Die Besetzung ist jung (Amina Edris, Marianne Croux, Judith van Wanroij, Kate Aldrich, Julie Robard-Gendre, Jean-François Borras, Yoann Doubrouque, Jean-Sébastien Bou, Philippe Estèphe sowie Chor des Bayerischen Rundfunks und Münchner Rundfunkorchester unter Leitung von Laurent Campellone, der die Oper bereits beim Massenet-Festival in Saint Etienne 2007 dirigierte). Opernliebhaber des Besonderen, die es nicht ins Konzert geschafft hatten, konnten am Radio der Live-Übertragung folgen. Und man muss bei dieser Gelegenheit den wirklich fabelhaften Service des Münchner Rundfunkorchesters loben, der das französisch-deutsche Libretto in drei Druck- (bzw smartphone-) Versionen sowie den nachstehenden Einführungsartikel auf seiner Seite zum Downloaden anbietet, chapeau! das war gut angewandtes Beitrags-Geld.
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Warum nun noch ein Massenet für den Palazzetto, fragt sich der grundsätzliche Opern-Fan? Wäre die Ariane (die es nur auf einem weiteren Radio-Live-Mitschnitt gibt/ unten mehr) nicht wirklich eine Rarität, würde man die Augenbrauen noch höher ziehen ziehen. Andere Palazzetto-Veröffentlichungen – wie die jüngste geplante – sind keine. Die angekündigte Hérodiade aus Lyon 2022 ist in der Titelpartie fragwürdig besetzt und kommt – wie inzwischen bei manchen Palazzetto-Veröffentlichungen – als Doublette oder sogar Triplette daher, unnötig wie ein Kropf (wie die Périchole oder eine erneute Vestale … und auch eine neue Griselidis …). Man schüttelt doch den Kopf ob der Repertoirepolitik des franco-italienischen Hauses (zumal nicht immer wirklich beglückend gesungen wird). Aber selbst angesichts der Seltenheit der Ariane: gibt es nicht andere, brennendere Titel zur Wiederauferweckung? Etwa Zampa, Dom Sebastien, eine französische Agnes von Hohenstaufen, Charles IV/Halevy, eine ungekürzte und gut gesungene Juive, Les Fées du Rhin, Le Freyschütz, Marie Stuart/Niedermeyer, Lancelot/Joncieres, Fervaal/D´Indy, Monna Vanna/Février, St Julien l´hospitalier/Erlanger, Antar/Dupont, Aben-Hamlet/Dubois, La Samaritaine/D´Ollone, Julien/Charpentier, L´attaque du moulin/Bruneau und viele, viele mehr (sogar eine diesmal dritte Reine de Saba/Gounods, weil die vorhandenen entweder klanglich oder besetzungsmässig nicht ausreichen) … Ach ja, um mit Carmen zu sprechen: „C´est ne pas interdit de rever!“
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Wie dem auch sei, hier ist nun also Massenets Ariane in einer Neuaufnahme beim Palazetto Bru Zane, auf 3 CDs angefüllt mit dem zweisprachigen Libretto und verschiedenen Aufsätzen (die leider nur in Französisch/Englisch wie immer, obwohl es drei deutschprachige Länder und damit ein immenses Käuferpotenzial gibt – unverständlich und auch diskriminierend, finde ich, nicht einmal eine deutsche Inhaltsangabe) von Alexandre Dratwicki, Jean-Christophe Branger, Michela Niccolai und Gabriel Fauré, dazu zwei historische Interviews mit Massenet selbst. Nach der CD-Kritik und einem Blick auf sonst noch Verfügbares folgt eine Einführung von Florian Heurich aus dem Programmheft des Münchner Rundfunk Orchesters für das besagte Konzert. G. H.
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Die Rezension: Das Herausragende an der Aufnahme von Massenets später Ariane beim Palazzetto Bru Zane sind für mich die mitwirkenden Herren, der sensationelle Chor und das raumgreifende Münchner Rundfunk Orchester unter Laurent Campellone.
