Akkordeon statt Klavier

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Wird ein Liederzyklus so oft aufgeführt und eingespielt wie Franz Schuberts Winterreise, nehmen die Begehrlichkeit zu, es mal ganz anders zu machen. Der neueste Schrei ist eine Version für Bariton, Chor und zwei Akkordeons, erschienen bei Genuin (GEN 23847). Erarbeitet hat sie Gregor Meyer, der Leiter des Leipziger Gewandhaus-Chores, der – wie könnte es auch anders sein – an der Einspielung beteiligt ist. Nach der Sinnhaftigkeit fragt die Autorin des Booklet-Textes Katharina Rosenkranz, die nach Angaben der Herausgeber auch das Cover gestaltet hat. Sie leitet das Chor-Büro. „Das Sololied wird hier zur Chorliteratur und tritt aus dem vollkommen kammermusikalischen Raum heraus auf ein größeres Konzertpodium.“ Es würden neue Aufführungsmöglichkeiten und ein weiterer Publikumskreis erschlossen, so die Autorin, die auf ein begeistertes Publikum bei Live-Vorstellungen der Bearbeitung verweist. Die Akkordeon-Begleitung – ursprünglich war nur ein Instrument vorgesehen – dränge sich geradezu auf. Als Beispiel führt die Autorin „die froststarren, etwas windschiefen Töne des Leiermanns“ an, die mit dem Akkordeon, das sich auf der Wanderung auch leichter schultern lasse, „natürlich deutlich authentischer“ klängen als mit dem „kultivierten Klavier“.

Solist ist der Bariton Tobias Berndt, der bei Hermann Christian Polster, einem namhaften Leipziger Sänger mit Schwerpunkt Bach, studierte. Zudem kann er auf Dietrich Fischer-Dieskau, der sich während seiner langen Kariere immer wieder intensiv mit der Winterreise auseinandergesetzt hat, als Lehrer verweisen. Er bestreitet den Einstieg mit seinem wohlklingenden Bariton und bester Wortverständlichkeit zunächst allein. Beide Akkordeons, die von Heidi und Uwe Steger sehr virtuos gespielt werden, geben den Marschrhythmus vor. Ist der Sänger an der Stelle angelangt, wo „ein Mondesschatten als mein Gefährte“ mitzieht, stimmt der Chor vokalisiert ein unheimliches Echo an, um schließlich selbst die Worte zeitlich etwas versetzt zu wiederholen. Musikalisch ist das wirkungsvoll gemacht. Eine inhaltliche Vertiefung findet nicht statt. Allenfalls wird die Winterreise illustriert und aufgehübscht. Es ist also nachvollziehbar, dass diese Bearbeitung bei einem mit dem klassischen Liedgesang weniger vertrauten Publikum besonders gut ankommt. Für das folgende Lied simuliert der Chor den Wind, der mit der Wetterfahne „auf meines schönen Liebchens Haus“ spielt und singt auch gleich die erste, die Situation beschreibende Gedichtzeile, um in dem Moment vom Solisten abgelöst zu werden, wenn dieser als lyrisches Ich in Erscheinung tritt. Eine sinnvolle formale Lösung, die sich aber nicht konsequent durchsetzt. Vieles bleibt im Fortschreiten des Werkes ehr zufällig und damit mehr der Wirkung als der Aussage verpflichtet. Der Sänger ist bis auf Ausnahmen – wozu Rückblick und breits erwähnte Der Leiermann gehören – weitgehend ohne Chance, den Zyklus selbst zu einem Ganzen zu formen. Er wird als eine Art Vorsänger Teil des höchst professionell agierenden Chores, dem eigentlichen Star dieser Produktion.

Dem Liedgesang ist eine weitere Neuerscheinung bei Genuin gewidmet, die sich im Vergleich mit der Winterreise ausgesprochen konventionell ausnimmt: Die schöne Magelone von Johannes Brahms (GEN 23844). Gesungen werden diese fünfzehn Romanzen aus der Erzählung Ludwig Tiecks von Tomas Kildišius, einem noch jungen aus Litauen stammenden Bariton, der sowohl auf Konzertpodien als auch auf Opernbühnen anzutreffen ist. Begleitet wird er am Klavier von der gebürtigen Armenierin Ani Ter-Martirosyan. Die Schauspielerin Jannike Liebwert umrahmt die Lieder mit Tieck-Texten, die die notwendigen inhaltlichen Zusammenhänge schaffen. Dadurch ist ein größeres Verständnis gewährleistet. Ursprünglich war das vom Komponisten so nicht gedacht. Doch schon bei der ersten Aufführung durch den Sänger Julius Stockhausen, dem der Liederzyklus gewidmet ist, stellte sich heraus, dass das Publikum den aus dem Zusammenhang gerissenen Romanzen, die immer wieder Bezug zur Prosa-Erzählung nehmen, nicht gut folgen konnte. Kildišius ist gut beraten, sich als Liedersänger weiter zu profilieren – eine erfreuliche Tendenz, die auch bei anderen Solisten seiner Generation auffällt. Im Booklet ist zu lesen, dass er „besondere Aufmerksamkeit auf die Artikulation und Klarheit des Textes“ lege. Damit sind wichtige Voraussetzungen angesprochen, um in diesem Genre dauerhaften Erfolg zu haben. Auf der CD ist das entsprechende Bemühen deutlich zu spüren, bleibt aber noch ausbaufähig. Rüdiger Winter