Archiv für den Monat: Oktober 2023

Spanische Renaissance

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Doppelt preisgekrönt mit dem Echo Klassik für Nachwuchssänger 2009 und dem Echo Klassik 2012 für ihr Album mit Telemann-Arien ist die katalonische Sängerin Nuria Rial, die erst in Barcelona und dann in Basel Gesang studierte und nun ein neues Album mit spanischer Musik der Renaissance eingespielt hat. Diese ist übrigens nicht ihr einziges Aufgabengebiet, die Sopranistin hat sich auch mit deutschem, spanischem und französischem Liedgut befasst und ist als Mozartsängerin geschätzt.

The Spanish Album bringt auf der ersten der beiden CDs Lieder, die von dem  Gitarristen José Miguel Moreno auf der Vihuelas und der Barockgitarre begleitet werden, während auf der zweiten CD zunächst das Ensemble Ophénica Lyra, ebenfalls unter Leitung von José Miguel Moreno, der Solistin    zur Seite steht, während im zweiten Teil Emilio Moreno El Concierto Espanol mit seiner Violine anführt. Zwei Countertenöre, Carlos Mena  und Jordi Domènech,  stehen der Sängerin  zusätzlich zur Seite.

Es gibt zwar eine ausführliche Einführung im recht umfangreichen Booklet, aber leider sind die Texte, ausgenommen von ganz wenigen italienischen, nur im spanischen Original verfügbar. Eine englische Übersetzung hätte sehr zum Verständnis der Lieder beigetragen. So kann man sich nur von einer bekannten Vokabel zur nächsten hangeln und muss sich ganz auf die Aussagekraft der Musik verlassen.

Für die erste CD nimmt der Sopran ein naiv-kindlich wirkendes Timbre an, wählt einen schlichten Erzählton, der natürlich von den Liedern schon vorgegeben ist, und wird mit sparsamer Agogik einer lieblichen Klage dem Quien te hizo Juan Pastor gerecht, äußert sich graziös hüpfend in En la fuente del rosel und erscheint geschmeidig in Teresica hermana. Von schöner Melancholie ist De Antequera, und im instrumentalen Track kommt die Renaissancelaute wunderschön zur Geltung. Neckisch bis trist geht die Sängerin von Gelosia auf Distanz zum Gegenstand ihrer Neigung, ein wunderschöner Schwellton erfreut in Endechas, durchgehend ist die leichte Emission der Stimme zu bewundern, die sich gern in munterem Geplauder ergeht.  berühren.

Fülliger, runder und mitreißender wirkt die Musik auf der zweiten CD dank eines jeweils zweiten Sängers und einem Quartett von Streichern. El rey moro vermag durch ein sanftes „Ay mi Alhalma“ zu rühren, Verspieltes wechselt sich mit Getragenem ab, das lange Vorspiel zu Con qué la lavaré entzückt durch sein sanftes An- und Abschwellen.

Im Mittelteil bringt diese CD Kompositionen, die in Cervantes Don Quichote erwähnt werden, im ersten Musik von Miguel de  Fuenllana und im Schlussteil von Francisco Corselli, einem aus Italien nach Spanien übergesiedelten Italiener. Von letzterem stammt ein zierliches Rezitativ, gefolgt von einer Arie mit Echolauten mit besonders reizvoller Begleitung. In der Allegro-Arie El Cordero kann man die Fähigkeit der Sängerin bewundern, sich nie mit einem reinen Wiederholen zu begnügen, sondern virtuos zu variieren (Glossa GCD C80036). Ingrid Wanja    

Eine Frau zwischen drei Männern

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„Ernani“ war erst die fünfte Oper von Giuseppe Verdi, wartet aber bereits mit einer Fülle von wunderschönen Melodien, mit vielen effektvollen Arien, Duetten und Terzetten sowie eindrucksvollen Chorszenen auf. Eigentlich müsste sie viel häufiger in den Spielplänen erscheinen. Das war zu Verdis Zeiten anders.

Die vorliegende Live-Aufnahme stammt vom 10. November 2022 aus dem Saal „Zubin Mehta“ im Teatro Maggio Musicale Fiorentino. Die unaufgeregte Inszenierung von Leo Muscato kommt ohne jegliche Mätzchen aus. Sie erzählt die verwickelte Handlung, bei der Elvira gleich von drei Männern begehrt wird (dem Banditen Ernani, dem König Don Carlo und dem Adligen Don Ruy Gomez de Silva), in ruhigen Bahnen. Gemessenes Schreiten und statische Tableaus bestimmen hauptsächlich den Eindruck. Auch wenn es bei leidenschaftlicher Musik vor allem um den Schrei nach Rache und das Schmachten nach Liebe geht, findet das in der Personenführung nur moderaten Widerhall. Das Einheitsbühnenbild von Federica Parolini zeigt aus groben Brettern gezimmerte Holzwände, die bei Bedarf verschoben oder geöffnet werden können. Schauplatzwechsel werden durch variierende Lichtstimmungen und wenige Requisiten markiert. Schattenspiele an den Wänden entwickeln einen eigenen Reiz.

Bei der eher konventionellen Inszenierung kann das gute und zuverlässige Sängerensemble in Gesang und Spiel durchaus fesseln. Francesco Meli überzeugt mit schöner Phrasierung und differenziertem Gesang. Gleich mit „Merce dilette amici“ nimmt er für sich ein. Sehr berührend gelingt ihm die Todesszene. S ein lyrisches Timbre kommt gut zur Geltung. María José Siri schöpft mit ergiebigem Sopran aus dem Vollen und gestaltet die Partie der Elvira mit bebender Leidenschaft. Roberto Frontali gibt den Don Carlo mit markantem Bariton, bleibt im Ausdruck aber oft etwas steif. Seine Arie „Oh de‘verd’anni miei“ gestaltet er hingegen sehr eindrucksvoll als nachdenklichen Monolog. Vitalij Kowaljow ist mit rundem Bass ein würdevoller, unnachgiebiger Silva. Er wirkt auch durch seine ausgeprägte Bühnenpräsenz .Wenn er am Ende bedrohlich aus dem Dunklen hervortritt, denkt man an den Komtur in „Don Giovanni“.

Uneingeschränkte Freude bereitet der von Lorenzo Fratini einstudierte Chor, der seine großen Aufgaben bestens meistert. Mit viel Brio und Sinn für Dramatik leitet James Conlon das Orchester des Maggio Musicale Fiorentino. Das Feuer, das Verdi in seine Musik gelegt  hat, lodert intensiv auf. Insgesamt hat man hier eine Aufführung, die bestens geeignet ist, mit diesem Frühwerk Bekanntschaft zu machen. (Dynamic 3797). Wolfgang Denker

Erst jetzt oder wieder?

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Leidenschaftlicher als für seine spätere Gattin Constanze schlug offensichtlich das Herz Mozarts für eine ihrer drei Schwestern, die Sängerin Aloysia Weber, die bereits mit siebzehn Jahren eine voll ausgebildete Sängerin mit internationaler Karriere war, die sich auch selbst auf dem Klavier begleiten konnte und für die ihr Schwager eine Reihe von Konzertarien komponierte, die im Jahre 1998 die Schweizer Sängerin Cyndia Sieden mit dem Orchestra oft the Eighteenth Century unter Frans Brüggen aufnahm und die 2023 (erneut?) auf dem Markt erschienen sind.

Es geht um sieben Arien, darunter eine in deutscher Sprache, die wohl eine Danksagung an Sponsoren ist, zwei Stücke sind sogenannte Einlagen, d.h. Musikstücke, die reisende Sänger anstelle von ihnen unbequemen oder ungeliebten Arien in bestimmten Opern einsetzen konnten, nicht zu verwechseln mit den Kofferarien.

Ein echtes Konzertstück ist Non, no, che non sei capace, in dem der Sopran viel Glanz zeigt, die Extremhöhe sicher ist, die Intervallsprünge sich als unangestrengt erweisen. Eine Einlage ist Non so d’onde, in der ein König seinem tot geglaubten Sohn entgegentritt und in der Mozart einen Kontrast zur Musik des von ihm verehrten Johann Christian Bach dokumentieren wollte. Obwohl eine Männerpartie, singt Cyndia Sieden das Rezitativ sehr zart, sehr weiblich, Erstaunen und Nachdenklichkeit ausdrückend, während die Arie von schöner Getragenheit ist, wobei die Spannung aufrecht erhalten bleibt und die Instrumente die Solostimme schön umspielen. Für Il curioso indiscreto von Pasquale Anfossi komponierte Mozart für Aloysia Arien, die weit virtuoser als das Original sind. Der Abschied von der Gattin (sposa), fällt sehr ernst aus, in der Arie ist die Diktion etwas verwaschen, aber es werden schöne elegische Vokalgirlanden ausgestellt, ehe die Sängerin mit Nachdruck zum Finale aufbricht und zu erstaunlichen Extremhöhen.

In der ersten Hälfte expressiv mit dramatischer Intensität wird das Rezitativ Popoli di Tessaglia dargeboten, ehe in der Arie Io non chiedo ein lustvoll verspieltes Virtuosentum dominiert. Das „nur ein Weib“ in der Danksagung „geht natürlich heute gar nicht mehr“, wird aber ebenfalls schön gesungen. So ist die CD insgesamt entweder zu Recht wieder auf dem Markt oder wäre zu Unrecht erst so spät, ein Vierteljahrhundert nach der Aufnahme, dort erschienen (Glossa GCD C81133). Ingrid Wanja

Futuristisch

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Bei dieser Turandot gibt es vier Rätsel: Drei stellt Turandot an den Prinzen Calaf, eines stellt der Regisseur Franc Aleu (aus der Künstlergruppe La Fura dels Baus) an das Publikum. Denn diese Turandot vom Gran Teatre del Liceu in Barcelona aus dem Jahr 2019 ist reichlich futuristisch ausgefallen. Man wird eher in die Welt der Science-Fiction-Filme als in die der Oper versetzt. Dabei bleiben die Bezüge zur Oper Turandot oft rätselhaft. Aleu arbeitet überwiegend mit Projektionsmapping und 3D-Technik und erschafft eine an Phantasie kaum zu übertreffende Bilderwelt aus Formen und Farben. Das Geschehen findet oft in einer Art Glaskugel oder Blase statt. Häufig wird der Gaze-Vorhang bemüht. Bei den von Turandot aufgegebenen Rätsellösungen (Hoffnung, Blut, Turandot) taucht Aleu die Bühne in die korrespondierenden Farben Grün, Rot und Blau. Die finden sich auch in den Kostümen der drei Minister, die sich mitunter wie Roboter bewegen und aus fremden Welten zu kommen scheinen. Alle (außer Liu und Timur) tragen Argumented-Reality-Brillen, wie man sie inzwischen aus Bayreuth kennt. Auch Lichtschwerter gehören zur Ausstattung. Mit den sich ständig wechselnden Lichtstimmungen wird dem Auge viel geboten. Aleu sorgt für eine Orgie aus Licht und Farben. Wenn bei Lius Arie Tränen vom Himmel fallen, ist das nachvollziehbar, wenn aber Büsten herunterfallen und am Boden zerschellen, ist es nicht unbedingt so. Man hat mitunter den Eindruck, dass die Technik hier zum Selbstzweck wird und nicht unbedingt im Dienste des Werkes steht. Eines muss man aber zugeben: Interessant und faszinierend ist es allemal.

Ein paar Besonderheiten gibt es in der Inszenierung von Aleu. Liu begeht hier keinen Selbstmord sondern wird mit elektrischen Stromstößen gefoltert und hingerichtet. Die geschundene Leiche weckt das Mitleid von Turandot. Der Prinz Calaf interessiert sie eher nicht . Und Calaf? Der singt nur noch die bizarre Krone an, die er Turandot vom Kopf gerissen hat. Macht scheint wichtiger zu sein als Liebe.

Bei den sängerischen Leistungen ragt die von Ermonela Jaho als Liu heraus. Sie singt zartstimmig und mit schwebenden Tönen. Ihr Darstellung trifft ins Herz. Iréne Theorin punktet als Turandot vor allem mit ihrer messerscharfen und durchschlagskräftigen Höhe. Für ihr hässliches Kostüm kann sie nichts. Beim Calaf von Jorge De León braucht man um die hohen Töne und sein Durchhaltevermögen keine Angst zu haben. Er hat eine wuchtige, virile Stimme, mit der er seine Partie aber mitunter zum reinen Kraftakt werden lässt. Der Timur ist mit Alexander Vinogradov stimmig und zuverlässig besetzt. Ein Wiedersehen gibt es mit Chris Merritt, der als Altoum mit Helm und Brustpanzer immer noch mit altersgerechter Stimme beeindruckt.