Über den Damen liegt für mich auch bei der CD ein Vorbehalt, wie im Konzert. Was umso bedauerlicher war, als bei der Uraufführung 1906 und späteren Wiederaufnahme 1937 immerhin solche absoluten Stars wie Lucienne Bréval oder die große Germaine Lubin (Foto oben) die Titelrollen verkörperten, letztere unterstützt von niemandem Geringeren als Georges Thill in der Partie des Thésée. Und wenn man sich verdeutlicht, dass die Sängerinnen der Pariser Premieren zeitgleich auch Wagners Brünnhilden, Kundrys oder Ortruds sangen, hatte man doch Erwartungen an die Mutigen, die sich diesen Partien nähern.
Diese späten Opern einer sterbenden Epoche, die ihr Ende mit dem 1. Weltkrieg fand, bedürfen der Opulenz, der unglaublichen Eleganz, der Großräumigkeit der Präsentation, um zu wirken. Sie waren für eine uns unvorstellbare Üppigkeit gedacht, für ein müdes, blasiertes Publikum und den Ikonen der Bühne auf den Leib geschrieben.
Ihnen weitgehend handwerklich-solide beizukommen, wird ihnen nicht wirklich gerecht und kann sie nur blasser ins Leben zurückholen als sie sind, so lobenswert der Versuch auch ist (und ob diese Oper nun wirklich danach schreit, zum Leben erweckt zu werden, lässt sich auch diskutieren angesichts der vielen, die vielleicht wichtiger sind als die x-te Massenet-Oper). Die letzten Erfolge in dieser Reihe waren sicher solche „Schinken“ wie die Esclarmonde mit Joan Sutherland oder auch Zandonais Francesca mit der Kabaivanska bzw. Sotto. Oder Le Cid mit der wunderbaren Carol Neblett. Oder Les Troyens mit der Veasey, Baker oder Lear. Überdimensional, mythisch.
In München und auf der Aufnahme des Palazzetto wird die Grand-Opéra zu einer Moyens-Opéra, kocht man auf kleinerer Opern-Flamme, liedhafter oft und definitiv lyrischer statt heroisch, gelegentlich auch vokale Kleinkunst (Arianes Beitrag im 3. und letzten Akt), wenngleich der Ariane-erfahrene Laurent Campellone an lautem Schmackes nicht spart und diesem gigantischen Kitschkasten zu einiger orchestraler Wiederbelebung verhilft: weniger die Streicher als vielmehr wunderbare Holzbläser und tolles Blech beim Münchner Rundfunk Orchester, dabei durchaus auch heruntergeschraubt zu leisen Passagen, um die Mitwirkenden nicht im Klang zu ertränken: sehr anständig! Und dazu der wirklich total wortverständliche Chor mit himmlischen Sopranen und sonoren dunklen Stimmen. Man kann mitschreiben. Und badet im Klang. Stellario Fagone sei Dank.
Die solistischen Herren sind exzellent. Der recht helle, mag sein etwas zu lyrische Jean-Francois Borras gibt dem Thésée vielleicht weniger Virilität denn frische Jungenhaftigkeit, und seine Diktion – wie die seines Bariton-Kollegen Jean-Sébastien Bou als expressiver, schön(!) singender und eben französisch timbrierter Pirithous – ist exemplarisch, ein Genuss auch seine geforderte Strahlkraft der nicht sehr großen (gegen Schluss etwas loserschwingenden) Tenorstimme. Dazu kommen Philippe Estèphe und Yoann Dubruque in kleineren Partien, ebenfalls hervorragend ebenfalls französisch im Timbre.
