Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Rätselhaft

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Das Cover gibt nichts preis von dem, was diese Aufnahme von anderen erheblich unterscheidet: Konstatin Krimmel singt Die schöne Müllerin von Franz Schubert, erschienen bei Alpha-Classics. Begleitet wird er von Daniel Heide (Alpha 929). Betont umweltschonend fällt die Verpackung aus. Bis auf den eigentlichen Tonträger aus dem hochwertigen Kunstsoff Polycarbonat nur noch Pappe und Papier. Die feine Druckqualität macht etwas her – der photogene Sänger im Halbprofil auch. Heide schlägt ein rasantes Tempo an. Es lässt keinen Zweifel aufkommen, dass gewandert wird. Krimmel muss sich nicht dreinfinden. Er marschiert sofort los. Es wird kein fröhlicher Ausflug. Das ist mit dem ersten Ton klar. Dieser Müllerbursche ist auf dem Weg in den Tod. Der sichere Umgang mit dem Text, der schon immer eine seiner Stärken war, macht den Liedsänger Krimmel aus. Die ruhig geführte Stimme sitzt fest im Körper. Er kommt nie an Grenzen seines Baritons. Mir scheint, er ist im Vergleich mit früheren Einspielungen noch reifer geworden. So kann er alle Ressourcen auf die Gestaltung verwenden. Es dauert nicht lange, bis es anders klingt als man es gewohnt ist und verinnerlicht hat. Darauf soll es wohl auch hinaus.

Zunächst unmerklich, dann immer stärker und auffälliger werden einzelne Wörter mit Koloraturen verziert und fast schon in die Nähe der Oper gerückt. Gleich im ersten Lied gibt es zum Schluss hin auch noch ein zusätzliches „Ja“, das da nicht hingehört und auch dem Text, der sich im Booklet findet, nicht zugeteilt wurde. Der Sänger experimentiert auf subtile Weise mit dem Tempo und dehnt Figuren wie im Lied Am Feierabend bis zum Gehtnichtmehr, um gleichzeitig vorzuführen, wie man noch deutlicher singen kann als er es ohnehin die ganze Zeit über tut. In der Regel bleiben die Lieder im Einstieg unangetastet. Erst im Verlauf bauen sich die teils überraschenden Zutaten auf. Sie wirken nicht spontan sondern sehr ausgeklügelt. Auch wenn nicht alles Sinn macht, so ist die Absicht meist klar. Einen deutlichen Mehrwert in Inhalt und Aussage kann ich aber nicht erkennen, auch wenn der Sänger in einem sehr persönlichen Text im Booklet in düsteres Nachdenken gerät. Er verweist darauf, dass sich in Deutschland nach Angaben des statistischen Bundesamtes im Jahre 2021 über 9000 Menschen das Leben nahmen. Dreiviertel davon seien Männer gewesen. Fiele diese Zahl geringer aus, wenn das stereotypische „Rollenbild nicht darauf bestehen würde, dass der Mann Stärke zeigen müsse“, fragt er. Es sei leichter gesagt als getan, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Müllerbursche hat sie nicht gesucht, „sondern macht die Last der Emotionen mit sich selbst aus und teilt sie letztlich mit dem Bach, der ihm seinen Todeswunsch erfüllt“. Es sei eine „Achterbahn der Gefühle, eine Berg- und Talfahrt durch die Leidenschaft“. Krimmel schließt mit einem Hinweis auf das Fünf-Phasen-Modell der schweizerisch-amerikanischen Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004). Danach wäre der Müllerbursche am Ende seines Wegs bei der 5. Phase angelegt, in der Sterbende den Tod akzeptieren.

Wenn sich also ein Dreißigjähriger bei seiner Sicht auf den Liederzyklus an knallharte Fakten der Gegenwart hält und die Romantik Romantik sein lässt, ist das nur verständlich. Sein Vortrag aber ist durch und durch rückwärtsgewandt und nur aus der Zeit Schuberts heraus zu verstehen. Damals war es übliche Praxis, Lieder verziert darzubieten. Nach Schuberts Tod hatte sich der Komponist, Pianist und Verleger Anton Diabelli die Rechte an der Schönen Müllerin gesichert und besorgte eine repräsentative Druckausgabe. Er bat den „berühmten, mit Schubert befreundeten Sänger Johann Michael Vogl, die Singstimme so einzurichten, dass sie möglichst großes Echo beim Publikum finde. Das tat dieser denn auch. Er fügte – sparsam – einige Verzierungen hinzu, … die er selbst gesungen hatte, wenn Schubert ihn begleitete“. Nachzulesen beim Musikwissenschaftler Walther Dürr in einem Beitrag für die Einspielung von Christoph Prégardien und seines Begleiters Michael Gees 2008 bei Challenge Classics. Die Ornamente, die Prégardien singt, „orientierten sich zwar vom Typus her an den in Diabellis Druck (und einigen Handschriften) überlieferten Verzierungen – wo der Sänger sie aber einsetzt und wie er sie im Einzelfall gestaltet, ist ganz seine eigene Erfindung“, so Dürr. Was Krimmel und Heide versuchen, ist im Prinzip also nicht neu. Ihre Herangehensweise unterscheidet sich im Detail aber deutlich von der des Tenor-Kollegen Prégardien. Woran orientieren sie sich? In der Neuerscheinung gibt es nicht einen Hinweis darauf. Es bleibt rätselhaft. Vielmehr wird auf dem Cover und im Booklet der Eindruck vermittelt, als handele es sich um eine „ganz normale“ Müllerin (03.09.23). Rüdiger Winter

An der Grenze zur Oper

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Lieder von Franz Schubert mit Orchester singt der Bariton Benjamin Appl auf seiner neuesten CD, die bei BR-Klassik herausgekommen ist (900346). Begleitet wird er vom Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Oscar Jockel. Dirigent wie Sänger stammen aus Regensburg und haben bei den Domspatzen ihre musikalische Grundausbildung erhalten. Das ist eine solide Grundlage für ihre Zusammenarbeit. Jockel ist etwa dreizehn Jahre jünger als Appel – ein Unterschied, der in dieser Generation kaum eine Rolle spielt. Aufnahmetermine gab es 2022 an sechs Tagen innerhalb von drei Monaten. Das ist für eine CD mit einer Spielzeit von knapp vierundsiebzig Minuten relativ viel, spricht aber für die Intensität der Produktion. Eingespielt wurden neunzehn Lieder, unterbrochen von instrumentalen Nummern aus Deutsche Tänze, die von Johann von Herbeck (1831-1877) bearbeitet wurden. In seiner Zeit war er vornehmlich als Dirigent eine Berühmtheit. Ihm ist die Entdeckung der „Unvollendeten“ von Schubert zu verdanken, die er 1865 in Wien zur Uraufführung brachte. Die Tänze versah er mit einem auffälligen Wiener Charme. Zeitgenössisch aber ist der Einstieg in das CD-Programm gewählt mit Abendstern in der Orchestrierung des international sehr aktiven Pianisten und Liedbegleiters Alexander Schmalcz, der auch noch mit An Sylvia vertreten ist. Wie Appl und Jockel begann er seine künstlerische Laufbahn in einem Knabenchor – nämlich dem Dresdner Kreuzchor. Alle anderen Bearbeiter haben das Zeitliche gesegnet.