Chor und Orchester unter der Leitung von Josep Pons sorgen für eine Ausgefeilte, aber auch wuchtige Wiedergabe. Fazit: Eine Turandot der besonderen Art, die durchaus faszinieren kann. (C-Major 763604 Blu-ray)Wolfgang Denker

An der Grenze zur Oper

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Lieder von Franz Schubert mit Orchester singt der Bariton Benjamin Appl auf seiner neuesten CD, die bei BR-Klassik herausgekommen ist (900346). Begleitet wird er vom Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Oscar Jockel. Dirigent wie Sänger stammen aus Regensburg und haben bei den Domspatzen ihre musikalische Grundausbildung erhalten. Das ist eine solide Grundlage für ihre Zusammenarbeit. Jockel ist etwa dreizehn Jahre jünger als Appel – ein Unterschied, der in dieser Generation kaum eine Rolle spielt. Aufnahmetermine gab es 2022 an sechs Tagen innerhalb von drei Monaten. Das ist für eine CD mit einer Spielzeit von knapp vierundsiebzig Minuten relativ viel, spricht aber für die Intensität der Produktion. Eingespielt wurden neunzehn Lieder, unterbrochen von instrumentalen Nummern aus Deutsche Tänze, die von Johann von Herbeck (1831-1877) bearbeitet wurden. In seiner Zeit war er vornehmlich als Dirigent eine Berühmtheit. Ihm ist die Entdeckung der „Unvollendeten“ von Schubert zu verdanken, die er 1865 in Wien zur Uraufführung brachte. Die Tänze versah er mit einem auffälligen Wiener Charme. Zeitgenössisch aber ist der Einstieg in das CD-Programm gewählt mit Abendstern in der Orchestrierung des international sehr aktiven Pianisten und Liedbegleiters Alexander Schmalcz, der auch noch mit An Sylvia vertreten ist. Wie Appl und Jockel begann er seine künstlerische Laufbahn in einem Knabenchor – nämlich dem Dresdner Kreuzchor. Alle anderen Bearbeiter haben das Zeitliche gesegnet.

Mit sieben Titeln ist Max Reger vertreten. Das ist der größte Posten. Ihm folgt in der Menge der Bearbeitungen sein österreichischer Zeitgenosse Anton Weber mit fünf. Die Literatur über nachträgliche Lieder-Orchestrierungen von fremder Hand will gesucht sein. Sie fliegt einem nicht zu. Appl geht in seinem Booklet-Text auf eigene Spurensuche. Grundsätzlich hat er mit Arrangements kein Problem, viel mehr bewundere er die „Formung einer eigenständigen Kunstgattung“ und staunt „über die grenzenlosen Phantasie, verschiedene Klavierklänge in orchestrale Farben vieler individueller Instrumente umzusetzen“. Über Regers Intentionen ist viel bekannt. Nach Darstellung von Appl „konnte er nichts damit anfangen, als zwischen symphonischen Kompositionen plötzlich eine Auswahl von Klavierliedern mit dem Dirigenten als Pianisten dargebracht wurden“. Er zitiert Reger mit den Worten: „Für mein Ohr ist es oftmals direkt eine Beleidigung in einem Riesensaal nach einer Orchesternummer eine Sängerin hören zu müssen, die zu der spindeldürren Klavierbegleitung Lieder singt.“ Es war damals übliche Praxis, Konzertprogramme durch Lieder aufzulockern. Die Musikwissenschaftlerin Susanne Popp nennt in ihrer großen Biographie „Max Reger – Werk statt Leben“ (Breitkopf & Härtel 2016) unter Bezugnahme auf den Komponisten noch einen ganz praktischen Grund, dass nämlich nicht extra ein Flügel aufs Podium geschleppt werden“ musste. Reger hat insgesamt fünfzehn Lieder mit Orchesterstimmen in einer Besetzung versehen – und zwar so, dass die Sänger nie zugedeckt werden. Es ist kein Mangel an einschlägigen Aufnahmen. Eine Gesamteinspielung legten 1998 Camilla Nylund und Klaus Mertens bei cpo vor. An weiteren Bearbeitungen ist Reger durch seinen frühen Tod gehindert worden. Gut beobachtet hat Appl, dass sein Arrangements „an Szenen aus musikdramatischen Werken“ grenzen. Davon lässt er sich auch in seinem Vortrag leiten, führt die Prometheus-Ballade nach Goethe mit ihren fünfeinhalb Minuten am auffälligsten in diese Richtung. Das Resultat kann sich hören lassen.

Appls Stimme tut ein Orchester gut. Es gibt ihm Halt – nicht nur in dramatischen sondern auch in ausgesprochen lyrischen Stücken wie „Die bist die Ruh“  in der Bearbeitung von Webern oder Ständchen aus dem Schwanengesang, dessen sich Offenbach selbstbewusst annahm. Gern überrascht der Sänger auch mit Arbeiten von Komponisten, die nicht im Mittelpunkt stehen. Kurt Gillmann (1889-1975) ist so einer. Der namhafte Harfenist, der erblindet starb, hat auch komponiert. Ein Großteil seiner Werke ist im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Von ihm stammt die betonte gefällige Orchesterversion von Ganymed, die Appl auch so vorträgt. Johannes Brahms und Benjamin Britten komplettierten die Liste der bearbeitenden Komponisten (6.10.2023). Rüdiger Winter

Janet Baker zum Neunzigsten

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Nur wenige Stimme haben mich so erreicht wie die von Janet Baker! Diese intensive, nicht einmal auf den ersten Moment wirklich schöne, aber hochintensive helle Mezzostimme gehört für mich zu den unvergesslichen, einmaligen meines langen Musiklebens. Ich hatte das große Glück (die Gnade der frühen Geburt im Westen …) sie als Dido von Berlioz 1969 beim Edinburgh-Festival zu erleben, ein Sommer mit vielen Wundern wie Leyla Gencer als Rossinis Elisabetta, Renata Scotto als Bellinis Amina und zudem Jessye Norman in einem ihrer frühen Liederabende kurz nach ihrem Berliner Debut im Amerika-Haus.

Die Baker (stark erkältet und diskret mit dem Griff nach einem hankie im Décolletée, wenn sie sich umwenden konnte) ließ mit ihrer intensiven, fast manischen Darstellung der verzweifelten  Königin zum Schluss („Rome, Rome…“) alle neben sich verblassen, auch Helga Dernesch als Cassandra im ersten Teil. Sie raste. Sie war die empörte, verletzte, wutschäumende Königin Kartagos, die zuvor mit ihrem Partner Ronald Dowd im Liebesduett  zärtlichste, süßeste Töne gefunden hatte.

Diese Bandbreite der Emotionen zeigte sie auch bei den Auftritten in den Troyens in Covent Garden, sie stets in Englisch neben Josephine Veasey und Jon Vickers in Französisch. Sie blieb (fast) bei allen Opernauftritten bei ihrer Überzeugung, dass ihr britisches Publikum sie auch verstehen sollte, was in den Troyens zu putzigen Situationen führte,

Nur in Glyndebourne, wo ich sie in der mahler-nahen Bearbeitung Raymond Leppards von Monteverdis Ritorno d´Ulisse erlebte, und 1981 am Ende ihrer Karriere eben hier als Orfeo und in Glucks Alceste in Covent Garden (dort auch vorher als Mozarts Vitellia), trat sie in den Originalsprachen Sprachen auf.

Ihre Alceste ist mir eingebrannt, und es ist ein Jammer, dass es nur das akustische Dokument davon gibt – hier noch einmal sah man die Kunst der Baker wie in einer großen Nuss-Schale: Intensität, Diktion, starke Emotionen durch eben die Sprache und eine hochpräsente, stark engagierte Bühnenerscheinung.

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Das klingt jetzt sehr technisch, und ich muss auch sagen, dass ich bei aller Verehrung und Affinität zu ihr auch gelegentlich das Gefühl hatte, dass sie eine Mauer um sich herum hatte. Sie kommunizierte durch ihre überspringende Kunst, nicht durch eine solche Empathie. Martha Mödl hat mal von der von mir heiß geliebten Sena Jurinac gesagt, sie habe stets das Gefühl gehabt, durch eine Glasscheibe von ihr auf der Bühne getrennt gewesen zu sein. Dieses Simile fällt mir bei der Erinnerung an Janet Baker auch ein: Sie war und sang in einer Welt für sich, ihrem eigenen Kosmos, ihre Figuren hatten wenig Kontakt mit den übrigen auf der Bühne – soweit meine Erinnerung. Der ihr anhaftende Ruf der gewissen Humorlosigkeit und Strenge der Interpretation ebenso wie im sozialen Kontakt erklärt sich vielleicht daraus. Dennoch konnte man sie auch gelöst und heiter außerhalb des Theaters erleben. Das Interview mit dem Schauspieler  Simon Callow in der Londoner Wigmore Hall lässt sie in einem viel menschlicheren Licht erscheinen als manchmal dargestellt. Es wurden mehrere Video-Interviews mit Janet Baker online gestellt, und in allen spricht sie mit dieser außergewöhnlichen Mischung aus Autorität, Bescheidenheit, Klarheit, Würde und spiritueller Anmut, die ihren Gesang durchdrungen hat. Dieses ist mein absoluter Favorit, vor allem, weil sie sich mit Simon Callow so ganz offensichtlich wohlfühlt. Dass sie auch unter ihrer Karriere gelitten hat, unter der großen Verantwortung als Künstlerin gegenüber ihrem Publikum und dass diese Beziehung ihr auch Selbstzweifel und Depressionen bereitete,  berichtet sie – sehr anrührend – in ihrem bemerkenswerten Buch „Full Circle“ 1981 nach dem Bühnenabschied mit Alceste, den auch eine ebenso sehenswerte BBC-Dokumentation dieses Abschiedsjahres ihrer letzten drei Partien – Orfeo/Glyndebourne, Mary Stuard/ENO und Alceste/CG – begleitet. Auch die bei youtube verfügbare Dokumentation „Janet Baker – in her own words“ ist absolut ein Muss.

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In den vielen wunderbaren Liederabenden war sie das Zentrum ihres und unseres Erlebens, wo sie akzentfrei eben dieses klassische Konzert-Repertoire (erst italienische, dann französische und zum Schluss deutsche Lieder) durchmaß, auch hier mit ihr eigenen breiten Palette des Ausdrucks und der Intensität. Ich habe sie sehr, sehr oft in Liederabenden gehört und bin ihr auch nachgereist, um mich dieser für mich einmaligen Stimme und Interpretation hinzugeben. An ihrem Kosmos teilzuhaben.

Keine Stimme wie die ihre hat mir Lieder so nahegebracht. Und ich bin dem gebildeten Verkäufer (Peter) im damaligen Berliner Platten-Laden Bote & Bock im Europacenter bis heute unendlich dankbar, mir ihre LPs nahegebracht zu haben. Ihre allererste bei Saga hatte ich mir aus den USA mitgebracht, Brahms, Schubert, Schumann mit Martin Isepp am Klavier, dem Sohn ihrer Lehrerin. Und wie sehr oft bei Stimmen war es diese erste Platte, die meine Verehrung für Janet Baker triggerte. Ihr Musensohn ist mir bis heute die einzige Variante, die ich gelten lasse. Dank eben Bote & Bock dann öffnete sich mir der Himmel mit mehr von Schubert (Ellens Gesänge) und dem klassischen Repertoire, den vielen Aufnahmen bei EMI, namentlich den „Nuits d´éé“ unter Barbirolli (unerreicht das „Spectre de la rose“ mit dem Ritardando von „J´arrive, j´arrive aux Paradis..“), ihr Mahler, Brahms, Elgar später und die vielen anderen Memorabilien.

Bei der BBC hat sie viele Aufnahmen gemacht, von sehr viel Händel bis zu Mahler, oft auch als Mitschnitte aus der Albert Hall, von Festivals und anderen Locations, die kursieren unter Sammlern, so auch der bedeutende Liederabend aus der New Yorker Town Hall 1966, wo sie am nächsten Abend für eine Kollegin als italienischer Smeton neben Marilyn Horne und Elena Suliotis in der konzertanten Anna Bolena in der Carnegie Hall nebenan einsprang (was für zwei Abende für mich, unvergesslich) – so wie später in EMIs Capuleti neben der Sills für die Horne.

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Aber die ersten Aufnahmen lagen dann doch bei der Decca unter Anthony Lewis mit der singulären Dido Purcells 1961 unter Leppard mit der Diana Cavallis aus Glyndebourne 1971 oder als unglaubliche Phédre Rameaus (Hippolyte ed Aricie, 1966), die ich mir als Student mit klopfendem Herzen in London mit ebenso blutendem Herzens leistete (das Pfund stand barbarisch hoch für uns) und nach Berlin trug, noch als LP. Was für legendäre Aufnahmen, welche Kunst, welche Interpretation!

Universal/Decca nun – nicht EMI/Warner, da gab´s eine zum 80. – hat eine 21-CD-Box zu Janet Bakers 90. Geburtstag im August 2023 herausgebracht, die diese frühen Decca-Aufnahmen enthält, aber auch ihre (nach der EMI-Phase) späteren bei Philips, vorher Deutsche Grammophon und zuletzt Hyperion, diese sehr reif und abgeklärt.