Die Damen lassen mir einen gemischten Eindruck. Amina Edriss singt als Mezzo-Ariane in den leiseren Momenten, wenn sie nicht drücken muss, betörend, einfach betörend, leider oft nicht wirklich wortverständlich und mir viel zu oft zu liedhaft. Solange sie über mezza-voce nicht hinausgehen muss, ist es wirklich ein Fest an schmaler Opulenz, und das muss man absolut anerkennen. Zu vieles über mezzo-forte klingt mir eng, hart erarbeitet, in der knappen Höhe dann mit einem auf die Dauer nervenden engen Pianissimo-Dauerton endend (was mich das an die Höhen-Tricks von Leyla Gencer, Renata Scotto und Montserrat Caballé erinnert, sich um freie Höhen herumzumogeln), und das signalisiert, das Mehr nicht möglich ist (ähnlich wie Cecilia Bartoli in den letzten Momenten ihrer verdienstvollen Norma). Dieses sich Strecken nach den hohen Noten macht die Oberstimme eintönig und zudem ermüdend zu hören, bei aller durchaus vorhandenen Erotik und Süße in der Mezzo-forte-Mittellage. Aber die Partie ist eindeutig zu groß für sie – die braucht eine Sutherland, Crespin, Esposito, auch Netrebko oder DiDonato, eben eine erfahrene Operndiva mit gegefüllter Handwerkskiste. Dies ist eine Diven-Partie. Für diese geschrieben (Lucienne Bréval). Und diese Opern sind nichts für junge Stimmen. Dennoch: Ich bin hin-und hergerissen zwischen Bewunderung und Augenbrauenhochziehen. Singen kann Frau Edriss, sans doute, aber vielleicht nicht diese großen Partien, und nicht so hohe und nicht so große (und unter Druck wird die Stimme an den Rändern unruhig). Sie ist ein Mezzo, ein Falcon, und kein dramatischer Sopran wie Bréval oder Lubin.
Die am Radio noch gelegentlich schartig klingende Mezzostimme von Kate Aldrich als Phèdre hat sich für die Aufnahme erstaunlich erholt, bei guter Höhe, selten brustiger Tiefe und im Gesamten von großem Format. Wobei ohne Libretto in der Hand oft nicht klar ist, wer welche der beiden Schwestern wann singt. Hier – denke ich – herrscht ein Besetzungsfehler. Weil Ariane ein dramatischer Sopran mit leuchtender Höhe ist (Germaine Lubin!) und kein Falcon mit knapper wie Frau Edriss. Kate Aldrich hatte ihre leisen, lyrisch-schönen Mezzo-Momente, unter Druck wabert die Stimme an den Rändern. Vielleicht rächen sich zu viele Carmen, zu mal open-air.
Julie-Robard-Gendre singt die Perséphone, für mich recht unruhig-quallig, eindrucksvoll auch im Monodram sicher, aber stimmlich bei dem starkem Registerwechsel nicht wirklich ein Gewinn. Und bei einer so tiefliegenden Erda-Ulrica-Stimme erstaunlicher Weise auf Kosten des Wortes (naja, bei dem zum Teil abenteuerlichen Text von Camille Mendès – was für ein Kitsch, wahrlich kein Hoffmannsthal!) Da hatte ihre Rollenkollegin Anne Pareuil in Saint Etienne 2007 wirklich die Nase vor und zeigte, was ein gut geführter französischer Alt ist (nachzuhören bei youtube). Wobei man auch sagen muss, dass Massenet gemeine Intervallsprünge für alle drei Frauenpartien geschrieben hat. Die Männer habens da besser.
Judith van Wanroij, Hauskraft beim Palazzetto, lässt (als erbarmende Göttin Cypris) gewisse Verschleißspuren hören, besonders in den hohen Noten, sie verliert Farbe in der Stimme. Auch hier zu viel oder unzureichende Technik? Und auch Marianne Croux in der kleinen Partie der Eunoe macht stimmlich nicht viel her außer einer hellen, recht unruhigen Stimme. Noch mal zum Lehrer?