Mit sieben Titeln ist Max Reger vertreten. Das ist der größte Posten. Ihm folgt in der Menge der Bearbeitungen sein österreichischer Zeitgenosse Anton Weber mit fünf. Die Literatur über nachträgliche Lieder-Orchestrierungen von fremder Hand will gesucht sein. Sie fliegt einem nicht zu. Appl geht in seinem Booklet-Text auf eigene Spurensuche. Grundsätzlich hat er mit Arrangements kein Problem, viel mehr bewundere er die „Formung einer eigenständigen Kunstgattung“ und staunt „über die grenzenlosen Phantasie, verschiedene Klavierklänge in orchestrale Farben vieler individueller Instrumente umzusetzen“. Über Regers Intentionen ist viel bekannt. Nach Darstellung von Appl „konnte er nichts damit anfangen, als zwischen symphonischen Kompositionen plötzlich eine Auswahl von Klavierliedern mit dem Dirigenten als Pianisten dargebracht wurden“. Er zitiert Reger mit den Worten: „Für mein Ohr ist es oftmals direkt eine Beleidigung in einem Riesensaal nach einer Orchesternummer eine Sängerin hören zu müssen, die zu der spindeldürren Klavierbegleitung Lieder singt.“ Es war damals übliche Praxis, Konzertprogramme durch Lieder aufzulockern. Die Musikwissenschaftlerin Susanne Popp nennt in ihrer großen Biographie „Max Reger – Werk statt Leben“ (Breitkopf & Härtel 2016) unter Bezugnahme auf den Komponisten noch einen ganz praktischen Grund, dass nämlich nicht extra ein Flügel aufs Podium geschleppt werden“ musste. Reger hat insgesamt fünfzehn Lieder mit Orchesterstimmen in einer Besetzung versehen – und zwar so, dass die Sänger nie zugedeckt werden. Es ist kein Mangel an einschlägigen Aufnahmen. Eine Gesamteinspielung legten 1998 Camilla Nylund und Klaus Mertens bei cpo vor. An weiteren Bearbeitungen ist Reger durch seinen frühen Tod gehindert worden. Gut beobachtet hat Appl, dass sein Arrangements „an Szenen aus musikdramatischen Werken“ grenzen. Davon lässt er sich auch in seinem Vortrag leiten, führt die Prometheus-Ballade nach Goethe mit ihren fünfeinhalb Minuten am auffälligsten in diese Richtung. Das Resultat kann sich hören lassen.

Appls Stimme tut ein Orchester gut. Es gibt ihm Halt – nicht nur in dramatischen sondern auch in ausgesprochen lyrischen Stücken wie „Die bist die Ruh“  in der Bearbeitung von Webern oder Ständchen aus dem Schwanengesang, dessen sich Offenbach selbstbewusst annahm. Gern überrascht der Sänger auch mit Arbeiten von Komponisten, die nicht im Mittelpunkt stehen. Kurt Gillmann (1889-1975) ist so einer. Der namhafte Harfenist, der erblindet starb, hat auch komponiert. Ein Großteil seiner Werke ist im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Von ihm stammt die betonte gefällige Orchesterversion von Ganymed, die Appl auch so vorträgt. Johannes Brahms und Benjamin Britten komplettierten die Liste der bearbeitenden Komponisten (6.10.2023). Rüdiger Winter

Oper in der Kirche

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Carl Loewe, der für seine Balladen und Lieder berühmt geworden ist, hat auch siebzehn Oratorien hinterlassen. Nach dem Tod des Komponisten im Jahre 1869 mehr und mehr dem Vergessen anheimgefallen, werden sie nun peu à peu neu entdeckt. Innerhalb weniger Jahre hat Oehms gleich zwei Titel auf den Markt gebracht hat. Auf Das Sühneoper des neuen Bundes 2019 folgte jetzt Jan Hus (2 CD OC 1720). Loewe wirkte von 1820 bis 1866 sechsundvierzig Jahre in Stettin als Kantor und Organist an der Jakobikirche. Zudem hatte er den Posten des städtischen Musikdirektors inne, gab Gymnasialunterricht und bildete am zuständigen Seminar Lehrer aus. Kurz nach Amtsantritt wurde er auf 22 Paragraphen mit seinen dienstlichen Aufgaben verpflichtet, „von denen einer ihm untersagte, Opern für die Stettiner Bühne zu schreiben“, so der Musikwissenschaftlers Klaus-Peter Koch in einem Vortrag bei einer Konferenz zum 200. Geburtstag des Komponisten 1996 in Halle, der in Band 13 der Schriften des Händel-Hauses veröffentlicht wurde (ISBN 3-910019-11-0).

Dieses Verbot erklärt die Hinwendung zum Oratorium. Dennoch stellt sich die Frage, warum Loewe, der auf dem Gebiet der Oper bereits Erfahrungen gesammelt hatte, nicht andere Bühnen zu bedienen versuchte? Dafür blieb ihm angesichts der starken Beanspruchung in Stettin einfach keine Zeit. Eine Erklärung, die auch Koch im Gespräch mit operalounge.de  teilte. In den Sommerferien – seiner einzigen Freizeit – begab sich Loewe auf Reisen, um als Sänger neue Balladen zu Gehör zu bringen und über Deutschland hinaus bekannt zu machen. Er soll eine sehr gute Tenorstimme gehabt haben. Dabei begleitete er sich selbst am Klavier. Sein Ruhm beruht nicht zuletzt auf diesen Auftritten. In der Neuzeit fanden Sänger wie Hermann Prey, Dietrich Fischer-Dieskau, Roland Hermann, Kurt Moll, Theo Adam oder Werner Hollweg einen neuen Interpretationsansatz, indem sie sich wieder dem Original zuwandten und diverse Zerrbilder in Gestalt gefälliger Bearbeitungen hinter sich ließen. Eine Entwicklung, die durch das segensreiche Wirken der Internationalen Carl Loewe Gesellschaft, die ihren Sitz in Löbejün, dem Geburtsort des Komponisten, hat, befördert und vorangetrieben wird. Zum bisherigen Höhepunkt der modernen Annäherung an Loewe wurde die Einspielung sämtlicher Lieder und Balladen, die cpo in Zusammenarbeit mit dem RBB, dem Südwestrundfunk und Deutschlandradio zwischen 1994 und 2003 stemmte. Sie wurde künstlerisch vom Pianisten Cord Garben betreut und kam 2009 auf den Markt. Die aus einundzwanzig CDs bestehende Edition ist nach wie vor greifbar (777 366-2).

