommende Figur der Perséphone die eigentliche Handlung für einen Moment unterbricht. Perséphone, die Göttin der Unterwelt, taucht hier als melancholische Weltschmerzfigur auf und damit als ein weiterer Kontrast zur strahlenden Ariane. Hier kommen auch die Dekadenz des Fin de siècle und der Symbolismus des Librettos am deutlichsten zum Ausdruck, etwa indem Perséphone durch eine schwarze Lilie charakterisiert ist, während Arianes frische Rosen ein Stück Leben in das Reich der Toten bringen. Auch die Ballettszene, der Widerstreit der drei Furien und der drei Grazien, lässt diesen Akt als dunkle, allegorische Episode innerhalb der mythologischen Liebesgeschichte erscheinen.

Florian Heurich ist Autor, Musikjournalist und Videoredakteur und lebt in München. Er schreibt und produziert Reportagen und Features für BR-Klassik, den SWR, den MDR und andere ARD-Anstalten über Themen in den Bereichen Oper, Literatur, Neue Musik und Weltmusik. Er schreibt für die Publikationen der Staatstheater Stuttgart und produziert Videoformate für die Bayerische Staatsoper und die Salzburger Osterfestspiele.

Als ein regelrechter Coup de théâtre taucht Ariane mit der wieder zum Leben erweckten Phèdre im letzten Akt aus der sich öffnenden Erde auf und vereint die Schwester mit Thésée, während sie selbst verzichtet. Wenn sie am Ende dem Gesang der Sirenen folgend ins Meer geht, dann weist diese letzte Szene durchaus beabsichtigte Parallelen zu Wagners Rheintöchtern auf. Nach einem letzten ekstatischen Monolog verschmilzt Arianes Stimme mit denen der Wasserwesen, und sie wird eins mit dem Meer, das bereits zuvor ein zentrales Motiv der Oper war – als Spiegel der Emotionen, zerstörerisch und erlösend zugleich. Florian Heurich 

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Verbreitung: Ariane, Oper in 5 Akten von Jules Massenet, Libretto von Catulle Mendès, Uraufführung: 31. Oktober 1906 an der Pariser Oper/Palais Garnier, Erstaufführungen in Brüssel 1907, Turin 1907, Buenos Aires 1908; Wiederaufnahme an der Pariser Oper nach dem Brand 1937; 1977 London mit Stella Wright und Paul Agnew unter Fraser Goulding; 2007 in Saint-Etienne mit Cécile Perrin, Barbara Ducretet und Luca Lombardo unter Laurent Campellone. Die beiden modernen Dokumente leiden unter ihren Hauptdarstellerinnen. Die Londoner ist klanglich zu muffig, die aus Saint-Etienne bei youtube hat einen unnötigen Recitant und trotz kompetenter Kollegen die ausgesungene Cécile Perrin am Ende einer unverständlichen Karriere… G. H.

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Sehr herzlichen Dank an den Musikwissenschaftler und Autor Florian Heurich sowie an Doris Sennefeld vom Münchner Rundfunkorchester für die Erlaubnis zur Übernahme der Texte aus den Programmheften des Münchner Rundfunkorchesters 29. Januar 2023. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

  1. Sven Gettkant

    So unterschiedlich können Wahrnehmungen sein. Für mich war das ein fantastisches Konzert, angeführt von ebendiesen Damen: Amina Edris ein (auch offziell) lyrischer Sopran ohne Höhenprobleme, dafür mit berührender Schwermut in der Stimme. Kate Aldrichs Stimme hat sicherlich Ecken und Kanten, aber ihre Expressivität und bedingungslose Hingabe überzeugten einmal mehr. Vokal und visuell spektakulär der Auftritt von Julie Robard-Gendre als Perséphone. Das Dirigat ließ diese wunderschöne Partitur kontrastreich schwelgen, schillern und krachen, wo es krachen soll. Klar, wer Wagner-Stimmen verlangt, wurde enttäuscht, vergisst aber die Mélange aus Wagner, Puccini, Berlioz….aber eben auch Massenets ganz eigenem Duft. Dazu gehört übrigens auch „Klingkling“, wer farbenreiche und magische Klang- und Rhythmuseffekte so nennen möchte. Für mich ein außergewöhnlicher, erster Opernhöhepunkt 2023 und große Vorfreude auf die CD-Publikation.
    Übrigens ist das Stück auch textlich reich an psychologisch spannend auszudeutenden Konflitken, sodass eine szenische Wiederentdeckung sicherlich lohnend und dankbar ist!

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