Dennoch: Ich würde jedem Neuling für diese Oper raten gleich Akt 3 anzusteuern, da ist richtig was los. Und Akt 4 hat´s ebenfalls in sich an Drama, Schwulst und Köstlich-Kitschigem. Massenet Zauberkasten vom Besten. Die Begegnung mit diesem Spätwerk eines müden, ausgebufften und vielleicht auch zu erfolgreichen Komponisten ist als solche periphär, aber interessant verfügt das Werk im Dauerparlando doch über viele schöne Stellen (das Finale allzumal), die in Teilen stark an Wagner erinnern. So in Akt 2 oder das Aufflammen der Leidenschaft in Akt 5 á la Tristan. Und der Beginn des letzten Aktes klingt verdächtig nach dem Walkürenritt. Anderes erinnert an Lalo (Le Roi d´Ys) und reicht zu Massenets Esclarmonde oder zum Roi de Lahore zurück, so das Grazien-Ballett im 4. Akt (und der tolle orchestrale Kitsch dazu). 1906 war eben schon sehr, sehr spät, und der Rückgriff auf Vergangenes geht einher mit den weniger schönen sozialen/politischen Entwicklungen in einem Frankreich nach Versailles (die Ausstattung der 3-CD-Buch-CD BZ 1053 hat wie stets hohes Niveau mit dem Libretto und einführenden Artikeln, die allerdings nur in Französisch und Englisch abgedruckt sind, aber wie immer nicht auch auf Deutsch, was man doch als Diskriminierung des potenten deutschen Marktes werten kann). Geerd Heinsen
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Verbreitung und Verfügbares: Ariane, Oper in 5 Akten von Jules Massenet, Libretto von Catulle Mendès, Uraufführung: 31. Oktober 1906 an der Pariser Oper/Palais Garnier, Erstaufführungen in Brüssel 1907, Turin 1907, Buenos Aires 1908; Wiederaufnahme an der Pariser Oper nach dem Brand 1937.
Bei youtube gibts dank des Kanalisten Job die Aufführung aus Saint-Etienne von 2007 unter dem forschen Laurent Camepllone vom dortigen Massenet-Festival mit dem Haustenor Luca Lombardo, der damals für sowas zuständig war, sehr gut und unerschrocken. Barbara Ducretet als Phèdre und Anne Pareuil nebst Cyril Rovery sind mehr als solide und präsentieren das Werk werkgerecht eben auf dem Niveau einer guten Provinzbühne. Wäre da nicht die saure, stumpfe Stimmer von Cecile Perrin, die doch vor allem imSchluss Schaden anrichtet (wie in dem sonst sehr lobenswertem Fernand Cortèz unter Jean-Paul Pénin). Brrrrrrrr…
Eine weitere Gesamtaufnahme gibt´s aus London auf einem obscuren kleinen Label von 1977 in der ersten modernen Wiederaufnahme unter Fraser Golding am Pult der Pisa Opera Group (never heard before) mit Stella Wright in der Titelpartie, akustisch ist das eine trübe Sache.
Weiters gibt es Einzelschönheiten wie Joyce DiDonato mit „Ô frêle corps… Chère Cyrpris“ (Erato), Nathalie Manfrino mit C’était si beau! (Decca), eine Dame namens Rima Tawil singt dies ebenfalls, dem orchestralen Lamento der Ariane mit Richard Bonynge (Decca). Sogar das Zwischenspiel zu Akt 4 gibt´s für zwei Harfen und das kurze Ballett in Akt4 für Klavier. Enorm. Zudem finden sich jede Menge alter Franzosen (Muratore, Thill, Marguérite Mérenthie – die es in die historischen Urnen der Pariser Opernkeller 1907 geschafft hatte) auf zwei Massenet-CDs bei Malibran. G. H.
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Florian Heurich: Nach einer gewissen Fin-de siècle-Opulenz in der Kunst machte sich um 1900 zunehmend ein Interesse an der Antike bemerkbar und damit am Klassischen und Archaischen. Rund fünfzig Jahre zuvor hatte Hector Berlioz mit Les troyens bereits das unumstößliche Monument eines antiken Sujets aus dem Blick der Romantik geschaffen, und insbesondere das Spätwerk von Jules Massenet war dann geprägt von Stoffen aus dem Altertum und der Mythologie. Die 1906 uraufgeführte Ariane steht am Beginn dieser Phase, darauf folgten noch der als Fortsetzung und Partnerstück konzipierte Bacchus (Uraufführung 1909) sowie Roma (1912) und Cléopâtre (posthum 1914). „Es war vor vier oder fünf Jahren, ich hatte gerade Le jongleur de Notre-Dame beendet, als ich zu meinem Verleger sagte: Da ich schon bis ins 13. Jahrhundert zurückgegangen bin, würde ich nun gerne bis in die Antike gehen“, äußerte Massenet wenige Tage vor der Uraufführung von Ariane in einem Zeitungsartikel. Gerade in dieser Oper werden der Klassizismus und die mythologische Geschichte jedoch mit Zutaten aus der Kunst der Jahrhundertwende angereichert: Symbolismus, ein Hang zur Morbidität, Gegenüberstellung von reiner und erotischer Liebe, sinnliche Opulenz, verklärender Erlösungstod, thematische und musikalische Bezüge zu Wagner.