Jahre vor Oehms war – versehen mit einem entsprechenden Hinweis auf dem Cover – die erste Aufnahme des Oratoriums Jan Hus an die Öffentlichkeit gelangt. Sie erschien als Mitschnitt von Konzerten im März 2009 in St. Gallen und Arbon auf CD bei dem schweizerischen Label Kuma. Die Leitung hatte der 1949 im Kanton Graubünden geborene Dirigent und Musikforscher Mario Schwarz, der durch zahlreiche musikalische Ausgrabungen von sich Reden gemacht hat. Er leitet den Kammerchor Oberthurgau und das Collegium Musicum St. Gallen. Den Hus singt der Tenor Simon Witzig. In beiden schweizerischen Orten gab es eine starke Hinwendung zur Reformation.

Sie liegen eine Autostunde von Konstanz entfernt, wo Jan Hus, der in Böhmen bereits mehr als hundert Jahre vor Martin Luther für eine Erneuerung der Kirche gestritten hatte, während des Konzils 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Er war nicht zu bewegen, seine Lehren, die er eigentlich hatte erläutern wollen, zu widerrufen. Obwohl ihm vom deutschen König Sigismund (im Oratorium Siegmund) freies Geleit für die Hin- und Rückreise zugesichert worden war, musste er als Ketzer sterben. Vor seiner Hinrichtung soll Hus gemeinsam mit dem inzwischen abgesetzte Gegenpapst Johannes XXIII., der ursprünglich das Konzil einberufen und den böhmischen Reformator eingeladen hatte, auf Schloss Gottlieben eingesperrt gewesen sein – in jenem Schloss, das 1950 von der Sopranistin Lisa della Casa erworben wurde. Sie bewohnte es mit Ehemann und Tochter fast bis zu ihrem Tod 2012. Laut Wikipedia steht es seit 2023 zum Verkauf. Es gibt also viele Gründe, warum das 1841 in der Berliner Singakademie uraufgeführte Oratorium, in der Schweiz zu neuem Leben erweckt wurde. Gedruckt lag es nicht vor. Deshalb musste auch in St. Gallen und Arbon auf Behelfsmaterial zurückgegriffen werden. Vor eine ähnliche schwierige Situation sah man sich 2013 in Tübingen gestellt. Im Rahmen der Lutherdekade, einer Veranstaltungsreihe, die am 21. September 2008 begann und 2017 mit dem 500. Jahrestags des Thesenanschlags zu Wittenberg endete, erarbeitete Musikdirektor Hans-Peter Braun mit dem Chor des Evangelischen Stifts Tübingen eine Aufführung in der Klavierfassung des Komponisten. Sie fand in der Tübinger Stiftskirche statt. Der Chor sang zur Orgel, die Solisten wurden auf einem Blüthner-Flügel und einem erst kurz zuvor auf dem Kirchendachboden aufgefundenen Pedalharmonium begleitet. Es stammt aus der 1880 von Ernst Hinkel in Ulm gegründeten Harmoniumfabrik. Als Solisten wirkten acht Studenten der Gesangsklasse von Andreas Reibenspies an der Musikhochschule Trossingen mit. Sie waren mit großem Einsatz bei der Sache, wie es dem Rundfunkmitschnitt dieses ambitionierten Projekts zu entnehmen ist.

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Georg Poplutz, der bereits im „Sühneopfer“-Oratorium mitgewirkt hatte, singt den Jan Hus / Kratschmer

Nicht nur die Uraufführung, auch der Librettist des Oratoriums August Zeune (1778-1853) weist nach Berlin. Zeune war ein bedeutender Pädagoge, Germanist und Gründer der ersten deutschen Blindenanstalt im Stadtteil Steglitz, die immer noch existiert. Er wurde in Wittenberg als Sohn eines Griechisch-Professors geboren, wo 1517 die Reformation durch Luther ihren Anfang genommen hatte. Denkbar ist, dass Zeune sein Interesse für Hus aus Wittenberg in die preußische Hauptstadt mitbrachte. Sein Ehrengrab befindet sich auf dem Alten Georgenfriedhof in der Greifswalder Straße nahe dem Alexanderplatz. Mit dem Werk Loewes wurde Zeune auch als Dichter wieder in Erinnerung gerufen. Robert Schumann schätzte ihn. Im Booklet greift Thomas Gropper, der Dirigent der Aufnahme, ein Zitat zum Libretto auf, das so auch im Internet kursiert: „Es ist (ein Text), der auch ohne Musik sich des Lesens lohnte, seines Gedankengehaltes, der edlen echt deutschen Sprache, der natürlichen Anordnung des Ganzen halber. Wer an Einzelnem mäkelt, an einzelnen Worten Anstoß findet, der mag sich seine Texte bei den Göttern holen. Wir würden die Komponisten glücklich schätzen, die immer solche Text zu componieren hätten.“ Eine Quelle wird nicht genannt. Sie findet sich im vierten Band der Gesammelten Schriften über Musik und Musiker von Schuman, die 1854 im Verlag von Georg Wigand in Leipzig erschienen sind und bisher lediglich als Reprint nachgedruckt wurden. Schumann verfasste seinen Text über Jan Hus anhand des Klavierauszugs. Er gelangt zu dem Schluss, dass sich Loewes neues Oratorium „in seiner Tendenz den früheren derartigen“ Kompositionen anreihe. Es sei schon vom Dichter nicht für die Kirche gedacht und halte sich für den Konzertsaal „passend oder auch bei musikalischer Gelegenheit wohl anzubringen zwischen Oper und Oratorium“.

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Carl-Loewe-Denkmal an der Jakobikirche in Stettin um 1904. Es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. / Wikipedia

Wer sich also mit dem Werk beschäftigt, wozu die Neuerscheinung von Oehms beste Gelegenheit bietet, wird Schumanns Urteil bestätigt finden. Schon der Prolog, der nur fünf Minuten in Anspruch nimmt, offenbart starke musikdramatische Neigungen. In die knappe orchestrale Einleitung, die nichts Gutes ahnen lässt, mischt sich ein Chor, der das Ende mit den Worten vorwegnimmt, dass „ohne Liebe man verbrannt den Frommen, darob die Nachwelt zwiefach steht verwundert“. Im Booklet ist der Text, der bislang nur schwer zugänglich gewesen ist – versehen mit Erklärungen des Dirigenten – komplett abgedruckt. Das ist umso begrüßenswerter, als die Literatur, die sich mit dem Schaffen Loewes und seinem Leben befasst, rar und sehr übersichtlich ist. Bis jetzt gibt es keine Biographie, die diese Bezeichnung verdient. Das Oratorium setzt sich aus drei Teilen zusammen, die auch als Akte verstanden werden können. Der erste spielt in Prag vor der Abreise von Hus zum Konzil. Schüler und Studenten bittet ihn in Chor inständig, „hier am sichern Ort zu bleiben“. Hieronymus (Dominik Wörner), ein Weggefährte, findet deutliche Worte: „Rom liebt den Brand, doch liebt es nicht das Licht.“ Hus (Georg Poplutz) aber ist frohen Mutes: „Was mein Gott will, das g’scheh allezeit.“ Loewe greift hier auf ein altes Lied zurück, das zum Kernbestand des lutherischen Kirchengesangs gehört. Der Text (um 1550) wird dem preußischen Prinzen Albrecht zugeschrieben, die Melodie stammt von dem Franzosen Claudin de Sermisy. Mit dem Lied eröffnet Bach seine gleichnamige Kantate BWV 111.