Janet Baker war ja eng im Kreis von Benjamin Britten und Aldeburgh eingebunden, und ihre Aufnahmen eben dieses Komponisten zählen zu den besten. Aber ihre Bandbreite scheint fast unendlich, wenn man die nachstehende Auflistung der Box liest, von Carissimi oder Purcell bis zur Moderne, Händel oder Gluck nicht vergessend. Wobei manches unter Raymond Leppards Stokowski-Sound-Orchester-Bearbeitung leidet. Das macht die Aufnahmen auch gelegentlich altmodisch. Oder ärgerlich.

Janet Bakers Aussehen hat sich in den langen Jahren ihrer Karriere sehr verändert – aus der etwas provinziell wirkenden jungen Frau mit Hochfrisur der Zeit ist eine elegante ältere Dame mit einem wirklich schönen, durchgeistigten Antlitz geworden, die in ihren wenigen Auftritten dezidiert Kluges sagt. Die Sing-Stimme hatte sich dagegen kaum verändert, gewiss zum Schluss auch lockerer, weiter schwingend geworden, aber immer von dieser unglaublichen Intensität, dieser Verbindung aus Wort und Musik, darin der Kollegin Callas so ähnlich, die im Dezember 100 geworden wäre. Inhalt durch gesungenes Wort zu transportieren, den Zuhörer mit diesen beiden Mitteln zu verzaubern – was für eine Kunst. Happy Birthday, Dame Janet. Geerd Heinsen

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Die wunderbaren Fotos von Janet Baker (mit 86!) sind der BBC-TV-Dokumentation Janet Baker in her own Words bei youtube entnommen (14. April 2019 BBC Four, Regie  John Bridcut)

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Anlässlich des 90. Geburtstages der großen Janet Baker (* 21. August 1933 in Hatfield, South Yorkshire, England) erschien bei Decca eine 21-CD-Edition (4854438), die alle Recitals und Liederaufnahmen der großen britischen Mezzosopranistin bei Philips, L’Oiseau-Lyre, Argo, Deutsche Grammophon und Hyperion enthält. Diese Edition feiert so die vielen Facetten der unvergleichlichen Kunst von Janet Baker – Opernsängerin, Konzertsängerin und eine der letzten lebende Repräsentantinnen des Golden Zeitalters des Gesangs. „Janet Baker – A Celebration“ beeindruckt mit Original Jackets, seltenen Fotografien von Aufnahmesitzungen und Archivfotos sowie umfassenden Booklet-Texten, die diese Edition zu einer besonderen Würdigung der außergewöhnlichen Sängerin machen. (Decca)

Janet Baker – A Celebration (Argo, L’Oiseau-Lyre, Deutsche Grammophon, Philips & Hyperion-Recordings); Mit Werken von : Henry Purcell (1659-1695) , Francesco Cavalli (1602-1676) , Jean Philippe Rameau (1683-1764) , Georg Friedrich Händel (1685-1759) , Johann Sebastian Bach (1685-1750) , Antonio Vivaldi (1678-1741) , Francesco Durante (1684-1755) , Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) , Joseph Haydn (1732-1809) , Christoph Willibald Gluck (1714-1787) , Ludwig van Beethoven (1770-1827) , Franz Schubert (1797-1828) und weitere; Mitwirkende: Janet Baker, Robert Tear, Felicity Palmer, Felicity Lott, Peter Pears, Norma Burrowes, Simon Preston, John Shirley-Quirk, Dietrich Fischer-Dieskau, Ian Partridge, Ileana Cotrubas, Gerald Moore und weitere 21 CDs 

1.CD Henry Purcell: Dido and Aeneas (Patricia Clarke, Eilen Poulter, Raimund Herincx, Monica Sinlair, English Chamber Orchestra, Anthony Lewis / 1961)
2.CD „Arie amorose“ – Italienische Lieder & Arien von Giulio Caccini, Alessandro Stradella, Domenico Sarro, Antonio Cesti, Antonio Lotti, Alessandro Scarlatti, Antonio Caldara, Giovanni Bononcini, Franceso Durante, Giovanni Battista Pergolesi, Niccolo Piccinni, Giovanni Paisiello (Academy of St. Martin-in-the-Fields, Neville Marriner / 1978); Francesco Cavalli: 3 Szenen aus La Calisto (Giovanni Faustini, James Bowman, London Philharmonic Orchestra, Raymond Leppard / 1971); Jean-Philippe Rameau: 2 Arien aus Hippolyte et Aricie (English Chamber Orchestra, Anthony Lewis / 1965)
3.CD Georg Friedrich Händel: Kantate „La Lucrezia“; Arien aus Ariodante, Atalanta, Hercules, Joshua, Rodelinda, Serse (English Chamber Orchestra, Raymond Leppard / 1973)
4.CD Johann Sebastian Bach: Matthäus-Passion BWV 244 (Auszüge / Karl Richter); Messe h-moll BWV 232 (Auszüge / Academy of St. Martin in the Fields, Neville Marriner); Georg Friedrich Händel: Judas Maccabaeus (Auszüge / Charles Mackerras)
5.CD Johann Sebastian Bach: Kantaten BWV 159 „Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem“ & BWV 170 „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“ (John Shirley-Quirk, Robert Tear, Academy of St. Martin-in-the-Fields, Neville Marriner / 1966); Kantate BWV 102 „Herr, deine Augen sehen mach dem Glauben“ (Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Pears, English Chamber Orchestra, Benjamin Britten / 1965)
6.CD Antonio Vivaldi: Gloria D-Dur RV 589; Francesco Durante: Magnificat B-Dur (King’s College Choir Cambridge, Academy of St. Martin-in-the-Fields, David Willcocks / 1966)
7.CD Georg Friedrich Händel: Ariodante (Auszüge / Raymond Leppard); Wolfgang Amadeus Mozart: La Clemenza di Tito (Auszüge / Colin Davies); Cosi fan tutte (Auszüge / Colin Davis)
8.CD Joseph Haydn: Scena di Berenice; Arianna a Naxos; Wolfgang Amadeus Mozart: Cosi fan tutte (Auszüge); Abendempfindung; Das Veilchen (Raymond Leppard, Dirigent & Klavier)
9.CD Christoph Willibald Gluck: Arien aus Alceste, Armide, Iphigenie en Aulide, Iphigenie en Tauride, La Recontre imprevue, Orfeo ed Euridice, Paride ed Elena (English Chamber Orchestra, Raymond Leppard / 1975)
10.CD Ludwig van Beethoven: Ah perfido“; No, non turarti; Egmont (Auszüge); Franz Schubert: Arien aus Alfonso und Estrella, Lazarus, Rosamunde; Ständchen „Zögernd leise“ (Raymond Leppard, Dirigent & Klavier)
11.CD Franz Schubert (Duette): Hermann und Thusnelda D. 322; Antigone und Oedip D. 542; Cronnan D. 282; Singübungen D. 619; Selma und Selmar D. 286b; Licht und Liebe D. 352; Hektors Abschied D. 312; Mignon und der Harfner D. 877 Nr. 4; Szenen aus Goethes Faust D. 126 (Dietrich Fischer-Dieskau, RIAS Kammerchor, Gerald Moore / 1972)
12. CD Franz Schubert (Vokalquartette): Der Tanz D. 826; Des Tages Weihe D. 763; Hymne an den Unendlichen D. 232; An die Sonne D. 439; Begräbnislied D. 168; Gott im Ungewitter D. 985; Gott der Weltschöpfer D. 986; Die Geselligkeit D. 609; Gebet D. 815 (Elly Ameling, Peter Schreier, Dietrich Fischer-Dieskau, Gerald Moore / 1973)
13.CD Franz Schubert (Schiller- & Goethe-Lieder): Der Jüngling am Bache D. 30; Thekla D. 73; Nähe des Geliebten D. 162; Meeres Stille D. 216; Amalia D. 195; Die Erwartung D. 159; Wandrers Nachtlied I D. 224; Der Fischer D. 225; Erster Verlust D. 226; Wonne der Wehmut D. 260; An den Mond D. 296; Das Geheimnis D. 250; Lied D. 284; Der Flüchtling D. 402; An den Frühling D. 587; Der Alpenjäher D. 588; Der Pilgrim D. 794; Sehnsucht D. 636 (Graham Johnson / 1987)
14.CD Gustav Mahler: Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit (Geoffrey Parsons / 1983)
15.CD Gustav Mahler: Das Lied von der Erde (Concertgebouw Orchestra, Bernard Haitink / 1975)
16.CD Hector Berlioz: La Mort de Cleopatre; Herminie; Szenen Nr. 5 & 6 aus L’Enfance du Christ (Auszüge); Non! Que viens-je d’entendre aus Beatrice et Benedict (Pierre-Ange Vieillard, Thomas Allen, John Alldis Choir, London Symphony Orchestra, Colin Davis / 1979)
17.CD Gabriel Faure: Le Papillon et la fleur op. 1 Nr. 1; Chanson du pecheur op. 4 Nr. 1; Reve d’amour op. 5 Nr. 2; Melodies op. 7 Nr. 1-3; Aubade op. 6 Nr. 1; Toujours op. 21 Nr. 2; Les Berceaux op. 23 Nr. 1; Le Secret op. 23 Nr. 3; Aurore op. 39 Nr. 1; Les Roses d’Ispahan op. 39 Nr. 4; En Priere; Les Presents op. 46 Nr. 1; La Chanson d’Eve op. 95; Spleen op. 51 Nr. 3; Green op. 58 Nr. 3; En Sourdine op. 58 Nr. 2; Mandoline op. 58 Nr. 1(Geoffrey Parsons / 1988)
18.CD Maurice Ravel: 3 Poemes de Stephane Mallarme; 3 Chansons madecasses; Ernest Chausson: Chanson perpetuell op. 37; Maurice Charles Delage: 4 Poemes hindous (Melos Ensemble / 1966)
19.CD Gustav Holst: Savitri op. 25 (Kammeroper in 1 Akt); Benjamin Britten: Kantate op. 93 „Phaedra“; Lucretia, Lucretia & Last Night Tarquinius aus The Rape of Lucretia op. 37; ah, Owen, what shall we do aus Owen Wingrave op. 85; Werner Egk: La Tentation de Saint Antoine (Robert Tear, Purcell Singers, John Shirley-Quirk, Benjamin Luxon, Koeckert Quartet, English Chamber Orchestra, Imogen Holst / 1961 / 1965)
20.CD Michael Tippett: A Child of our Time (Jessye Norman, John Shirley-Quirk, BBC Singers, BBC Symphony Orchestra, Colin Davis / 1975)
21.CD Henry Purcell: Dido and Aeneas (in der Fassung von Imogen Holst & Benjamin Britten / Robert Tear, Felicity Palmer, Felicity Lott, Peter Pears, Norma Burrowes, London Opera Chorus, Aldeburgh Festival Strings, Steuart Bedford / 1975)

Künstler: Janet Baker, Robert Tear, Felicity Palmer, Felicity Lott, Peter Pears, Norma Burrowes, Simon Preston, John Shirley-Quirk, Dietrich Fischer-Dieskau, Ian Partridge, Ileana Cotrubas, Gerald Moore, Elly Ameling, Peter Schreier, Cord Garben, Graham Johnson, Geoffrey Parsons, Benjamin Luxon, Richard Cassilly, Jessye Norman, London Opera Chorus, Regensburger Domspatzen, RIAS Kammerchor, Purcell Singers, Academy of St. Martin in the Fields, Aldeburgh Strings, Orchestre symphonique de Montreal, London Philharmonic Orchestra, Münchener Bach-Orchester, Orchestra of the Royal Opera House Covent Garden, London Symphony Orchestra, Melos Ensemble, Koeckert Quartett, BBC Symphony Orchestra, Steuart Bedford, Neville Marriner, Karl Richter, Charles Mackerras, David Willcocks, Colin Davis, Bernard Haitink, Imogen Holst, Decca, ADD, 1961-1988