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Insbesondere in ihrer Wagner-Verehrung fanden sich mit Massenet und seinem Librettisten Catulle Mendès zwei Geistesverwandte. Beide hatten das legendäre Pariser Tannhäuser-Fiasko 1861 miterlebt, Mendès besuchte Wagner 1869 sogar in Tribschen am Vierwaldstättersee und reiste 1876 zu den ersten Festspielen nach Bayreuth. Massenet wiederum sah den Ring in Brüssel und kam 1886 nach Bayreuth. So ist Ariane nicht nur durchzogen von einigen wiederkehrenden Motiven, durch die Massenet an Wagners Leitmotivtechnik anknüpft, es gibt bisweilen auch Bezüge zu Wagners Gedankengut und zu inhaltlichen Elementen: Die Sirenen am Beginn und am Ende erinnern etwa an die Rheintöchter, der Kampf Thésées mit dem Minotaurus an Siegfrieds Drachenkampf, und in Arianes Tod schwingt die Idee eines erlösenden Selbstopfers mit. (Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass die beiden Sopranistinnen Lucienne Bréval und Louise Grandjean, die bei der Uraufführung Ariane und Phèdre sangen, fast zeitgleich in Paris und an anderen europäischen Bühnen als Brünnhilde, Isolde oder Kundry zu hören waren. In der Aufführung von 1937 war die große Germaine Lubin als Ariane zu erleben, ebenfalls eine berühmte Wagner-Sängerin. G. H.)
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Gleichzeitig ist Massenets Oper über den in der Ägäis angesiedelten Ariadne-Mythos aber auch ein mediterraner Gegenentwurf zur germanischen Sagenwelt und ein Aufbruch in eine neue künstlerische Phase mit einem neuen Themenbereich. Die zuvor entstandenen Opern Grisélidis (Uraufführung 1901) und Le jongleur de Notre-Dame (1902) sowie das über viele Jahre sich hinziehende Projekt Amadis (posthum 1922) spielten allesamt in einem mittelalterlichen Umfeld, und mit Chérubin (1905) wurde ein stilisiertes Rokoko-Ambiente à la Mozart heraufbeschworen.
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Bei Catulle Mendès hatte es Massenet dann mit einem der prominentesten französischen Literaten des späten 19. Jahrhunderts zu tun, den eine gewisse Exzentrik umgab und in dessen Werken die Dekadenz des Fin de siècle mitschwingt. Die 1904 begonnene gemeinsame Arbeit an Ariane, die später mit Bacchus fortgesetzt werden sollte, gestaltete sich jedoch als schwierig. Obwohl – oder gerade weil – die beiden Künstler ästhetisch und gedanklich auf einer Wellenlänge lagen, führten Misstrauen und Animositäten dazu, dass sich ihre Treffen auf das absolut Notwendige beschränkten. Gegenüber der Öffentlichkeit beteuerte Massenet jedoch immer wieder die gegenseitige Inspiration: „Schon in unserem ersten Gespräch, noch bevor ich selbst etwas über die Themen, an die ich gedacht hatte, gesagt hatte, sprach der Dichter den Namen Ariadne aus: Das war mehr als genug, um mich dazu zu bringen, meine Gedanken zu präzisieren.“
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Im Oktober 1905 war das Werk fertig, und die Uraufführung am 31. Oktober 1906 im Palais Garnier geriet zu einem großen Erfolg, sodass die Oper 61 Mal gegeben wurde, bevor man sie 1908 aus dem Programm nahm. Insbesondere der III. Akt, der auf der Insel Naxos spielt und mit seinen vielfältigen Personenkonstellationen, Gefühlsumschwüngen, zentralen Handlungsmomenten und musikalischen Höhepunkten der komplexeste des Stücks ist, erhielt einhelliges Lob, und die Arie der Perséphone aus dem vierten Akt musste