Das Grab des Textdichters August Zeune auf dem dem Alten Georgenfriedhof in Berlin ähnelt einem Mausoleum / Winter

Der zweite Teil schildert die Reise nach Konstanz. Mit seinem Gefolge trifft Hus im Böhmerwald auf eine Gruppe Zigeuner, die mit Gottvertrauen ihr Leben in Freiheit preisen: „Das weite Feld ist unser Zelt, des Waldes Graus ist unser Haus. Wie’s uns gefällt, so zieh’n wir aus, wie’s uns gefällt, zieh’n wir herein, da Groß und Klein zusammenhält. Frei ist die Welt.“ In die durch Hörnerklänge verstärkte romantische Stimmung mischen sich dunkle Ahnungen. Eine Zigeunerin (Ulrike Malotta) setzt zu einer Arie an, die auch aus einer Oper stammen könnte. Sie prophezeit Hus, dass sein Weg von nun an mit Trauerweiden gesäumt sein werde. Schließlich gerät eine Begegnung mit Hirten auf der Grenze nach Bayern zu einem Höhepunkt des Werkes. Hus bittet in einer biblisch anmutenden Szene um einen Glas Milch, für das er mit Worten aus dem berühmten Psalm 23 dankt: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Auf dem Schloss zu Konstanz beginnt der dritte Teil mit einer kontroversen Auseinandersetzung zwischen Siegmund (wieder Dominik Wörner) und Barbara (Monika Mauch). Während der König darauf besteht, Hus als Ketzer zu verurteilen und zu verbrennen, wenn er denn nicht abschwöre, zeigt sich seine Gattin von dessen festem Blick und den „milden, klaren Worten“ beeindruckt. Sie gemahnt Siegmund an sein Versprechen, Hus freies Geleit zugesagt zu haben. Der aber antwortet: „Die Kirche lehrt, dass man dem Ketzer nicht braucht Wort zu halten.“ Vor dem Konzil bittet Hus darum, die Klagepunkte gegen ihn widerlegen zu dürfen, was abgelehnt wird. Das Urteil steht schon vorher fest, seine Widersacher zeigen sich im Chor unerbittlich: „Was aus der Hölle stammt, muss wieder in die Hölle hinab in des Feuers Grab.“ Hus aber spricht sich in der größten Soloszene des Oratoriums mit den Worten des 73. Psalms Kraft zu: „Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“ Er geht auf seinen letzten Weg zum Richtplatz vor den Toren der Stadt. Ein Chor begleitet ihn: „Seht den edlen Denker schreiten.“ Flammengeister schlagen vielstimmig auf. „Non confundar in acternum!“ („In Ewigkeit werde ich nicht zuschanden“), sind die letzten Worte von Hus. Mit einer feierlichen Chorfuge schließt das Werk: „Ungetrübt rein leichtet der Menschheit ewig sein Schein.“

Der Dirigent Thomas Gropper hat mit den von ihm geleiteten Arcis-Vocalsolisten München, dem Barockorchester L`arpa festante und namhaften Solisten ein Ensemble um sich geschart, das sich mit hörbarer Hingabe an die Arbeit machte. Es realisierte auch das bereits erwähnte Sühneopfer-Oratorium für Oehms, bringt also einschlägige Erfahrung mit. In beiden Produktionen sind Georg Poplutz, Monika Mauch und Ulrike Malotta dabei. 1983 gegründet, hat sich das Orchester, das mit fünfunddreißig Musikerinnen und Musikern spielt, mit klassischer und romantischer Chor-Orchester-Literatur einen Namen gemacht. Von Anfang ist es darauf aus gewesen, vergessene Werke dem Musikbetrieb zurückzugeben. Die Diskographie ist setzt sich aus mehr als dreißig Veröffentlichungen zusammen. In der jüngsten Einspielung tritt die Mischung aus Oratorium und Oper, die schon Schumann aufgefallen war, deutlich hervor. Sie äußert sich auch durch räumliche Wirkung, die mit dem Ort der Produktion, der evangelisch-lutherischen Himmelfahrtskirche in München-Sendling zu tun haben dürfte. Dort wurde an fünf Tagen im Oktober 2022 unter Studiobedingungen aufgenommen. Wegen ihrer Akustik wurde die Kirche schon mehrfach für Einspielungen von Werken in mittlerer Besetzung genutzt. So auch die Aufnahme des Sühneopfer-Oratoriums. Rüdiger Winter

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Das große Foto oben zeigt einen Ausschnitt aus dem Gemälde „Jan Hus zu Konstanz“ von Carl Friedrich Lessing. Es entstand 1842, ein Jahr nach der Uraufführung des Oratoriums / Wikipedia