Reiner Goldberg

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Gebürtig aus Crostau im Landkreis Bautzen, Sachsen, erblickte der Tenor Reiner Goldberg am 17. Oktober 1939 das Licht der Welt. Zunächst erlernte er den Beruf eines Schlossers, ehe er sich der Musik zuwandte. Einem Gesangsstudium an der Musikhochschule Dresden (bei Arno Schellenberg) folgte 1966 das Debüt als erster Geharnischter in Mozarts Zauberflöte bei den Sächsischen Landesbühnen Dresden-Radebeul. Von da an ging es Schlag auf Schlag. 1969 erstmals Gast an der Dresdner Staatsoper, wurde Goldberg bereits 1973 reguläres Mitglied des dortigen Ensembles. An der Deutschen Staatsoper Berlin sang er zum ersten Mal 1972 und wurde 1981 auch dort Teil des Ensembles. Gastspiele führten ihn zu DDR-Zeiten nach Leipzig, Leningrad, Hamburg, London, Paris, Wien, Salzburg, Genf, Prag, Budapest, Lausanne, Mailand und Barcelona sowie 1981 mit der Dresdner Staatsoper bis nach Japan. Bereits zu Ostzeiten erfolgte Goldbergs Debüt in New York (1983 konzertant), nach der Wende ab 1991 auch an der Met. Ebenfalls schon vor dem Mauerfall sein erstes Einspringen bei den Bayreuther Festspielen (am 24. August 1986 als Tannhäuser für Richard Versalle). Ab dem Folgejahr gehörte er dann für sieben Jahre zur festen dortigen Besetzung, zunächst als Stolzing (1987/88), dann als Siegfried (1988/89, im ersten Jahr lediglich in der Götterdämmerung), abermals als Tannhäuser (1989) und vor allem als Erik (1990-1994). Im Heldenfach sang er beinahe alle wichtigen Wagner-Partien, widmete sich aber auch dem modernen Opernschaffen. Daneben war Goldberg als Konzertsänger und Gesangspädagoge großer Erfolg beschieden. Diskographisch ist er zuvörderst in Opern von Wagner und Richard Strauss festgehalten, daneben aber auch u. a. in Schönbergs Moses und Aron (unter Herbert Kegel) sowie in der neunten Sinfonie von Beethoven (unter Kurt Masur). 1985 erhielt er den Nationalpreis der DDR III. Klasse für Kunst und Literatur und wurde anlässlich seines 80. Geburtstages im Jahre 2019 zum Ehrenmitglied der Berliner Staatsoper Unter den Linden ernannt. Bis fast zuletzt wirkte er auf der Bühne mit, so noch 2019 als Eißlinger in den Meistersingern an der Berliner Staatsoper unter Daniel Barenboim sowie 2020 als erster Gefangener im Fidelio bei einer konzertanten Aufführung in Graz. Wenige Tage vor Vollendung seines 84. Lebensjahres ist Reiner Goldberg nun am 7. Oktober 2023 in Berlin verstorben (Foto oben: Reiner Goldberg als Peter Grimes am Opernhaus Graz 2002/Foto Toni Muir). Daniel Hauser

HERBERT HANDT

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Mit Bedauern hörte ich vom Tode des us-amerikanischen Tenors und Dirigenten Herbert Handt. Ich hatte noch das Glück ihn sowohl als Sänger wie auch als Leiter der Akademie in Lucca zu erleben, ein sehr liebenswürdiger älterer Herr, der sich freute, dass ich seine frühen Aufnahmen kannte und schätze. In Grossetto oben auf dem Berg, wo die feuchte Nachtluft das zirpende Cembalo im Laufe des Abends um einen Tod tiefer klingen ließ erlebte ich ihn in einer Oper des Settecento, ich kann mich nicht mehr an den Titel erinnern. Cimarosa? Matrimonio? Egal, er ist mir im Gedächtnis geblieben, auch weil ich seine Aufnahmen unter Loehrer oder Prohaska mein eigen nenne und er defintiv ein Bestandteil  italienischer Musikgeschichte war. Ein wichtiger und formativer. Geerd Heinsen

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Herbert Handt (Tenor, Dirigent), Geboren: 26. Mai 1926 in Philadelphia starb am 4. Oktober 2023 in Rom. Der amerikanische Tenor (und Dirigent) war ein Cousin des Dirigenten Otto Ackermann (1909–1960) und erhielt seine Ausbildung an der Juilliard School of Music in New York, dann an der Wiener Musikakademie. Herbert Handt gab 1949 sein Operndebüt an der Wiener Staatsoper. Als lyrischer Tenor trat er in den 1950er Jahren mit Erfolg an bedeutenden europäischen Opernhäusern auf. Er trat auf deutschen, italienischen und französischen Bühnen auf und gastierte in Belgien und Holland. 1957 sang er am Teatro della Pergola in Florenz in der Uraufführung von Venere Prigioniera von Gian-Francesco Malipiero. Im Rahmen der Brüsseler Weltausstellung nahm er im August 1958 an der Uraufführung der Oper Maria Golovin von GC Menotti Teil. Er spielte Rollen in Werken moderner Komponisten wie Gian-Francesco Malipiero, Alban Berg, Ferruccio Busoni, Hans Werner Henze und Benjamin Britten. Auch im Konzertbereich hatte er eine große Karriere, wobei er sich besonders als Oratoriensolist auszeichnen konnte. 1966 wirkte er in Zürich bei der Uraufführung des Oratoriums Jeremia von E. Hess mit.

Höhepunkte seines Repertoires auf der Bühne waren die lyrischen Partien in Opern von WA Mozart und in den Belcanto-Opern von Rossini, Bellini und Donizetti. Besonders hervorzuheben sind sein Don Ottavio in Don Giovanni , sein Orfeo in Orfeo ed Euridice von J. Haydn und im Otello von Rossini neben Virginia Zeani.

Herbert Handt, der lange Zeit seinen Wohnsitz in Rom hatte, trat ab 1960 auch als Dirigent in Erscheinung. 1960 schuf er in Rom eine eigene Gesangs- und Instrumentalmusik, mit der er ausgedehnte Konzertreisen unternahm. Mit seinem Ensemble führte er alte und selten gehörte italienische Partituren auf, für die er Aufführungsausgaben vorbereitete (darunter Opern von Boccherini, Geminiani und Rossini). Später lebte er in Lucca, wo er in den Sommermonaten das Associazione Musicale Lucchese Opera Festival organisierte. Er war außerdem Gründer und Gründer des Lucca Chamber Orchestra und des Marlia International Festival. Quelle Bachtrack

Aufnahmen: RCA (Aufnahme der Oper Maria Golovin, anlässlich der Uraufführung 1958 in Brüssel), Nixa/NE (Ottavio neben Grub-Prandl in Don Giovanni, Orfeo ed Euridice von Haydn, Idomeneo von WA Mozart erneut neben Grob-Prandl ), Edition Schwann/NE ( Giuseppe, figlio di Giacobbe von Luigi Rossi), EJS/div CD-Firmen ( Otello von Rossini) , Voce/NE und andere CD-Firmen ( Temistocle von Johann Christian Bach , Viva la Mamma von Donizetti), Vox (Sesto in Giulio Cesare von Georg Friedrich Händel ), Vanguard ( Saul von GF Händel ), Fonit Cetra div., weitere bei Angaben bei Discogs. G. H.

Früher Belcanto aus den Marken

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Bei Bongiovanni ist der Mitschnitt von Pietro Generalis „Straßenmusikantin Cecchina“ beim noch jungen Festival Il belcanto ritrovato in Pesaro im Jahr 2022 herausgekommen. Das verdienstvolle Angehen, „kleinere“ italienische Komponisten aus der Belcanto-Periode wieder zu entdecken und zum Leben zu erwecken, ist dem Festival-Intendanten Rudolf Colm zu verdanken (s.o. das Interview mit ihm in operalounge.de).

Der am 4. Oktober 1783 in Masserano geborene Pietro Generali wuchs in Rom auf, wo er eine musikalische Ausbildung erhielt, die neben der geistlichen Musik auch Opernkompositionen umfasste, und die er am Konservatorium von S.Pietro a Majella in Neapel noch kurz fortsetzte. Wieder in Rom, begann seine Laufbahn als Opernkomponist im Jahr 1800 (a.a.O. 1802) mit seiner ersten Oper Gli Amanti ridicoli, der noch mehr als 40 Opern folgten. Generali schrieb für italienische und ausländische Städte auf Bestellung, wirkte aber auch im europäischen Ausland und leitete u.a. 1817-1821 das größte Theater in Barcelona. Er soll einen sehr liederlichen Lebenswandel geführt haben, dessen Folgen ihm Einbußen an Gesundheit und Laufbahn brachten. 1823 war sein Opernschaffen nahezu beendet; 1827 wurde er Domkapellmeister in Novara, wo er sich bis zu seinem Tode 1832 immer mehr der Kirchenmusik und dem Unterrichten zuwandte.

Gaetano Rossi – der Librettist mehrerer Opern Rossinis – schrieb auch für Generali die Vorlage zu der einaktigen „farsa“ Cecchina, die 1818 im Teatro Nuovo in Neapel uraufgeführt wurde. Im Inhalt geht es um soziale Unterschiede: Da sind zunächst Cecchina aus Savoyen, die es in Paris als einfache Straßenmusikantin mit der Drehleier unauffällig zu einem gewissen Reichtum gebracht hat, und der sich als mittellosen Maler ausgebenden Enrico, die sich lieben; ein Consigliere umschwärmt seinerseits Cecchina, während der Duca di Rosmond (Onkel Enricos) sich gegen eine Verbindung beider stellt. Sozusagen als Buffopaar gesellen sich das Kammermädchen Fiorina und Andrea, ein junger Mann aus Cechinas Heimat (ihr Bruder) dazu. Das Ganze findet ein positives Ende, als Papiere auftauchen, die die edle Herkunft Cecchinas bescheinigen, so dass der Verbindung der Liebenden nun nichts mehr im Wege steht,.

Die musikalische Leitung der Aufführung lag in den Händen von Daniele Agiman, der das Orchestra Sinfonica G.Rossini zu Top-Leistungen anspornte. Von der Sinfonia an gelingt lockeres, leichtes Musizieren durchgehend in allen Instrumentengruppen. Die Titelrolle war der Sopranistin Jolanda Massimo anvertraut, die über eine klare, höhensichere Stimme verfügt, die bestens durchgebildet die lyrischen Phasen ihrer Rolle (Dico, Giannetta) ebenso beherrscht wie die glitzernden Koloraturen (Mi ritornai il buon umore); man leidet echt mit ihr in der Szene Che scopersi!. Ihr geliebter Enrico wird von dem jungen Tenor Pierluigi D’Aloia verkörpert, der ebenfalls die Palette von lyrischer Anbetung bis zu dramatischer Emphase ausreizt (z. B. Ah, tu sei tutto). Paolo Ingrasciotta als eitler Consigliere verfügt über einen eher weichen, schwärmerischen Bariton, der sich aber auch energisch durchzusetzen weiß. Dazu passt sehr gut der etwas dunklere Bariton des russischen Sängers Alan Starovoitov, der als Duca die Wandlung vom feindlich energischen zum liebenswürdig schmeichelnden Onkel Enricos hörbar macht. Der aus Buenos Aires stammende Ramiro Maturana (Andrea) als naiver Junge aus Savoyen erfreut mit flexibler Stimmführung; sehr gelungen ist seine große „Tanzszene“ Noi salziamo al far del giorno. Das junge Solistensextett wird abgerundet durch Annya Pinto, die als Fiorina mit hörbarem Charme und geläufigen Koloraturen ihres sauberen Soprans begeistert. Dieser Einakter ist eine lohnende Ausgrabung, die sicher noch häufiger nachgespielt werden wird. Durch die kleine Solistenbesetzung, ohne Chor und Ballett bietet er sich für publikumswirksame Aufführungen an kleineren Theatern und Hochschulen an. Die Einspielung wird ergänzt durch zwei Boni von Generali: Die flott gespielte Sinfonia zu La Testa meravigliosa und die Arie Sorgerà la nuova aurora aus Pamela nubile – mit leuchtenden Soprantönen gesungen von Annya Pinto – machen Lust auf mehr von Pietro Generali (Bongiovanni, GB 2607/8-2).     (3.10.2023)  Marion Eckels

Norbert Orth

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Am 18. August 1939 in Dortmund geboren, schlug Norbert Orth zunächst eine Laufbahn als Industriekaufmann ein, ehe er sich dem Gesang zuwandte. Nach Studien in Hamburg, Köln und Dortmund debütierte er 1966 als Ferrando in Così fan tutte in Enschede. Über Kiel, die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf und Nürnberg kam er 1976 an die Bayerische Staatsoper in München, der er 20 Jahre als Ensemblemitglied angehörte. Gastspiele führten ihn u. a. nach Paris, New York, Berlin, Stuttgart, Hannover, Dresden, Chemnitz, Kassel, Essen, Zürich, Bordeaux, Lyon, Salzburg und Tokio. Auftritte bei den Bayreuther Festspielen (1973/74 als Augustin Moser und 1984 als Loge) waren frühe Höhepunkt in seiner Laufbahn. Ab den frühen 1980er Jahren wechselte Orth zunehmend ins Heldenfach. Sein letzter Auftritt an der Bayerischen Staatsoper am 26. Mai 1996 als einspringender Stolzing rettete die Vorstellung. Zu seinem Repertoire gehörte auch die Solopartie in Beethovens Sinfonie Nr. 9. Daneben trat er als Oratorien- und Liedersänger erfolgreich in Erscheinung. Auf Schallplatte ist er u. a. in der Entführung aus dem Serail (Eurodisc), in Hoffmanns Erzählungen (HMV) und Tiefland (RCA) festgehalten. Bereits am 27. August 2023 ist Norbert Orth kurz nach seinem 84. Geburtstag verstorben. Daniel Hauser

Akkordeon statt Klavier

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Wird ein Liederzyklus so oft aufgeführt und eingespielt wie Franz Schuberts Winterreise, nehmen die Begehrlichkeit zu, es mal ganz anders zu machen. Der neueste Schrei ist eine Version für Bariton, Chor und zwei Akkordeons, erschienen bei Genuin (GEN 23847). Erarbeitet hat sie Gregor Meyer, der Leiter des Leipziger Gewandhaus-Chores, der – wie könnte es auch anders sein – an der Einspielung beteiligt ist. Nach der Sinnhaftigkeit fragt die Autorin des Booklet-Textes Katharina Rosenkranz, die nach Angaben der Herausgeber auch das Cover gestaltet hat. Sie leitet das Chor-Büro. „Das Sololied wird hier zur Chorliteratur und tritt aus dem vollkommen kammermusikalischen Raum heraus auf ein größeres Konzertpodium.“ Es würden neue Aufführungsmöglichkeiten und ein weiterer Publikumskreis erschlossen, so die Autorin, die auf ein begeistertes Publikum bei Live-Vorstellungen der Bearbeitung verweist. Die Akkordeon-Begleitung – ursprünglich war nur ein Instrument vorgesehen – dränge sich geradezu auf. Als Beispiel führt die Autorin „die froststarren, etwas windschiefen Töne des Leiermanns“ an, die mit dem Akkordeon, das sich auf der Wanderung auch leichter schultern lasse, „natürlich deutlich authentischer“ klängen als mit dem „kultivierten Klavier“.