jeden Abend wiederholt werden. Diese nur in einer kurzen Episode auftauchende Rolle hatte Massenet eigens für die junge Mezzosopranistin Lucy Arbell (mit bürgerlichem Namen Georgette Wallace) konzipiert, inspiriert durch deren Anregungen während eines Sommeraufenthaltes in ihrem Haus in Saint-Aubin-sur-Mer in der Normandie im August 1905. Überhaupt hatte er den in die Unterwelt führenden IV. Akt nur dieser Sängerin zuliebe in die Oper eingefügt, und als Widmung schrieb er in den Klavierauszug: „In zärtlicher und dankbarer Erinnerung an das liebe Haus in St-Aubin schenke ich Fräulein Georgette Wallace dieses Manuskript, von dem ein ganzer Akt für Lucy Arbell von der Opéra komponiert wurde.“
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Neben Perséphone, dieser Figur der Unterwelt, die sich in zarter Melancholie nach allem Lebenden sehnt, haben Massenet und Mendès mit den drei Hauptfiguren Ariane, ihrer Schwester Phèdre und Thésée zwar ein klassisches Liebesdreieck aus Ehefrau, Nebenbuhlerin und untreuem Mann geschaffen, durch die familiären Beziehungen der beiden Frauen eröffnet sich jedoch ein breites Gefühlspektrum zwischen den Figuren. Zärtliche Hingabe und lodernde Passion treffen auf schwesterliche Liebe und Eifersucht. Als vierte Hauptfigur repräsentiert Pirithoüs genau jene kämpferische Kraft, die Thésée zunehmend seinen sentimentalen Gefühlen und seiner Zerrissenheit zwischen den zwei Frauen und damit zwischen Liebe und Leidenschaft opfert.
Mendès, der in seinen ausführlichen Szenenanweisungen sehr konkret die Schauplätze, Situationen und das Bühnengeschehen beschreibt, entwirft auch sehr genaue Charaktere: „Ariane ist die instinktive, absolute Liebe, ohne intellektuelle Hindernisse, ohne subtilen Unterton: die Liebe, die mit sich selbst zufrieden ist und sich mit allem abfindet, solange es Liebe bleibt. Ariane ist die zarte Frau, die sogar Lügen und Beleidigungen akzeptiert, solange sie geliebt wird und vor allem, solange sie liebt. […] Phèdre ist die vom Schicksal aufgezwungene Liebe, die Fatalität der Leidenschaft. […] Thésée ist die junge, sehr starke und sehr charmante Männlichkeit.“
Massenet zeichnet all diese kontrastierenden Charaktereigenschaften in der Musik nach. So ist Ariane erfüllt von lyrischer Innigkeit, während Phèdre eine zum Teil durchaus dramatische Partie voller expressiver Ausbrüche zu bewältigen hat. Schon bei ihrem ersten Auftritt, wenn Ariane a cappella in höchster Lage von ihrem „zerbrechlichen Körper“ singt, der „zu schwach für so viel Liebe“ ist, in dem darauffolgenden Gebet an die Liebesgöttin und in ihrer Arie „La fine grâce de sa force“, deren Melodie im weiteren Verlauf der Oper noch mehrmals motivisch auftaucht, offenbart sich der zarte Charakter der Titelfigur. Ihre Schwester hingegen präsentiert sich mit exaltierten Rufen von hinter der Bühne und einer wilden Verfluchung eben dieser Göttin Aphrodite. Auch während des nachfolgenden Kampfes Thésées mit dem Minotaurus werden die beiden so unterschiedlichen Frauentypen deutlich: Die eine wagt kaum hinzuschauen, die andere beobachtet voller Faszination das blutige Geschehen – die Lichtgestalt Ariane einerseits und andererseits das Nachtwesen Phèdre, die Kriegerin, die sich der Jagdgöttin Artemis verschrieben hat. Unter Fanfaren erscheint schließlich Thésée als strahlender Held, der das Ungeheuer besiegt hat, und man feiert die Abreise der drei.