Völlerei und Frömmigkeit

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Dem Booklet mit dem Libretto ist ein Glossar vorangestellt. Denn wer sollte außerhalb der Schweiz wissen, dass „fidlätaub“ zornig, „karisiert“ lieben und „frinä“ zufrieden bedeutet. Im Singspiel Eine Engelberger Talhochzeit gibt fast jedes Wort dem ungeübten Ohr Rätsel auf. Es wurde von Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee (1720-1789) in Engelberger-Dialekt komponiert. Die Gemeinde mit derzeit weniger als viertausend Einwohnern liegt im Kanton Obwalden in der Zentralschweiz und ist ein gesuchtes Urlaubsziel. Talhochzeit leitet sich von Talschaft her, worunter die Gesamtheit von Land und Leuten eines Tales zu verstehen ist. In einer historischen Rundfunkproduktion aus dem Jahr 1958 ist das Werk bei Relief auf CD herausgekommen (CR 1927). Das Libretto, das der Komponist offenbar selbst verfasste, schwankt „zwischen Farce und Frömmigkeit, zwischen Völlerei, Respekt vor der geistlichen und weltlichen Autorität, sowie starken Gefühlen tiefer Gläubigkeit munter hin und her“, heißt es im Booklet-Text von François Lilienfeld. Die Sprache sei oft sehr derb. Der Komponist gehöre zu den schillerndsten Persönlichkeiten der schweizerischen Musikgeschichte. „Unter seinen diversen Beschäftigungen nahmen Musik und Religion eine führende Position ein, doch wusste er seine vielfältigen Talente auch in anderen Bereichen geltend zu machen.“ Seine wechselvolle Biographie liest sich so: „Meyer von Schauensee stammte aus einer Luzerner Patrizierfamilie. Schon früh lernte er Orgel und Cello. 1738 trat er in ein Zisterzienser-Kloster ein, das er allerdings bereits nach einem Jahr wieder verliess. Von 1740 bis 1742 erhielt er Geigenunterricht bei Ferdinando Galimberti in Mailand.1742 bis 1744 nahm er als Söldner im Dienste des Königs Emanuel III. am österreichischen Erbfolgekrieg teil. Nach seiner Rückkehr war er in der öffentlichen Verwaltung in Luzern tätig, doch nahmen Musik und geistliche Berufung eine immer zentralere Rolle in seinem Leben ein. 1752 wurde er Priester.“ Nach Angaben von Lilienfeld hinterließ er ein umfangreiches Oeuvre mit geistlicher Musik, instrumentale Kompositionen und Bühnenwerke. Leider sei vieles davon verschollen, die meisten der erhaltenen Werke nur als Manuskript zugänglich. 1939 wären die damals bekannten Akte eins und zwei der Engelberger Talhochzeit anlässlich der Schweizerischen Landesausstellung nach der Rekonstruktion von Hans Vogt und Hans Visscher von Gaasbeck in Zürich zur Aufführung gelangt. Nachdem man auch das Manuskript des dritten Aktes aufgefunden habe, wurde die Oper im Dezember 1958 vom Radio-Studio Basel aufgenommen und im April 1959 erstmals gesendet. Die vorliegende CD-Ausgabe entstand auf der Grundlage der Aufnahmebänder von Radio Basel. Im Fernsehstudio Zürich war 1974 eine gekürzte Fassung unter Armin Brunner produziert worden.

Die „Talhochzeit“ ist die erste Tonaufnahme mit Edith Mathis / Relief (Privatarchiv der Sängerin)

Nach den Worten von Lilienfeld kann guten Wissens behauptet werden, dass Die Engelbergische Talhochzeit – ein seltenes Dokument innerschweizerischen Musiklebens aus dem XVIII. Jahrhundert – zu den Raritäten, ja Kuriositäten, der Operngeschichte gehöre. Das beginne schon beim Text: Es gebe wohl nicht viele Opern mit „schweizerdeutschem“ Libretto, noch dazu in einer eher „abgelegenen“ Mundart. „Diese stand natürlich einer internationalen Verbreitung im Weg. Dazu kommt, dass keine Helden auftreten und die Liebesgeschichte alles andere als romantisch ist. Es wird den einfachen Landleuten – buchstäblich – auf’s Maul geschaut.“ Die Handlung sei ungewöhnlich. Sie beginne mit einer trotzig durchgesetzten Eheschliessung. Es folge ein horrend teures Hochzeitsmahl, zu dem allerdings die Eingeladenen nicht erscheinen. Die Familie esse und trinke bis zu Überfluss und Übelkeit. Doch kaum sei das Brautpaar getraut, fingen die Streitereien an. „Und das Ende ist für eine opera buffa, wie der Komponist seine Schöpfung einordnete, vollends unerwartet: In einem traurigen, resignierten Trio-Finale bereuen die Protagonisten ihre Beschäftigung mit weltlichen Dingen und besingen Frieden, Zucht, Ehrbarkeit.“ Die Musik sei ansprechend, eingängig und enthalte zahlreiche italienische Einflüsse. Das Orchester bestehe ausschliesslich aus Streichern, der Satz sehr sorgfältig konstruiert, so Lilienfeld.

Bereits auf dem Cover schmückt sich die Neuerscheinung mit dem Hinweis, dass es sich bei dieser Produktion um die erste Tonaufnahme der damals erst zwanzigjährigen Edith Mathis handelt. Sie singt die selbstbewusste Braut, das Gretli – singt die Rolle mit einer Stimme, wie sie ihr die Natur hat zukommen lassen. Noch ist alles Talent. Doch wer genau hinhört, wird bei der Anfängerin bereits den unverwechselbaren lyrischen Ton der Reifezeit angelegt finden. Zudem lässt sie die Fähigkeiten erkennen, sich diszipliniert ins Ensemble einzufügen, was ihr später vornehmlich in den Opern von Mozart zu Gute kommen wird. Mit der Aufnahme werden zudem Sängerinnen und Sänger in Erinnerung gerufen und mit Kurzbiographien vorgestellt, die heute weitgehend vergessen sind, darunter die Sopranistin Rosmari Thali, die Altistin Adele Räber, die Tenöre Peter Remund und Robert Boog sowie der Bassist Eduard Stocker. Eine Herausforderung des besondere Art watet auf den mit Remund besetzten Gastwirt Felix, der das Hochzeitsmahl in einer virtuosen Erzählung anpreist, die an Leporellos Registerarie in Mozart Don Giovanni denken lässt, der 1787 und damit fünf Jahre nach der Talhochzeit uraufgeführt wurde. Die Arie des Wirts „kann als wahrscheinlich einzige vertonte Speisenkarte der Theatergeschichte gelten“, wird im Booklet ausdrücklich vermerkt. R.W.

Akkordeon statt Klavier

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Wird ein Liederzyklus so oft aufgeführt und eingespielt wie Franz Schuberts Winterreise, nehmen die Begehrlichkeit zu, es mal ganz anders zu machen. Der neueste Schrei ist eine Version für Bariton, Chor und zwei Akkordeons, erschienen bei Genuin (GEN 23847). Erarbeitet hat sie Gregor Meyer, der Leiter des Leipziger Gewandhaus-Chores, der – wie könnte es auch anders sein – an der Einspielung beteiligt ist. Nach der Sinnhaftigkeit fragt die Autorin des Booklet-Textes Katharina Rosenkranz, die nach Angaben der Herausgeber auch das Cover gestaltet hat. Sie leitet das Chor-Büro. „Das Sololied wird hier zur Chorliteratur und tritt aus dem vollkommen kammermusikalischen Raum heraus auf ein größeres Konzertpodium.“ Es würden neue Aufführungsmöglichkeiten und ein weiterer Publikumskreis erschlossen, so die Autorin, die auf ein begeistertes Publikum bei Live-Vorstellungen der Bearbeitung verweist. Die Akkordeon-Begleitung – ursprünglich war nur ein Instrument vorgesehen – dränge sich geradezu auf. Als Beispiel führt die Autorin „die froststarren, etwas windschiefen Töne des Leiermanns“ an, die mit dem Akkordeon, das sich auf der Wanderung auch leichter schultern lasse, „natürlich deutlich authentischer“ klängen als mit dem „kultivierten Klavier“.