Solist ist der Bariton Tobias Berndt, der bei Hermann Christian Polster, einem namhaften Leipziger Sänger mit Schwerpunkt Bach, studierte. Zudem kann er auf Dietrich Fischer-Dieskau, der sich während seiner langen Kariere immer wieder intensiv mit der Winterreise auseinandergesetzt hat, als Lehrer verweisen. Er bestreitet den Einstieg mit seinem wohlklingenden Bariton und bester Wortverständlichkeit zunächst allein. Beide Akkordeons, die von Heidi und Uwe Steger sehr virtuos gespielt werden, geben den Marschrhythmus vor. Ist der Sänger an der Stelle angelangt, wo „ein Mondesschatten als mein Gefährte“ mitzieht, stimmt der Chor vokalisiert ein unheimliches Echo an, um schließlich selbst die Worte zeitlich etwas versetzt zu wiederholen. Musikalisch ist das wirkungsvoll gemacht. Eine inhaltliche Vertiefung findet nicht statt. Allenfalls wird die Winterreise illustriert und aufgehübscht. Es ist also nachvollziehbar, dass diese Bearbeitung bei einem mit dem klassischen Liedgesang weniger vertrauten Publikum besonders gut ankommt. Für das folgende Lied simuliert der Chor den Wind, der mit der Wetterfahne „auf meines schönen Liebchens Haus“ spielt und singt auch gleich die erste, die Situation beschreibende Gedichtzeile, um in dem Moment vom Solisten abgelöst zu werden, wenn dieser als lyrisches Ich in Erscheinung tritt. Eine sinnvolle formale Lösung, die sich aber nicht konsequent durchsetzt. Vieles bleibt im Fortschreiten des Werkes ehr zufällig und damit mehr der Wirkung als der Aussage verpflichtet. Der Sänger ist bis auf Ausnahmen – wozu Rückblick und breits erwähnte Der Leiermann gehören – weitgehend ohne Chance, den Zyklus selbst zu einem Ganzen zu formen. Er wird als eine Art Vorsänger Teil des höchst professionell agierenden Chores, dem eigentlichen Star dieser Produktion.

Dem Liedgesang ist eine weitere Neuerscheinung bei Genuin gewidmet, die sich im Vergleich mit der Winterreise ausgesprochen konventionell ausnimmt: Die schöne Magelone von Johannes Brahms (GEN 23844). Gesungen werden diese fünfzehn Romanzen aus der Erzählung Ludwig Tiecks von Tomas Kildišius, einem noch jungen aus Litauen stammenden Bariton, der sowohl auf Konzertpodien als auch auf Opernbühnen anzutreffen ist. Begleitet wird er am Klavier von der gebürtigen Armenierin Ani Ter-Martirosyan. Die Schauspielerin Jannike Liebwert umrahmt die Lieder mit Tieck-Texten, die die notwendigen inhaltlichen Zusammenhänge schaffen. Dadurch ist ein größeres Verständnis gewährleistet. Ursprünglich war das vom Komponisten so nicht gedacht. Doch schon bei der ersten Aufführung durch den Sänger Julius Stockhausen, dem der Liederzyklus gewidmet ist, stellte sich heraus, dass das Publikum den aus dem Zusammenhang gerissenen Romanzen, die immer wieder Bezug zur Prosa-Erzählung nehmen, nicht gut folgen konnte. Kildišius ist gut beraten, sich als Liedersänger weiter zu profilieren – eine erfreuliche Tendenz, die auch bei anderen Solisten seiner Generation auffällt. Im Booklet ist zu lesen, dass er „besondere Aufmerksamkeit auf die Artikulation und Klarheit des Textes“ lege. Damit sind wichtige Voraussetzungen angesprochen, um in diesem Genre dauerhaften Erfolg zu haben. Auf der CD ist das entsprechende Bemühen deutlich zu spüren, bleibt aber noch ausbaufähig. Rüdiger Winter

Vatroslav Lisinskis „Porin“

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Nationalopern: Wir bei operalounge.de sind ja stets bemüht, mit unseren Nachbarn in Ost wie West im kulturellen Austausch zu sein und machen deshalb auf Vergessene Opern aufmerksam, die bei ihnen so etwas wie ein Nationales Erbe sind. Das haben wir mit Opern von Ivan Zajc (mein großer Favorit) oder Viktor Palma gemacht, mit dem Yiddish Theatre in New York, mit Opern von Gomes ebenso wie Tschukadian, Samara, Carrer oder Erkel, Nowowiejski oder Balfe. Der Name Vatroslav Lisinski ist sicher nicht jedem im Westen bekannt, aber Fans der großen kroatischen Sopranistin Sena Jurinac werden sich vielleicht daran erinnern, dass sie – jung und unbekannt, aber damals schon eine Beautée – 1944 im kroatischen Spielfilm Lisinski über den Komponisten mitwirkte und mit ihren aller ersten Tondokumenten zu erleben ist. Inzwischen gibt es den alten Film bestens restauriert bei youtube zu sehen, ein anrührendes Dokument.

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Vatroslav Llisinski/OBA

Mit der Uraufführung der Oper Porin von Vatroslav Lisinski, die als einer der Höhepunkte der kroatischen nationalen Wiedergeburt gilt, im Zagreber Stanković-Theater 1897, waren die Kroaten nach den Deutschen, Polen, Balten und Russen eine weitere Nation in Europa, die eine Nationaloper erhielt.

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Die Geburtsstunde der ersten zeitgenössischen Oper in kroatischer Sprache, und noch vor Ivan Zajc,  ereignete sich in einer Stadt , die damals etwa fünfzehntausend Einwohner hatte, und das Theater des Unternehmers Stanković am Ende der damaligen Gospodska-Straße in Gornje Grad bot 750 Zuschauern Platz.

Am 200. Geburtstag von Vatroslav Lisinski (getauft als Ignaz Fuchs 8. Juli 1819 in Zagreb; † 31. Mai 1854 ebenda) fand am 28. März 2019  eine konzertante Aufführung der im Konzertsaal Vatroslav Lisinski seine Oper Porin in Gänze am Zagreber Nationaltheater statt, nachdem es nur wenige Tondokumente vorher gab (1944, 1958 und 1980, davon nachstehend mehr). Das beschwingte Thema der Ouvertüre ist  dank der Erkennungsmusik des gleichnamigen kroatischen Musikpreises in Kroatien sehr populär, doch die Oper bietet viel mehr, vielleicht das Beste, was Lisinski in seinem kurzen Leben zu schreiben vermochte. Die Oper, die von einem Ereignis aus der frühen Geschichte der Kroaten in Dalmatien inspiriert ist, als sie gegen die fränkische Besatzung rebellierten, ist geprägt von beeindruckenden Arien, Romanzen, Chören und einer stilistischen Dualität, die die Konfliktparteien stark hervorhebt. Der größte Teil entstand während der Ausbildung des Komponisten in Prag; Lisinski vollendete den Rest nach seiner Rückkehr nach Zagreb, fünf Jahre nach Liebe und Bosheit, seiner ersten Oper, im Jahr 1851. Allerdings erlebte er die Premiere nicht. Seine romantische Oper in fünf Akten wurde erst 43 Jahre nach seinem Tod uraufgeführt.

Lisinskis „Porin“: Sena Jurinac als Gräfin Sidonia Erdoedy/Rubio-Film

Vatroslav Lisinski gilt als als Mitbegründer der Illyrischen Bewegung, der Rückbesinnung auf kroatisches Kulturerbe. Sie entstand als Antwort auf Repressionen seitens des bedrängenden Ungarn. Angeregt von der Illyrischen (i. e. nationalistischen) Bewegung kroatisierte er seinen Namen. Er studierte in Zagreb (Agram) Philosophie (1837–40) und Jus (1840–42) und nahm privaten Musikunterricht (bis 1837 bei Juraj Sojka und bis 1847 bei Georg [Juraj] Karl Wisner von Morgenstern). Er übersiedelte nach Prag, wo er aber für das Konservatorium bereits zu alt war und 1847–50 weiterhin privat studierte (bei K. Fr. Pitsch und Johann Friedrich Kittl). 1842–47 hatte L. einen unbezahlten Posten als Beamter, 1850–52 als unbezahlter Organisator, Dirigent und Mitglied eines Komitees, das die neuen Statuten des Zagreber Musikvereins vorbereitete. Da er von Klavierunterricht und gelegentlichen Zuwendungen nicht leben konnte, gab er das Komponieren auf und wurde 1852 fester Beamter. Seine Werke im Stil der Frühromantik erinnern an tschechische und kroatische Volksmusik.  (Österreichisches Musiklexikon)

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Das Libretto der Oper Porin wurde von einem Ereignis aus der frühen Geschichte der Kroaten in Dalmatien inspiriert, das von Konstantin Porphyrogenet (De administrando imperio) im 10. Jahrhundert aufgezeichnet wurde, als unter der Führung von Kiez Porinus (in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts) die Kroaten sich gegen die grausame fränkische Regierung und ihre Führung auflehnten. Der Anführer/Stammesfürst Kocelin befreite sich von diesem Joch und ließ sich taufen.

Linsinskis „Porin“/ Szene aus der Aufführung in Ossijek/OBA

Die Vorlage wurde von Josip Car nach der Idee von Albert Ognjan Štriga verfasst und anschließend von Dimitrija Demeter, der stets als Autor des Librettos genannt wird, überarbeitet. Die Instrumentierung wurde von J. K. Wisner Morgenstern, Lisinskis Musiklehrer, angepasst.

Dimitrija Demeter  modifizierte die historischen Daten und fügte – wie üblich – der Geschichte von Porfirogenet eine Liebesgeschichte hinzu. Den vorliegenden Unterlagen zufolge schickte Demeter das Libretto mehrfach an Lisinski nach Prag, so dass er zum Zeitpunkt der Komposition des ersten Teils keinen Einblick in die gesamte Handlung hatte, und hier sehen einige Theoretiker die Ursachen dafür dramaturgische Mängel dieser Oper.

Wie ihre Vorgängerin ist also auch Porin, und damit die vorhergehende kroatische Oper, das Produkt eines jüdischen Komponisten und eines griechischen Dichters, also eigentlich gar nicht kroatisch, zumindest nicht ethnisch. In Anbetracht der Tatsache, dass das Werk eine Hommage an Meyerbeer sein soll, ist es schwer zu sagen, ob das fertige Produkt nicht tatsächlich eher ein Beispiel für jüdische als für kroatische Kunst ist.

Porin sollte das kroatische Äquivalent zu einer großen Meyerbeer-Oper sein, hatte aber nie wirklich eine Chance, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen, da es erst Jahrzehnte nach dem Tod des Komponisten uraufgeführt wurde und sein Stil zu diesem Zeitpunkt bereits veraltet war.

Lisinskis „Porin“: Aufführung der Oper Porin , HNK Zagreb, 1949 Abteilung für Geschichte des kroatischen Theaters HAZU, Theatersammlung, Porin 1949

Dazu die Musikwisenschaftlerin  Vjera Katalinic: „In Bezug auf die Oper Liebe und Bosheit zeigt Porin den Fortschritt des Komponisten bei der Beherrschung musikalischer und technischer Fähigkeiten, bei der dramaturgischen Entwicklung der Charaktere und des Chors sowie bei der Wahrnehmung des Nationalen. Dennoch ist der in einem solchen Werk zu erwartende unvermeidliche Widerstand von Kroaten und Franken durch die Abschwächung der negativen Eigenschaften des Feindes erheblich geschwächt: Der Hauptschurke ist hier zwar Kocelin, aber am Ende vergibt er auch seiner Schwester und bereut; Irmengarda schenkt Zorka großzügig ihr Leben, und ihr Geliebter Soma opfert sich. Und selbst das Volk freut sich nicht über den Sieg über die Franken, sondern deren Niederlage tut ihm leid. Verwirklicht wird dies nach dem Prinzip des Stildualismus zwischen dem virtuosen, konzertanten Schwung in den französisch orientierten Teilen (besonders in den anspruchsvollen Partien von Irmengarde). ) einerseits und andererseits durch die naive Einfachheit der Melodie und Phrasierung, die gelegentlich dem Folklore-Idiom nahesteht. Dies alles ergänzt durch eine raffinierte Instrumentierung, wobei Sveslavs Arie im Kerker „Strogi“/„Vater im Himmel“ bemerkenswert ist., auch der lyrisch transparente und archaische Refrain von „Hrvatica“ „Alles ist weiß“ mit Reminiszenzen an die Modalität und auch  Porins lyrische Romanze „Zorko moja“.

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Lisinskis „Porin“: Josip Gostic sang 1958 die Titelrolle und ist zugleich auf der einzigen Aufnahme der Oper vertreten/Wikipedia

Die Handlung ist der frühen kroatischen Nationalgeschichte entnommen. Das fränkisch besetzte Kroatien, irgendwann zwischen 823 und 830 n. Chr. Die Story dreht sich um Kocelin (Bariton), den fränkischen Statthalter von Kroatien, und seine ältere Schwester Irmengarda (Sopran), die in unerwiderter Liebe zu dem kroatischen Adligen Porin (Tenor) lebt, der wiederum in die kroatische Prinzessin Zorka (Sopran) verliebt ist, die Tochter des kürzlich verstorbenen Fürsten Ljudevit Posavski und Enkelin des alten Sveslav (Bass). Als Kocelin versucht, die kroatischen Adligen zu täuschen, indem er sie zu einem Fest einlädt, bei dem er sie alle ermorden will, um sich all ihre Ländereien anzueignen, warnt Irmengarda ihren geliebten Porin vor dem Komplott, und keiner der Adligen erscheint zu dem Fest. Sveslav und Zorka werden verhaftet und eingekerkert, doch Irmengarda befreit Zorka. Am Ende versucht Irmengarda, ihren im Sterben liegenden Bruder zu trösten, der sie verflucht, weil sie das Komplott gegen die Kroaten aufgedeckt hat. Porin besiegt die Franken, wird mit Zorka wieder vereint, und Irmengarda begeht aus Scham Selbstmord.

.Für eine Oper, die nach dieser Tenorrolle benannt ist, ist dies eigentlich eher eine Sopranoper. Irmengarda ist offensichtlich die Hauptfigur, oder zumindest diejenige, die die meiste Sympathie des Komponisten genießt und mit bemerkenswerter Musik versehen ist. Porin bekommt zwar zwei eindrucksvolle Arien im zweiten und dritten Akt, ist aber ansonsten dramaturgisch eine eher unbedeutende Figur. Seine Ablehnung von Irmengarda kann nur darauf zurückgeführt werden, dass er gegen die Franken  sein muss, da ihre unerwiderte Liebe das Motiv ist, was das Herz des Zuhörers mehr als alles andere in der Oper rührt.

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Seine beste Musik in der Partitur schreibt Lisinski auch für das Geschwisterduo, das die Bösewichte des Stücks sein sollen, während die heldenhaften Kroaten meist eher langweilig bleiben. Vielleicht wird der Titel dadurch gerechtfertigt, dass er von der interessanteren Figur der Irmengarda geliebt wird. Zorka ist vergleichsweise eher eine Projektion Kroatiens , eine theatralische und patriotische Idealisierung dar. Ihr Großvater ist da menschlicher, vor allem im vierten Akt mit seinem Gebet und dann in der Interaktion mit Irmengarda, bevor sie freigelassen werden. Die Idealisierung von Zorka kann das Finale des dritten Aktes (in dem Porin über ihre Gefangenschaft trauert) bestenfalls rührend erscheinen lassen.

Lisinskis „Porin“: P. Grba als Kocelin 1958/Barbieri

Lisinski versucht sicherlich, die Szenerie als große Oper darzustellen, mit Balletten, großen Chorszenen, symphonischen Schlachten, während er gleichzeitig die intime Zeichnung von mindestens vier der Figuren beibehält. . . (Phil).

Leider wurde Porin nicht zu Lebzeiten des Komponisten uraufgeführt, sondern fast ein halbes Jahrhundert später. Lisinski starb 1854. Als Ivan Zajc 1870 die Kroatische Oper gründete, nahm er sie nicht in das Repertoire auf, verfügte aber über zwei zukünftige Welt-Operngrößen – den Tenor Ivan Denegri, d. h. Giovanni Battista De Negri und Milka Trnina… Darüber kann man nur spekulieren.

Und so heißt es auf dem Cover des Klavierauszugs: „Porin ertönte  zum ersten Mal im Kroatischen Landestheater für den Intendanten Stj. pl. Miletić am 2. Oktober 1897, und Herr Vulaković sang Kocelina; Frau Brückl Irmengard; Porina Herr Cammarot; ein großes Lob an Herrn Aschenbrenner; Frau Zorka Matoušek; Clotilda Fräulein Glivarec und Klodviga Herr Zvonimir Freudenreich. Die Oper wurde vom Operndirektor, Herrn Nikola pl., geleitet. Faller.“  Der Erfolg war sensationell. Klaić schrieb in einer sehr ausführlichen Rezension der Uraufführung in Vijevac am 16. August 1897: „Einige nannten die Oper klassisch; wenn es diesen Namen verdienen würde, dann wegen der völlig korrekten und schönen Harmonisierung, des schönen und regelmäßigen Flusses einzelner Gesangs- und Orchesterstimmen, wegen der korrekten kontrapunktischen Verarbeitung“, und fügte hinzu: „Lisinskis Instrumentierung ist vollkommen richtig, und auch wenn es nicht so großartig ist, wie das moderne Orchester es kennt, so ist es doch immer charakteristisch, ansehnlich, schön – und niemals leer oder eintönig.“  .

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Lisinskis „Porin: Joseip Krizaj/Barbieri

Personen/Partien in der Oper: Die Figur des Porin wurde für den Sänger Franjo Stazić geschrieben, der mit seinen späteren Erfolgen, besonders in den Opern von Meyerbeer, eindrucksvoll seine Eignung dafür demonstrierte. Allerdings war die Rolle eigentlich für einen dramatischen Tenor gedacht, seine beiden Arien sind jedoch von lyrischem Charakter. In Porin verwendete Lisinski eine wichtige Neuheit – das Leitmotiv von Porin, das am deutlichsten in der beliebtesten Passage der Oper, der vielleicht berühmtesten Arie im kroatischen Opernrepertoire, zum Ausdruck kommt – dem Dumki Porins aus dem dritten Akt „Zorko moja , Zorko mila“. Mit dezenter Chorbegleitung und Rezitativ, in dem der junge Held seinem Schmerz Luft macht, ist die Arie in einer harmonischen Verflechtung von Liebesgefühlen zu seiner Geliebten und dem Bewusstsein seiner Kampfmission komponiert. Hier reift Porin als heroischer Charakter heran, und Lisinski bestätigt sich als sehr talentierter Komponist. Selbst der frühe Verdi oder Bellini hätten sich dieser Romanze nicht geschäm! Und während Lisinski mit seiner Ljubica in Ljubava i zlobi größtenteils die Tradition der für den lyrischen Sopran komponierten Figuren fortsetzt, ist es mit Zorka in Porin ist grundlegend anders. Zorka ist die Figur einer jungen Kriegerin, eines Mädchens, das die Freiheit seines eigenen Volkes liebt, aber vor allem dafür kämpft, und den Tod ihres Vaters Ljudevit Posavski rächen will. Ihre Klage zeichnet sich durch melodische Schönheit und Ausdruckskraft aus, sie enthält Trauer und Sehnsucht nach verlorener Freiheit. Die Sehnsucht nach Freiheit wird Zorka in einer brillanten, im Rhythmus der Polonaise geschriebenen, Arie zum Ausdruck bringen, die ihre Figur am besten in das slawische Umfeld einordnet, das dem fränkischen (französischen) in der Oper gegenübergestellt werden sollte. Zorka wird zur treibenden Hauptfigur, sie entwickelt sich logisch, sie ist mutig, unternehmungslustig, bereit, für ihre Liebe zu sterben, am Ende aber auch, sich mit ihrer Rivalin zu verbrüdern. Und es war die Entwicklung ihrer Figur, in der Demeter und Lisinski ihre beste dramatische Leistung zeigten. Der frühe Verdi hat in der europäischen Opernliteratur normalerweise eine solche weibliche Figur, aber er vertraut sie einer dramatischen Sopranistin mit Koloratur an, und die Sublimierung des Charakters der Kriegerin wird Wagner in ihrer Brünnhilde geben, einer selbstbewussten und starken dramatischen Sopranistin. Zorka ist sicherlich die vollständigste und logischste Figur.

Zu Lisinskis „Poirin“/Branka Stilinović/ Foto Opernhaus Zagreb

Irmengard ist schwer zu bestimmen. In ihrer Liebe zu Porin gibt es kein Verlangen nach Besitz, in ihrer Liebe zu ihrem Bruder nimmt sie die ganze Schuld auf sich, in ihrer Beziehung zu ihrem Rivalen gibt es keinen Hass, aber ihre Versuchung ist eine weitere Bestätigung ihrer Liebe zu Porin, also ist alles nur und ausschließlich ein edler Drang. Schließlich ist ihr Tod selbst ein Opfer. Ihre Arie der Erwartungen ist voller Vornehmheit und Wärme, aufrichtiger Liebe zu Porin, sie ist harmonisch reich und enthält schwere, aber wirkungsvolle Koloraturen, die ihrem Sopran eine besondere Farbe verleihen. Auf Irmengardes Arie folgt unmittelbar ihr Duett mit Porin. Beide Charaktere zeigen ihren Adel im größtmöglichen Ausmaß – Porins tiefe Dankbarkeit dafür, dass das fränkische Mädchen ihm das Leben gerettet hat, ohne zu ahnen, dass dieses Gefühl in ihr Liebe erweckte. Obwohl sie gegensätzlichen Seiten angehören, entsteht aus ihrer melodischen  Inspiration und in der Tradition der besten frühromantischen Opernabschnitte zu keinem Zeitpunkt eine Feindschaft. Das Duett zwischen Irmengard und Kocelin, dem Bruder und der Schwester, die sein Vertrauen verraten haben, ist eine der gelungensten Passagen in Porin. Die Schönheit der Melodie verschmilzt wunderbar mit der Orchesterbegleitung mit besonders prominenten Motiven der Violinen und beide drücken die Spannung in den Beziehungen der Charaktere aus.

Mit der Darstellung der Franken steht Lisinski ganz im Sinne der europäischen, insbesondere italienischen, romantischen Oper. Obwohl wir in der Opernliteratur nicht oft eine Heldenfigur finden, die ausschließlich aus edlen Motiven gewebt ist, wie Irmengard, ist ihre musikalische Komposition Bellini, Donizetti oder Verdi am nächsten. Ihre in ihrer Unwirklichkeit schöne Erwartungsarie sowie ein ganz besonderes Duett mit Porin haben mit ihrer Mischung aus Dankbarkeit und Liebe die Reinheit italienischer frühromantischer Heldinnen. Interessant ist die Figur von Irmengards Bruder Kocelin. Durch die Entwicklung der Handlung – durch die Niederlage auf dem Schlachtfeld und die Verwundung in der ersten Szene des vierten Akts, der auch Kocelins dreiteilige Arie enthält, die an italienische Vorbilder erinnert, verwandelt er sich am Ende in einen umsichtigen Bruder der Oper. Ein mutiger und furchtloser Kämpfer vergibt seiner Schwester und stirbt zusammen mit ihr im Akt der Vergebung. Der Vater der Hauptfigur ist fast immer barsch, würdevoll und meist edel. Und er singt die vielleicht schönsten Arien.

Lisinskis „Porin“: Giuorgio Surjan sang in der Aufführung und viel auch in Deutschl
land, so an der Deutschen Oper Berlin(Surjan

Die in allen Analysen anerkannte hervorragende Passage aus der Oper Porin ist die Arie von Sveslav, der hier sogar der Großvater der Hauptheldin ist. Das Cellosolo bringt eine wehmütige Melodie, die die Stimmung von Sveslav und seiner Enkelin Zorka im Kerker zeigt. Sein von Bratsche und Cello begleitetes Gebet trifft den Kern seiner Persönlichkeit und zeigt Lisinski als Spitzenmeister, als Maler der Atmosphäre und des psychologischen Zustands einer Figur. Und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass vor dreißig Jahren ein erfahrener italienischer Musikkenner, als er diese Arie mit unserem Giorgio Surjan an der Scala vorbereitete, von ihrer Schönheit begeistert war. „Die musikalische Atmosphäre, die sich aus diesen Beschreibungen ergibt“, schreibt der Musikwissenschaftler Županović, „ähnelt in ihren Merkmalen der Arie von Ivan Susanjin, die er im vierten Akt von Glinkas Oper Leben für den Zaren singt “.

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In Porin gibt es zwei Trios – das erste aus dem dritten Akt zwischen Irmengarde, Klodvig und Kocelin und das berühmtere aus dem vierten Akt zwischen Zorka, Irmengard und Sveslav. Während Duette in der Opernliteratur sehr verbreitet sind und die Kombinationen sehr vielfältig sind, sind Terzette deutlich seltener, aber die Stimmenkombinationen darin sind sehr interessant. Nach Sopran, Tenor und Bariton im dritten Akt verfügt Lisinski im vierten Akt über zwei Soprane und einen Bass. Irmengard kommt, um Zorkas Liebe zu Porin auf die Probe zu stellen, und als sie von ihrer Stärke und Standhaftigkeit überzeugt ist, lässt sie das Mädchen und ihren Vater frei. Etwas heterogen im Inhalt, mit einem etwas wenig überzeugenden Anfang, gewinnt das Trio im zweiten Teil mit der Leitmelodie von Zorka, aufgebaut auf dem Motiv von Porin, die Kraft des spontanen Ausdrucks und bestimmt dramaturgisch die Handlung: Zorka gesellt sich zu Porin. Irmengard ist ihrer Welt fremd.

Polyphone Formen sind weder in der slawischen Musik noch in der europäischen Opernmusik im Allgemeinen besonders verbreitet. Quartette sind recht häufig, Quintette, Sextette und Septette kommen jedoch nur gelegentlich vor. Umso überraschender ist es, dass ein Komponist ohne Opernerfahrung bereits in seiner ersten Oper ein Quintett komponiert. In Porin gibt es kein Quartett, kein Quintett, kein Sextett, dafür aber ein Septett, mit dem die Oper endet. Der Chor nimmt daran teil, die Solisten stehen jedoch im Vordergrund. Gegen ein solches Ende der Heldenoper gab es Einwände, die im ideologischen Sinne akzeptiert werden konnten, so dass Mladen Bašić in seiner Adaption von 1954 die Oper mit „Davorija“ beendete, einem absoluten Rausschmeißer. Aber musikalisch gehört dieses Septett zu Lisinskis schönsten Schaffensmomenten. Es zeigt ihn als Meister einer recht komplexen Gesangsform – denn Septette sind in der Oper sehr selten – was wiederum seine Subtilität beim Zeichnen bestätigt die psychologischen Zustände der Charaktere, eine „ideale Synthese aus technischem Ausdruck und unmittelbarer Inspiration“.

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Niksa Bareza dirigierte „Porin“ mehrfach/Nationaltheater Zagreb

Nicht vergessen soll man den Chor der kroatischen Frauen, der sich mit der größten Opernkomponistin der Welt messen konnte, insbesondere aus der Romantik, also praktisch aus dem 19. Jahrhundert. Allein die Idee, dass der Gesang des versklavten Volkes nur durch Frauenstimmen zum Ausdruck gebracht wird, verdient Aufmerksamkeit. Lisinski orientierte sich dieses Mal an den Versen von Demeter und bereicherte sie mit einer warmen Melodie, der Frucht der originellsten Inspiration mit einer raffinierten Atmosphäre typisch kroatischer Melos. Der Atmosphäre nach behält das versklavte Volk den Glauben an die Freiheit, die eines Tages kommen muss, und aufgrund seiner Einfachheit, die die größte und elementarste Wirkung hat, könnte dieser Chor der Kroaten aus Porin dem berühmten Chor der versklavten Juden von Verdi am nächsten kommen, aus seinem 1842 uraufgeführten Nabucco? Es gibt keine Hinweise darauf, dass Lisinski ihn kannte! Der letzte Akt zeigt Passagen, die für jede Oper sehr charakteristisch sind. Sehr oft, insbesondere in Opern mit historischem Inhalt, aber auch in anderen, ist das gesamte Ensemble daran beteiligt, und sie haben Konzertcharakter mit einer Harmonie der Stimmen in einem wunderschönen melodischen Bogen.  Erst ein Aufruf zum Kampf, Heimlichkeit und Ungewissheit, Ungeduld und der feste Entschluss, das Finale zu beginnen, dann das Trio des Protagonisten mit einer lyrischen und raffinierten Atmosphäre unter Verwendung polyphoner Technik und schließlich das homophone Allegro mit dem Text „Wer zu sterben weiß, ist frei“ und der Höhepunkt mit dem Leitgedanken der gesamten Oper „Ja, Freiheit oder das Grab, tot ist besser als ein Sklave.“

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Zu Lisinskis „Porin“: Aufführung der Oper Porin , HNK Zagreb, 1949 Abteilung für Geschichte des kroatischen Theaters HAZU, Theatersammlung, Porin 1949

Porins Partitur zeigt zum Besten, wie viel musikalisches Wissen Lisinski in Prag erworben hat. „Liebe und Bosheit“ war ein talentierter Versuch, Porins die vollendete Oper, die gleichrangig neben der europäischen Opernproduktion der Zeit steht (mit Ausnahme der Großen Verdi und Wagner). Einen schöneren Frauenchor als den Hrvatica-Chor lässt sich in der gesamten slawischen (und nicht nur slawischen!) Opernliteratur kaum finden, und die Arie des Sveslav mit ihrer besonderen Instrumentalbegleitung dürfte zu den schönsten Bassarien überhaupt gehören. Das Finale des zweiten Akts findet sich in jeder großen Oper. Die beiden Tenor-Arien aus dieser Zeit stehen ähnlichen nicht weit hinterher, Zorkas Polonaise ist eine gekonnt komponierte Virtuosenarie, die Ensembles sind meisterhaft konzipiert und die Verwendung des Leitmotivs sowie die sehr seltene Form des Septetts mit Chor sowie die gut ausgebaute Ouvertüre und das Gespür für die Dramatik der Musikszene zeigen Lisinski als einen überaus begabten und guten frühromantischen Opernkomponisten, dem es gelang, die Schönheit des Belcanto mit slawischer Wärme zu verbinden. Er blieb sein eigener und erkennbarer Komponist, tief verwoben mit dem kroatischen Nationalwesen, ein wahrer Vertreter des kroatischen nationalen musikalischen Ausdrucks. In formaler Hinsicht respektierte er die Tradition der großen Oper mit fünf Akten und dem ersten Höhepunkt am Ende des zweiten Akts, er widersetzte sich aber auch dieser Tradition, da er kein Ballett- Divertissement einführte.

.Und man kommt nicht umhin, sich  zum x-ten Mal erneut zu fragen: Wo wäre die kroatische Musik, insbesondere die Oper, wenn Porin in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgeführt worden wäre und nicht erst Ende des 19. Jahrhunderts!

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Verbreitung/Dokumente: Porin etablierte sich fest im Repertoire der Zagreber Oper, erlebte aber auch verschiedene Veränderungen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde es mehrmals überarbeitet, wurde von den größten kroatischen Künstlern dirigiert und inszeniert und die sehr schwierige Titelrolle wurde von größten Tenören Kroatiens gesungen. Nikola Faller (1862-1938) kürzte die Oper für die Uraufführung, „verzichtete auf unnötige Verzierungen und Wiederholungen“, wie Vjekoslav Klaić schreibt, und entfernte das erste Bild des vierten Akts – die große dramatische Szene von Kocelin. Er trat in der Saison vierzehn Mal auf. Der glänzendste Auftritt fand am 23. Oktober 1897 statt, als der 50. Jahrestag der Einführung des Kroatischen als Amtssprache gefeiert wurde.

Lisinskis „Porin“: Natürlich noch einmal die wunderbare Sena Jurinac im Film „Lisinski“ 1944/Rubio

Nach der posthumen Premiere 1897 gab es noch weitere Aufführungen von Porin, so anlässlich des 60. Todestages von Lisinski 1914, dann anlässlich der Hundertjahrfeier der Eröffnung des Theaters am Markovo  Platz am 4. Oktober, 1934. Die Oper wurde nie vollständig aufgenommen, stattdessen wurden zweimal verschiedene Ausschnitte veröffentlicht (u. a. ca. 58 Minuten mit Ausschnitten aus den Akten 3, 4 und 5, aufgenommen 1980, und 52 Minuten mit Ausschnitten aus allen fünf Akten, aufgenommen 1958), darunter weniger als eine Stunde der Musik, sowie eine jugoslawische Verfilmung von 1967, die mit anderthalb Stunden Länge zumindest die gesamte Handlung der Oper wiedergibt.

Zu den Höhepunkten der Yugoton-LP-Aufnahme von 1958 (die inzwischen zur 200. Jahrfeier wieder als CD bei Croatia erschien) gehören die Ouvertüre, die Einleitung zum ersten Akt, die Arie für Irmengarda im ersten Akt und ihr Duett mit Porin, der Eröffnungschor der kroatischen Frauen und das Finale des zweiten Akts, das Finale des dritten Akts mit der Arie für Porin, die Gefängnisarie für Sveslav im vierten Akt und die Chor-Tanz-Schlussnummer im fünften Akt.

Die TV-Höhepunkte von 1980 stammen ausschließlich aus den letzten drei Akten, darunter das Duett zwischen Irmengarda und Kocelin, die Arie und das Finale für Porin im dritten Akt, die symphonische Schlacht in der ersten Szene des vierten Akts sowie die Arie für Sveslav und das Trio mit den beiden Frauen in der folgenden Szene, gefolgt von einer etwas längeren Wiedergabe des fünften Akts (mit dem, was am Ende die Ouvertüre zu sein scheint, oder möglicherweise ein Ballettteil).

Im Rahmen des Zyklus des Kanconijer-Chores und des HRT-Symphonieorchesters fand am 28. März 2019 eine konzertante Aufführung von Porin im Konzertsaal Vatroslav Lisinski statt. Chor und Symphonieorchester des HRT (Pavle Dešpalj, Dirigent; Ljubomir Puškarić, Bariton; Kristina Kolar, Sopran; Stjepan Franetović, Tenor; Luciano Batinić, Bass; Evelin Novak, Sopran; Irena Parlov, Mezzosopran), das nun gibt es nur akustisch bei youtube.

2016 führte das Nationaltheater Ossijek die Oper komplett auf (Dalibor Hanzalek, Tamara Franetović Felbinger, Domagoj Dorotić, Marijana Prohaska, Dirigent Mladen Tutavac).

Im Juli 2015 gab es eine Aufführung in der Vatroslav-Lisinski-Konzerthalle in Zagreb, diese wurde im TV-Studio aufgezeichnet mit dem Chor des Kroatischen Rundfunks und dem  Symphonieorchester des Kroatischen Rundfunks sowie die Gesangssolisten Evelin Novak, Leon Košavić, Domagoj Dorotić und Giorgio Surian , sowie Mario Bokun und Stefano Surian in den Nebenrollen. Die Leitung hatte Mladen Tarbuk. 1968 dirigirte Niksa Bareza die Oper in Zagreb Noni Žunec, Nada Ruždjak, Franjo Petrušanec, Franjo Lovrić, Branka Stilinović), (auch dieses in grauer Gräue bei youtube).

Die Aufführung von 1958 bietet Solisten und Orchester der Oper in Zagreb. Während die orchestrale Leistung durchaus zu überzeugen weiß, sind die Sängerinnen und Sänger nicht ganz einheitlich in ihren Gestaltungsmöglichkeiten.

Dazu dieses als Tondokument Auszüge von 1958 mit Josip Gostic (Porin), Franco Lovric (Kocelin), Mirka Klaric (Irmengarda), Dragutin Bernardic (Sveslav), Mira Stor (Zorka), Chor und Orchester der Oper Zagreb, Miladen Basic, Dirigent; 1 CD Croatia Records CD 6089208; Aufnahme 1958; Neuveröffentlichung 12/2019 (53’00) Eine kritische Ausgabe der Partitur von 1919 ist in der Petrucci Library erhältlich. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge in unserer Serie Die Vergessene Oper findet sich auf dieser Serie hier.

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Marija Barbieri, kroatische Musikwissenschaftlerin und Autorin

Wie stets hat ein Artikel mit vielen Quellen fremdsprachiger (diesmal amerikanischer und kroatischer Herkunft) viele Autoren, deren Informationen zum Teil mühsam zu besorgen waren. Vor allem bin ich Marija Barbieri, der Doyenne der kroatischen Musikjournalisten, verpflichtet, deren langer Einführungstext in KLASIKA.hr, 1. Oktober 2019 mir sehr geholfen hat. Spannend ist auch der wirklich gute Text von Phil´s Opera World, der die verbleibenden Tondokumente aufdröselt. Eine Einführung bietet auch die Rezension zur Aufführung 2019 von Uwe Krusch auf der Platform Pizzicato und natürlich auch die vielen vaterländischen Einträge in Lexika und Würdigungen. Aber wieder einmal verwundert, dass es keine brauchbare CD-Ausgabe dieser National-Oper gibt, darin gleicht Kroatien eben anderen Ländern wie Griechenland oder Bulgarien. Nix nationales Erbe. Geerd Heinsen

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

Mozart aus Covent Garden

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Eigentlich mag ich es nicht, wenn die Ouvertüre „bespielt“ wird; beim ersten Blick auf die Bühne des Royal Opera House war ich jedoch positiv überrascht. Zur vom fabelhaften Orchester unter Antonio Pappano passend flott servierten Nozze-Ouvertüre sieht man in einen großen Saal eines offensichtlich hochherrschaftlichen Schlosses, in dem zunächst eine ältere Frau vom Bedienungspersonal einsam den Boden feudelt. Sodann laufen jede Menge Bediensteter beiderlei Geschlechts geschäftig durch den Saal, albern herum und  ziehen sich zurück, wenn die reichlich murkelige Kammer für Figaro und Susanna auf die Bühne geschoben wird. Per Blu-ray Disc kann man die inzwischen bewährte und beliebte, schon 2006 erstmals gespielte Inszenierung von David McVicar in einem Mitschnitt vom Januar 2022 erleben, die erfreulicherweise auf jede zwanghafte Modernisierung verzichtet. Da kann man verschmerzen, dass sich alles, auch das sonst im Schlosspark verortete Versteck- und Verwechslungsspiel des letzten Aktes im großen Saal abspielt, in den dann herbstliche Blätter vom Bühnenhimmel segeln. Im Übrigen trägt zur durchgehend quirligen Inszenierung bei, dass auch die Rezitative ausgesprochen lebendig gestaltet werden und immer wieder Bedienstete auftauchen, die neugierige Blicke auf das Treiben der Hauptfiguren werfen. Die ansehnlichen, geschmackvollen Kostüme aus dem Anfang des 19. Jahrhundert passen zum Ambiente (Ausstattung: Tanya McCallin).

Musikalisch ist alles wie aus einem Guss, wofür der auch am Hammerklavier souveräne Antonio Pappano sorgt. Das überwiegend junge Ensemble singt und spielt in Hochform: Über einen typischen Basso cantabile mit markigem Timbre verfügt Riccardo Fassi, den er als munterer Figaro flexibel durch alle Lagen führt. Ebenso sehr beweglich in Gesang und Spiel ist als seine Susanna Giulia Semenzato, die mit blitzsauberem Sopran die Ensembles überstrahlt und die anrührend gestaltete  „Rosen-Arie“ in all ihrer Lyrik auskostet. Eine Contessa der Extraklasse ist Federica Lombardi, die wunderbar feines piano präsentiert und durch ruhige Stimmführung der Melodiebögen in allen Lagen, auch mit den überraschenden Echowirkungen in der großen Arie des 3. Aktes begeistert. Mit hellem Bariton tritt der Argentinier Germán E. Alcántara als leidenschaftlicher, aufbrausender Conte auf, der die Verzeihungsbitte am Schluss traumhaft schön aussingt. Die Polin Hanna Hipp ist mit hellem, geschmeidigem Mezzo ein gelenkiger Cherubino; mit gut durchgebildetem, kräftigem Bass gefällt Gianluca Buratto als Bartolo. In den kleineren Partien gefallen Monica Bacelli mit charaktervollem Mezzo als Marcellina, Alexandra Lowe als temperamentvolle Barbarina und Gregory Bonfatti klarstimmig als eitler Don Basilio. Bewährt ergänzen Jeremy White (Antonio) und Alasdair Elliott (Don Curzio); gut ausgewogen klingt der Chor in seinen wenigen Aufgaben (William Spaulding). Insgesamt macht die Aufnahme aus London einfach Spaß und ist musikalisch ein Genuss (OABD7304D). Gerhard Eckels

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Viele wechselnde Besetzungen haben die drei Da-Ponte-Mozart- Opern bereits seit ihrer jeweiligen Premiere in Londons Opernhaus Covent Garden erlebt, bei Opus-Arte sind sie in ihren Premierenbesetzungen miteinander vereint und liefern den Beweis dafür, dass man sich als Regisseur durchaus Gedanken über eine wie auch immer geartete „Modernisierung“ machen und diese auch umsetzen kann, ohne das Publikum zu vergrämen. Die Produktionen von Don Giovanni aus dem Jahr 2014 und von Così fan tutte aus dem Jahr 2016 sind Beispiele dafür, Le Nozze di Figaro von 2006 bringt zwar nicht Kostüme aus der vorrevolutionären Zeit auf die Bühne, aber immerhin doch solche, die niemanden im Publikum auf die Idee bringen würden, das ius primae noctis würde auch noch in unseren Zeiten praktiziert.

Kopfschütteln löst in David McVicars Inszenierung höchstens das trübe Kellerloch aus, das dem Brautpaar durch den Grafen zugewiesen und von diesem als der schönste Raum des Schlosses anerkannt, wenn auch aus anderen als ästhetischen Grünen zurückgewiesen wird. Ansonsten amüsieren bereits zur Sinfonia das putzige Treiben der Dienstboten samt Haushofmeister, viele einfallsreiche Details wie zum „Se vuol ballare“ das Stiefelballett, viel Poetisches trotz eines letzten Akts im Saal statt im Park, und am Schluss strahlen alle und das Publikum tobt vor Begeisterung.

Vielleicht ein bisschen zu wohl fühlt sich in der Produktion der Figaro von Erich Schrott, der seinem Affen reichlich Zucker gibt, was sich auch im freien Umgang mit den Rezitativen und nicht nachvollziehbarer Agogik ausdrückt, die letzte Arie allerdings wird sehr kultiviert gesungen, und das Material ist durchweg als ein besonders reiches zu erkennen. Ein blondes Püppchen und allzu brav wirkend ist die Susanna von Miah Persson, erst im Duett mit dem Conte kehrt sie die Kapriziöse heraus, die Rosenarie gelingt sehr empfindsam bei von der Decke herab fallenden Blumenblättern. Ein irrwitziges Tempo muss Rinat Shaham als Cherubino mit seiner ersten Arie bewältigen, mit „Voi che sapete“ wird der hübschen Mezzostimme mehr Raum eingeräumt und entsprechend schöne Farben kann sie ausstellen. Im letzten Akt bleibt ihr ein uncharmanter Auftritt als betrunkener Tölpel nicht erspart. Dorothea Röschmann ist natürlich die Contessa mit cremigem Sopran, die für wunderschöne Ruhepunkte im allgemeinen Trubel sorgt. Ein erfahrener Conte ist Gerald Finley, dessen „Già vinta la causa“ ein Lehrstück an generöser Phrasierung ist, dem maskulinen Figaro auch szenisch ebenbürtig und hörbar Publikumsliebling. In seiner Arie an Würde gewinnt der Basilio von Philip Langridge, dessen durchdringender Charaktertenor für eine tolle Studie eingesetzt wird. An vokaler Präsenz der Susanna im Duett der beiden überlegen ist die Marcellina von Graciela Araya, übercholerisch gibt sich der Bartolo von Jonathan Veira und vernuschelt dabei die Prestissimoteile seiner Rache-Arie. Ana James gibt eine niedliche Barberina. Antonio Pappano sorgt für einen zügigen Ablauf des musikalischen Geschehens, straff und schwungvoll, wie es sich gehört.

Zu viel Mut gehört offensichtlich heutzutage dazu, Donna Anna in Mozarts Don Giovanni Glauben zu schenken, wenn sie von einer versuchten Vergewaltigung durch den Titelhelden spricht. Dabei hat sie in Leporello, der seinen Herrn besser als jeder Regisseur und damit auch als Kasper Holten kennt, einen glaubwürdigen Zeugen, der eindeutig von „sforzare la figlia ed ammazzare il padre“ spricht.   Dem heutigen Klischee entspricht in der Produktion von 2014 auch der trübtassige Don Ottavio, und selbst der Titelheld macht nicht den Eindruck, an weiteren Eroberungen interessiert zu sein, obgleich er immerhin mit Donna Anna noch zu einem weiteren Quickie in einem der vielen Zimmer verschwindet in dem ruinenhaft wirkenden drehbaren Haus, das Es Devlin auf die Bühne gestellt hat und das in wechselnden Farben angestrahlt oder auch beschriftet wird. Angesiedelt ist das Drama in einer Zeit, in der die Herren Zylinder trugen, was für die Damen kostbare Roben ermöglicht (Anja Vang Kragh). Insgesamt herrscht eine düstere Atmosphäre, woran auch eine schöne Nackte, die umhergeistert, nichts ändern kann.

Der polnische Bariton Mariusz Kwiecien singt mit verführerischem Timbre die Titelpartie und lässt sie eher als einen Getriebenen als Selbstbestimmten wirken, was wohl die Absicht der Regie war, die ihm auch eine lange währende Agonie auferlegt. Ein windiger und wendiger Leporello ist Alex Esposito, in dieser Partie auf vielen Bühnen zu Hause und ein Meister des Rezitativsingens. Markant singt Alexander Tsymbalyuk den Commendatore, während Antonio Poli nicht nur darstellerisch zur Blässlichkeit verdammt ist, sondern auch stimmlich außer einem schönen Pianissimo nicht durch besondere vokale Meriten auf sich aufmerksam machen kann. Optisch wie akustisch steif ist der Masetto von David Kimberg, was wohl zumindest, was die Optik angeht, auch so gewollt ist. Rätsel gibt eines der Kostüme von Donna Anna auf: ein rosafarbenes Prachtgewand, über das Schokoladensoße gegossen wurde. Der Sopran von Malin Byström scheint zunächst wenig Durchschlagskraft zu haben, ehe sie mit zwei tadellosgesungenen Arien, in denen sie auch bei den dramatischen Ausbrüchen stets die vokale Facon wahrt, überzeugen kann. Auch eine Contessa zutrauen würde man der Zerlina von Elizabeth Watts, die größte Freude aber bereitet dem Hörer die Donna Elvira von Véronique Gens mit einem Sopran reich an Farben, schön gerundet und zu Ausbrüchen von tragischer Größe fähig. Nicola Luisotti führt sicher durch die durch einige Seltsamkeiten irritierende, insgesamt jedoch interessante und nachdenkenswerte Aufführung.

Wohl nicht ganz verzichten auf die attraktiven Kostüme, die Damen wie Herren zur Mozart-Zeit schmückten, wollte Regisseur Jan Philipp Gloger, und so ließ er seine Kostümbildnerin Karin Jud für ein Verbeugungsdefilee zur Ouvertüre von Così fan tutte im Jahr 2016 kostbare Gewandungen entwerfen und die Zuschauer im Glauben, so könne es dann auch bei geöffnetem Vorhang weitergehen. Dem ist aber nicht so, denn wenn das Spiel beginnen soll, stürmen die wahren Protagonisten aus dem Zuschauerraum auf die Bühne, in moderner Kleidung, und anstelle von Frühstücksschokolade wird es Whisky, anstelle eines Schiffs eine Eisenbahn und anstelle von Briefen Smartphones geben. Aus Da Pontes Così fan tutte wird irgendwann ein Così fan tutti, und damit hat einmal mehr Gendergerechtigkeit Einzug auf die Opernbühne gehalten. Dabei verfällt jedoch Bühnenbildner Ben Baur nicht in die Sünden eines German Trash, sondern schafft viel den Augen Gefälliges wie eine Paradiesinsel mit schillernder Schlange. Auch die Personenregie erweist sich als intelligent und ausgewogen, weil weder das Werk noch den (guten) Publikumsgeschmack verletzend.

Wenn einem das Werk als mit Wagnerlänge geschlagen erscheint, dann liegt das am Dirigat von Semyon Bychkov, der sich allzu behäbig durch die kostbare Partitur bewegt. Die Sänger machen durch die Bank viel Freude, allen voran der deutsche Tenor Daniel Behle mit einer hochpoetischen Aura amorosa und einem bewegenden Tradito. Vor fünf Jahren war er, inzwischen bereits ein Lohengrin, ein idealer Mozarttenor mit atemberaubenden Pianissimi und einer berückenden Stilsicherheit. Farbig und geschmeidig ist der recht dunkler Bariton von Alessio Arduini, der den Guglielmo singt, auch mal ein Tänzchen wagt der agile Don Alfonso von Johannes Martin Kränzle. Einen warmen, runden Sopran kann Corinne Winters für die Fiordiligi einsetzen, die des Griffes zum Schnapsglas für die Bewältigung von Come scoglio eigentlich nicht bedarf. Recht hell und deshalb in den Duetten kein echter Kontrast zu ihr ist die Stimme der Dorabella von Angela Brower, beide spielen einfach hinreißend.  Sabina Puértolas ist als Despina eine Stütze eher an der Bar als im Haushalt, allerdings mit hohem Eigenbedarf und –verbrauch, vokal durchaus zufriedenstellend.

Alle drei Produktionen setzen neue Akzente, ohne die Werke zu entstellen oder den Zuschauer zu verstören, und bieten gute Unterhaltung auf hohem musikalischem Niveau (Opus arte 1275/ Foto https://www.da-ponte-stiftung.de/). Ingrid Wanja