Der II. Akt nimmt uns mit auf das Schiff, auf dem Ariane, Phèdre und Thésée durch die Ägäis segeln, und in der sanft wiegenden ersten Szene werden all die Inseln aufgezählt und bestaunt, an denen man vorbeifährt: Delos, Paros, Melos, Andros, Lemnos. Damit ist die passende Atmosphäre geschaffen für das sinnliche Zwiegespräch von Ariane und Thésée. In diese Meeresidylle bricht Phèdre quasi als Vorbotin des Sturms ein, der sogleich ausbricht, begleitet von Phèdres rasender Anrufung des Hades. Dieser Akt, in dem sich das Gefühlsleben der Figuren in den unberechenbaren Naturgewalten widerspiegelt, endet in der Idylle des Anfangs. Dadurch kündigt sich die Insel Naxos, an der das Schiff anlegen wird, als paradiesischer Sehnsuchtsort an.
Der auf dieser Insel spielende III. Akt, das Herzstück der Oper, galt schon bei der Uraufführung als „großartiges Meisterwerk, das von allen Seiten bejubelt wurde“. Man sieht Thésée, der zunehmend Arianes überdrüssig wird, man sieht die Zuneigung zwischen den beiden Schwestern in einem intimen Duett – und die Gewissensbisse Phèdres, die sich schließlich doch zu einem leidenschaftlichen Liebesduett mit Thésée hinreißen lässt. Arianes Monolog bildet den emotionalen Höhepunkt des Akts, wenn sie erkennt, dass sie sowohl von der Schwester als auch vom Ehemann betrogen wurde. Schließlich siegt jedoch die schwesterliche Liebe, als ein Trauerzug den Tod Phèdres ankündigt. Ariane beschließt, die Schwester aus der Unterwelt zurück ins Leben zu holen.
Der IV. Akt, in dem Ariane in den Hades hinabsteigt, wirkt wie ein musikalisch und theatralisch wirkungsvolles Intermezzo, das durch das morbide, irreale Ambiente und die episodisch vorkommende Figur der Perséphone die eigentliche Handlung für einen Moment unterbricht. Perséphone, die Göttin der Unterwelt, taucht hier als melancholische Weltschmerzfigur auf und damit als ein weiterer Kontrast zur strahlenden Ariane. Hier kommen auch die Dekadenz des Fin de siècle und der Symbolismus des Librettos am deutlichsten zum Ausdruck, etwa indem Perséphone durch eine schwarze Lilie charakterisiert ist, während Arianes frische Rosen ein Stück Leben in das Reich der Toten bringen. Auch die Ballettszene, der Widerstreit der drei Furien und der drei Grazien, lässt diesen Akt als dunkle, allegorische Episode innerhalb der mythologischen Liebesgeschichte erscheinen.
Als ein regelrechter Coup de théâtre taucht Ariane mit der wieder zum Leben erweckten Phèdre im letzten Akt aus der sich öffnenden Erde auf und vereint die Schwester mit Thésée, während sie selbst verzichtet. Wenn sie am Ende dem Gesang der Sirenen folgend ins Meer geht, dann weist diese letzte Szene durchaus beabsichtigte Parallelen zu Wagners Rheintöchtern auf. Nach einem letzten ekstatischen Monolog verschmilzt Arianes Stimme mit denen der Wasserwesen, und sie wird eins mit dem Meer, das bereits zuvor ein zentrales Motiv der Oper war – als Spiegel der Emotionen, zerstörerisch und erlösend zugleich. Florian Heurich
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Sehr herzlichen Dank an den Musikwissenschaftler und Autor Florian Heurich sowie an Doris Sennefeld vom Münchner Rundfunkorchester für die Erlaubnis zur Übernahme der Texte aus den Programmheften des Münchner Rundfunkorchesters 29. Januar 2023. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier.