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Elektra auf der Bühne ohne Strich? Eine Neuerscheinung von Sterling (CDA-1867/1868-2) weckt eine falsche Hoffnung. Der Box mit dem Mitschnitt des Strauss-Einakters vom 4. Mai 1996 aus dem Königlichen Opernhaus Stockholm liegt ein Libretto mit dem kompletten Text der großen Szene zwischen Elektra und Klytämnestra bei. „Was bluten muss? Dein eigenes Genick, wenn dich der Jäger abgefangen hat!“ Im Original folgte darauf eine Flut von Gewaltfantasien, mit denen die gedemütigte Tochter die Mutter konfrontiert. In der Praxis wird diese Stelle auf etwa ein Drittel zusammengekürzt – auch, um die Solistin zu schonen. Die unerschütterliche Birgit Nilsson hat den Strich im Decca-Studio gemeinsam mit dem Dirigenten Georg Solti aufgemacht und damit dieser Aufnahme einen einzigartigen Stempel aufgedrückt. In Stockholm wurde das Experiment durch Laila Andersson-Palme, die 1941 geborene Landsmännin der Nilsson, aber nicht wiederholt. Track 11 der ersten CD ist offenbar irrtümlich der vollständige Text zugeschlagen worden. Gesungen wird er nicht. Muss er auch nicht zwingend. Denn in der Kürze spitzt sich die Situation viel rascher und damit auch wirkungsvoller zu.
Der Mitschnitt in breitem Stereo hält eine höchst spannende Aufführung fest, mit der die Sängerin der Titelpartie Abschied von der ersten Opernbühne ihres Landes nahm. Noch bevor das Orchester zu Beginn wie ein Beil niederfährt, ist ein gellender Schrei zu vernehmen, auf den man auch als Hörer nicht gefasst ist. Es kann nicht schaden, vorsorglich den Lautstärkepegel abzusenken, denn es bleibt nicht bei einem Schrei. Siegfried Köhler ist am Pult auch nicht eben zimperlich und dirigiert eine insgesamt dramatisch aufgeheizte Vorstellung mit vielen rasanten Akzenten der Blechbläser, die man so noch nicht zu vernehmen glaubte. Er war damals Hofkapellmeister in Schwedens Hauptstadt. Für Laila Andersson-Palme fand eine lange und erfolgreiche Karriere ihren fulminanten Abschluss. Sie hatte etwa hundert Rollen gesungen und war Mitte fünfzig. Obwohl gewisse Verschleißerscheinungen nicht zu überhören sind, gelingt ihr mit Professionalität und Erfahrung ein eindrucksvolles mitleidsvolles Porträt der Königstochter, die ihr Dasein im Hinterhof bei den Hunden fristen muss. Alle anderen einheimischen Mitwirkenden sind stimmlich bestens disponiert: Gunilla Söderström (Klytämnestra), Anita Soldh (Chrysothemis), Gunnar Lundberg (Orest) und Lennert Stregard (Aegisth). Niemand lässt sich zu grellen Übertreibungen verleiten. Der Dirigent achtet wohl auch streng darauf, dass die Oper gesungen und an keiner Stelle gesprochen wird. Alle Mitwirkenden sind gut bis sehr gut zu verstehen sind. Sie bezeugen das hohe künstlerische Niveau an diesem Haus.
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Die schwedische Sopranistin Laila Anderson-Palme sang so gut wie alles. Von der Königin der Nacht in der Zauberflöte bis hin zur Elektra, Salome, Brünnhilde und Ortrud. Dazwischen Lulu, Marschallin im Rosenkavalier, Butterfly, Tosca, Lady Macbeth und die Marie in Bergs Wozzeck. Palme im Doppelnamen rührt von ihrer Ehe mit dem renommierten Schauspieler Ulf Palme (1920 bis 1993) her. In allen Sopranlagen unterwegs, gilt sie als eine der vielseitigsten Sängerinnen. Sterling, das 1980 in Stockholm gegründete Label, hat ihr auch ein Doppelalbum gewidmet (CDA-1806/1807-2). Es ist prall gefüllt, lässt nicht eine Minute frei und bildet die Breite ihres Rollenspektrums ab. Auch Lieder gehören dazu. Allein fünf Titel – darunter Morgen, Meinem Kinde und Die Nacht – stammen von Richard Strauss. Musik aus ihrem Heimatland ist bei der Programmauswahl stiefmütterlich behandelt worden. Gerade mal fünf Liedern sind für Ture Rangström abgefallen, nur zwei für Wilhelm Stenhammar. Beide waren Zeitgenossen von Strauss und haben in Berlin studiert und dort Impulse empfangen, die auch herauszuhören sind. Das Opernrepertoire in der Edition ist ausschließlich deutschen und italienischen Ursprungs. Warum nur? Er wurde eine Chance verpasst, die Sängerin auch mit mehr Werken ihrer Heimat vorzustellen, die im Rest Europas weiterhin unbekannt sind. Offenbar mussten die Herausgeber aber auch an die Verkaufszahlen denken, was verständlich ist. Wagner, Strauss, Verdi, Puccini und Mozart gehen eben nach wie vor besser als schwedische Musik. Selbst wenn sie schwedisch gesungen werden wie das Schlussterzett aus dem Rosenkavalier, die Arien der Königin der Nacht, die Butterfly und die Wozzeck-Marie.
An wen erinnert mich die Stimme von Laila Andersson-Palme? An Anja Silja. Die Höhe ist sehr ähnlich, gleißend, grell, manchmal gar gellend, die Tiefe wenig ausgeprägt. Ihre Faszination ist eine andere. Nämlich diese unerschrockene, ja erbarmungslose Vielseitigkeit, die keine Herausforderung scheut. Auf der Bühne muss das stark gewirkt haben. Teile des Publikums lieben diesen Kitzel, wenn das Scheitern mit einer künstlerisch anspruchsvollen Aufgabe in der Luft liegt. In der Schlussszene der Salome kann das leicht passieren, passiert ihr aber nicht. In der Box ist ein Mitschnitt aus der Deutschen Oper in Berlin vom 27. Februar 1984 unter der Leitung von Heinrich Hollreiser zu finden, in dem sie sich erstaunlich wacker schlägt. Neben Elektra dürfte Salome zu ihren größten Erfolgen gehört haben. Sogar an der Met ist sie damit 1981 in einer Vorstellung nachgewiesen. Auftritte gab es auch an der Wiener Staatsoper, in Rio de Janeiro und in Gelsenkirchen.
Aus der dänischen Stadt Aarhus hat sich das Finale der Walküre mit Leif Roar als Wotan erhalten. Mit gut dreißig Minuten ist es der größte Brocken der Edition – und hinterlässt auch den stärksten Eindruck. Wer Aufnahmen dieses Werkes hinterher ist, wird dankbar sein für diese unverhoffte Ergänzung der Sammlung. Sie ist eine entschlossene Brünnhilde, die ihre stählerne Höhe heftig gegen den zornigen Vater einsetzt wie Peitschen. „Was hast Du erdacht, das ich erdulde?“ Atemlos und gehetzt wirft die Andersson-Palme die Frage hin, dass sich ihre Kritiker wieder versöhnen mit ihr, weil sie der Wahrheit des Moments durch Ausdruck so nahe kommen kann. Diese Edition ist ein Werk der Liebe, nicht des Schöngesangs. Rüdiger Winter