Solist ist der Bariton Tobias Berndt, der bei Hermann Christian Polster, einem namhaften Leipziger Sänger mit Schwerpunkt Bach, studierte. Zudem kann er auf Dietrich Fischer-Dieskau, der sich während seiner langen Kariere immer wieder intensiv mit der Winterreise auseinandergesetzt hat, als Lehrer verweisen. Er bestreitet den Einstieg mit seinem wohlklingenden Bariton und bester Wortverständlichkeit zunächst allein. Beide Akkordeons, die von Heidi und Uwe Steger sehr virtuos gespielt werden, geben den Marschrhythmus vor. Ist der Sänger an der Stelle angelangt, wo „ein Mondesschatten als mein Gefährte“ mitzieht, stimmt der Chor vokalisiert ein unheimliches Echo an, um schließlich selbst die Worte zeitlich etwas versetzt zu wiederholen. Musikalisch ist das wirkungsvoll gemacht. Eine inhaltliche Vertiefung findet nicht statt. Allenfalls wird die Winterreise illustriert und aufgehübscht. Es ist also nachvollziehbar, dass diese Bearbeitung bei einem mit dem klassischen Liedgesang weniger vertrauten Publikum besonders gut ankommt. Für das folgende Lied simuliert der Chor den Wind, der mit der Wetterfahne „auf meines schönen Liebchens Haus“ spielt und singt auch gleich die erste, die Situation beschreibende Gedichtzeile, um in dem Moment vom Solisten abgelöst zu werden, wenn dieser als lyrisches Ich in Erscheinung tritt. Eine sinnvolle formale Lösung, die sich aber nicht konsequent durchsetzt. Vieles bleibt im Fortschreiten des Werkes ehr zufällig und damit mehr der Wirkung als der Aussage verpflichtet. Der Sänger ist bis auf Ausnahmen – wozu Rückblick und breits erwähnte Der Leiermann gehören – weitgehend ohne Chance, den Zyklus selbst zu einem Ganzen zu formen. Er wird als eine Art Vorsänger Teil des höchst professionell agierenden Chores, dem eigentlichen Star dieser Produktion.

Dem Liedgesang ist eine weitere Neuerscheinung bei Genuin gewidmet, die sich im Vergleich mit der Winterreise ausgesprochen konventionell ausnimmt: Die schöne Magelone von Johannes Brahms (GEN 23844). Gesungen werden diese fünfzehn Romanzen aus der Erzählung Ludwig Tiecks von Tomas Kildišius, einem noch jungen aus Litauen stammenden Bariton, der sowohl auf Konzertpodien als auch auf Opernbühnen anzutreffen ist. Begleitet wird er am Klavier von der gebürtigen Armenierin Ani Ter-Martirosyan. Die Schauspielerin Jannike Liebwert umrahmt die Lieder mit Tieck-Texten, die die notwendigen inhaltlichen Zusammenhänge schaffen. Dadurch ist ein größeres Verständnis gewährleistet. Ursprünglich war das vom Komponisten so nicht gedacht. Doch schon bei der ersten Aufführung durch den Sänger Julius Stockhausen, dem der Liederzyklus gewidmet ist, stellte sich heraus, dass das Publikum den aus dem Zusammenhang gerissenen Romanzen, die immer wieder Bezug zur Prosa-Erzählung nehmen, nicht gut folgen konnte. Kildišius ist gut beraten, sich als Liedersänger weiter zu profilieren – eine erfreuliche Tendenz, die auch bei anderen Solisten seiner Generation auffällt. Im Booklet ist zu lesen, dass er „besondere Aufmerksamkeit auf die Artikulation und Klarheit des Textes“ lege. Damit sind wichtige Voraussetzungen angesprochen, um in diesem Genre dauerhaften Erfolg zu haben. Auf der CD ist das entsprechende Bemühen deutlich zu spüren, bleibt aber noch ausbaufähig. Rüdiger Winter

Hören statt sehen

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Orfeo hat Columbus von Werner Egk neu aufgelegt (C240032). BR – das Logo des Bayerischen Rundfunks findet sich nun auf dem Cover deutlicher herausgestellt. Bei dem Werk handelt es sich um kein herkömmliches Musikdrama. Es ist eine Funkoper, die gehört und nicht gesehen werden soll. Insofern ist sie bei einem Radiosender genau richtig. Es gibt noch einen sehr viel direkteren Bezug. Columbus war ein Auftrag des Bayerischen Rundfunks und wurde am 13. Juli 1933 erstmals gesendet. Der Sender hat seinen Namen bis heute behalten. Egk, der auch den Text verfasste, bezeichnete seinen Columbus als „Bericht und Bildnis“. Er griff auf historische Quellen über den Seefahrer zurück, der immer noch als Entdecker Amerikas gepriesen wird, obwohl das historische widerlegt ist. Gegliedert in neun Bilder ist die Handlung die nämliche. Wurden Funkopern auf der Schwelle von den zwanziger zu den dreißiger Jahren zunächst als Bearbeitungen von herkömmlichen Werken mit Erzähler für das neue Medium verstanden, bildete sie sich schließlich als eigene Gattung heraus. Ein solches Werk sollte wie ein Hörspiel also ganz bewusst ohne die Darstellung auf einer Bühne auskommen.

Im Booklet findet sich ein sehr informativer Text der Musikwissenschaftlerin Helga-Maria Palm. Darin wird auch die Geschichte der Funkoper umrissen. Der aus Bayern stammende Egk empfing seine ersten Eindrücke für die neue musikalische Form im Berlin, wo er auch 1928 die Uraufführung der Dreigroschenoper von Brecht und Weill miterlebte. Sein großes Vorbild aber sei Oedipus Rex von Stravinsky gewesen, heißt es. Führe dort ein Sprecher durch das Stück, so dramatisiere Egk die Idee des Kommentators. „Die musikalische Konzeption basiert auf dem Wechsel von chorischen, solistischen und instrumentalen Episoden.“ Neun Jahre nach der Erstsendung sei Columbus 1942 ein echter Opernheld geworden. „Hans Konwitschny dirigierte in Frankfurt die Bühnenfassung; ein legitimer, aber zweifelhafter Versuch.“ Denn auf der Bühne müsse der experimentelle Charakter des Werkes, die szenisch-dramatischen Vorgänge allein durch das Hören glaubhaft zu machen, verloren gehen, so die Autorin, der ein kleiner Irrtum unterlief. Konwitschny, damals Musikdirektor und musikalischer Leiter des Frankfurter Opernhauses, hieß Franz. Er und der Komponist sollten sich nicht mehr aus den Augen verlieren. 1957 kam Egk auch nach Ostberlin, wo an der Staatsoper Unter den Linden, Konwitschny – inzwischen deren Generalmusikdirektor – seinen Revisor dirigierte. Peer Gynt folgte 1961 kurz vor dem Bau der Mauer.

Eine rätselhafte Unbekannte: Die argentinische Sopranisten Lia Montoya singt als Königin Isabella. Foto / Discogs

Mit den Worten der Musikwissenschaftlerin zurück zur Funkoper: „Der Hörer sollte mit den modernen technischen Mitteln zu einem aufregenden Hörerlebnis gelangen. Die technisch-akustischen Möglichkeiten eröffneten zusätzliche Aktionsebenen. Textverständlichkeit war am wichtigsten.“ Als Egk im Januar 1963 im Herkulessaal der Münchner Residenz das Werk unter Studiobedingungen aufnahm und dabei selbst dirigierte, fand er ein erlesenes Ensemble vor, das diese Bedingungen zu erfüllen in der Lage war. In der Titelrolle der österreichische Bariton Ernst Gutstein, mit der Interpretation zeitgenössischen Werke genauso erfahren wie Fritz Wunderlich als König Ferdinand. Sie hinterlassen die stärksten Eindrücke, so dass man sich vornimmt, wieder mehr solche Musik zu hören. Wolfgang Anheisser (Dritter Rat), Max Pröbstl (Mönch) und Friedrich Lenz (Vorsänger) gehören mit dem Schauspieler Rolf Boysen ebenfalls zum Ensemble. Was die beschworene Textverständlichkeit angeht, ist die argentinische Sopranisten Lia Montoya als Königin Isabella nicht perfekt besetzt. Es scheint ihre einzige offizielle Aufnahme zu sein. Lediglich auf einem der Sopranistin Liane Synek gewidmeten LP-Album von Melodram ist sie 1962 in Köln noch als Sophie im Schlussterzett des Rosenkavalier neben Hanna Ludwig als Octavian zu hören. Rar wie ihre Dokumente sind die biographischen Angaben. Die einschlägige Literatur und das Netz geben sich so zugeknöpft wie das Booklet, in dem auch darauf verzichtet wurde, die abgebildeten Sänger zu benennen, die bei einer szenischen Columbus-Aufführung am 3. Mai 1960 im Prinzregententheater mitwirkten. Rüdiger Winter

Gemischtes Obst

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Es ist angerichtet. Der Bariton Benjamin Appl bittet zu Tisch. Gereicht werden verbotene Früchte. Die schmecken bekanntlich besonders gut. Wenngleich streng vegan, können sie durchaus der Fleischeslust förderlich sein. Diese Erfahrung machten schon die ersten Menschen im Garten Eden. Dort ließ sich Eva von der Schlange dazu überreden, den verlockenden Apfel vom Baum der Erkenntnis zu probieren. Die Unschuld war hin. „Wir streben immer zum Verbotenen und begehren das, was uns versagt wird.“ Dieses Zitat des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) aus dessen Amores-Gedichten stellt Appl einem eigenen Text im Booklet seiner neuen CD mit dem verheißungsvollen Titel „Forbidden Fruit“ voran. Sie ist bei Alpha Records erschienen (ALPHA 912). Für die stimmungsvolle Begleitung am Klavier sorgt James Baillieu. Die Ausstattung gelang betont verschwenderisch. Auf theatralisch inszenierten Fotos stechen stilistische Anleihen bei der Renaissance ins Auge. Als seien Caravaccios Obstkörbe geplündert worden. „Auch wir stehen immer in diesem Spannungsfeld, wollen Erfahrungen sammeln, essen ,verbotene Früchte‘, die uns etwas Unbekanntes versprechen“, so Appl. Aber selbst nach dem „Kosten“ keimten Unzufriedenheit und der Wunsch auf, neu auftretende Grenzen zu durchbrechen. Werde das Leben dadurch besser? Erlange man wirklich mehr Freiheit, mehr Glück? „Musik und Poesie zeigen oft einen Weg jenseits dieser ständig sich verschiebenden Grenzlinien.“ Mit Faurés „In paradisum“ beginnend, soll das Album nach den Vorstellungen des Sängers der biblischen Erzählung folgend, einen Bogen spannen, der den Zuhörer zu Beginn ins Paradies hinein“ und am Ende, wenn der Garten Eden verschlossen wird, „wieder herausführt“. Einzelne Bibelzitate würden musikalisch wie mit einem Kaleidoskop beleuchtet. Dabei reiche die Spannweite vom Volkslied über das deutsche Kunstlied hin zum französischen Impressionismus, zu Vertonungen neuer Sachlichkeit und Melodien aus Tonfilmen sowie zeitgenössischen Kompositionen.

Das sollte reichen. Mit einundvierzig Nummern – fünfzehn davon sind kurze gesprochene Einwürfe des Interpreten – gelangt die CD zwar nicht an ihre physischen, dafür aber an ihre intellektuellen Grenzen. Im Booklet braucht es siebzehn Seiten, um die literarischen Vorlagen im Original und in Übersetzungen – darunter auch ins Deutsche – abzubilden. Mitlesen ist Pflicht. Der Wechsel zwischen den Sprachen und Stilen will auch für den Sänger bewältigt sein, was ihm nicht durchgehend gelingt. Immerhin wird sein unverwechselbares einnehmendes Timbre zur Konstante der Interpretation. Viele Titel haben es inhaltlich und musikalisch in sich wie Hanns Eislers Ballade vom Paragraphen 218. Oder Goethes Ganymed in der Vertonung durch Hugo Wolf, der nach gut fünf Minuten mit hartem Schnitt von Kurt Weills Sehnsuchtslied Youkali abgelöst wird. Wolf wird noch mehrfach vorkommen, Robert Schumann auch. Von Franz Schubert sind das Heideröslein und – das ist jetzt kein Tippfehler – Gretchen am Spinnrade im Angebot, jenes Lied also, vor dem selbst Dietrich Fischer-Dieskau in seinem Streben nach enzyklopädischer Vollständigkeit zurückschreckte. Appl, sein letzter Schüler, singt es – womöglich gar als erster Mann in der Aufnahmegeschichte. Es ist ihm vor allem wegen des Schicksals von Gretchen wichtig, die sich Faust in Liebe hingibt und als Kindsmörderin endet.

„Kann denn Liebe Sünde sein?“ Wer auf das Lied, welches Zarah Leander im Ufa-Film Der Blaufuchs zum besten gab und das danach ein unverwüstliches Eigenleben entwickelte, nicht gefasst gewesen ist, soll nur genau hinhören. Es gibt nämlich noch eine Geschichte hinter dem Lied. Dessen Text stammt von Bruno Balz, der dem eigenen Geschlecht zuneigt gewesen ist und deshalb von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Vor diesem Hintergrund kann das Lied auch als sein Outing verstanden werden – als spreche er, Balz, der von der schwulen Community als Aktivist verehrt wird, für seinesgleichen und für sich selbst. Die einzelnen Begründungen des Sängers für seinen Kanon sind zwar plausibel, teilen sich aber nur selten von selbst mit. Zu oft fragt man sich, warum nun dieses oder jenes Lied eine verbotene Frucht sein soll? Über die meisten Verbote ist nämlich die Zeit hinweggegangen. So wird aus verbotenen Früchten schnell gemischtes Obst (16. 08. 23). Rüdiger Winter

Judas eine Stimme geben

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„Als ich meine erste Matthäus-Passion gesungen habe, fiel es mir schwer, das Rezitativ über den Tod des Judas zu gestalten“, räumt der aus Island stammende Tenor Benedikt Kristjánsson im Booklet seiner neuen CD ein. Nicht, weil es gesangstechnisch größere Schwierigkeiten bereite als die anderen Rezitative. Er habe die Interpretation von vielen anderen Evangelisten im Ohr gehabt und sei ohne darüber nachzudenken in deren Fußstapfen getreten, nämlich den „Judas als Verräter, Feigling, Bösewicht und einen Mann, der einen grässlichen Tod verdient hat, darzustellen“. Kristjánsson weiter: „Das wolle ich aber nicht tun.“ Er spricht von seinen Versuchen, für dieses Rezitativ eine andere Interpretation anzubieten und den daraus folgenden Auseinandersetzungen mit Dirigenten. „Das Thema hat mich immer weiter beschäftigt, schicksalhaft kam es auf mich zu.“ Als eine Quelle der Inspirationen erwies sich für den jungen Sänger der Roman Judas von Amos Oz – in Deutschland bei Suhrkamp erschienen. „Weil Judas in der Passionsgeschichte eben keine eigene Stimme hat und man den Ablauf nie aus seiner Perspektive hört“, interessierte es Kristjánsson, eine solche Geschichte zu entwickeln. Sie ist auf der bei Coviello herausgekommenen CD mit dem Titel Judas zu hören (COV 92307). Es begleiten das Ensemble Continuum und Sergey Malov mit der Violine.

Es ist nur konsequent, dass bewusste Rezitativ „Und er warf die Silberlinge in den Tempel, hub sich davon, ging hin und erhängete sich selbst“ aus dem zweiten Teil der Passion wegzulassen. Stattdessen kommt Jesus beim letzten Abendmahl zu Wort und eröffnet seine Perspektive. Der Tenor muss in die tiefe Bass-Lage wechseln, was seine emotionale Wirkung nicht verfehlt und einen Höhepunkt der Interpretation beschert: „Trinket alle daraus, das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden. Ich sage euch, ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken, bis an den Tag, da ich’s neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.“ Mich euch! Also auch mit Judas, der seine dreißig Silberlingen – den Lohn für den Verrat von Jesus – bereits in der Tasche hat, als mit den anderen am Tisch Platz nahm. Ich hole mir den Essay Der Fall Judas des Literaturhistorikers und Schriftsteller Walter Jens (1923-2013) aus dem Regel und lese nach, was ich mir vor vielen Jahren in der Ausgabe von Reclams Universalbibliothek Band 1300 auf Seite 144 angestrichen: … hätte er (Judas) sich seiner Bestimmung entzogen und die Tat verschmäht, die um unser aller Erlösung willen getan werden musste, er wäre an Gott zum Verräter geworden. Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans.“ Jens gelangt zu dem Schluss, dass es „ohne diesen Mann“ keine Kirche gegeben habe.

Kristjánsson kennt sich aus bei Johann Sebastian Bach. Zu der bereits erwähnten Stelle aus der Matthäus-Passion hat er Rezitative und Arien aus insgesamt zehn Kantaten (BWV 3, 12, 55, 76, 97, 131, 154, 157, 179 und 183) ausgewählt, die der Autor Thomas Jakobi in einen inhaltlichen Bezug zur anderen, zur tragischen Seite von Judas stellt, der den undankbarsten Part in der Passionsgeschichte auf sich nahm. Sie finden sich im Booklet abgedruckt, was auch unbedingt nötig ist. Am Sänger ist es, die musikalische Ausdeutung vorzunehmen, indem er Judas mit seiner Auswahl die Stimme gibt, der er immer vermisst hat. Das funktioniert verblüffend gut und überzeugen.

„Es mag mir Leib und Geist verschmachten“ oder „Ich fürchte nicht des Todes Schrecken“. Bei welchem Zitat man immer auch innehält, es könnte auch von Judas sein. Was Kristjánsson vorschwebt, teilt sich aber nicht automatisch mit. Es will entdeckt und erfahren werden, stellt die Hörer vor besondere Herausforderungen. Die CD ist nichts für nebenbei. Man wird sie wieder und wieder spielen müssen. Dabei erweist es sich als ungemein hilfreich, dass der Sänger mit großer emotionaler Bandbreite so deutlich und genau singt. Rüdiger Winter

Junge Sänger im Aufwind

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Drei Neuerscheinungen auf dem CD-Markt haben eines gemeinsam. Die Sänger sind jung, so um die dreißig. Und damit etwa in jenem Alters, in denen die Komponisten waren, als sie die Werke, um die es geht, schufen – Die schöne Müllerin und Winterreise von Schubert, Dichterliebe von Schumann. Sagt das Rechenspiel mit den Lebensdaten etwas über die Interpretation aus? Für mich schon. Die Jungen bringen gewöhnlich mehr eigene Gefühle und Leidenschaften ein als ein sehr viel erfahrenerer Sänger, der die Lieder nach meiner Beobachtung stärker sublimiert und damit auf eine andere Ebene hebt. An dieser Stelle kommt mit Dietrich Fischer Dieskau ein sehr prominentes Beispiel zur Sprache. Er war dreiundzwanzig, als er seine erste Winterreise für den WDR aufnahm. Der Zyklus begleitete ihn sein Leben lang. Alles in allem hinterließ er an die dreißig Aufnahmen – Studio und live, bei diversen Firmen und im Rundfunk. Er klang immer etwas anders. Seine Deutungen wurden von Mal zu Mal ausgeklügelter und feinsinniger, was nicht jedem gefiel. Die drei Zyklen sind nur ihrer Entstehungszeit nach Jugendwerke. Im Kern handelt es sich um Gipfel der Tonkunst. Es ist also auch ein Wagnis, sich gleich zu Beginn der Karriere an deren Ersteigung zu machen. Denn nicht jedem Sänger dürfte sich wie einst Fischer-Dieskau die Möglichkeit eröffnen, eine Interpretation durch die nächste zu ergänzen oder auch zu korrigieren. Vielleicht wäre das auch nicht mehr zeitgemäß. Der Markt unterliegt keinen diskographischen Regeln mehr. Insofern ist es nur natürlich, wenn sich junge Sänger unerschrocken an die Arbeit machen.

Erik Rousi hat sich Die schöne Müllerin vorgenommen. Die Aufnahme ist beim finnischen Label Alba herausgekommen (ABCD 525). Die Begleitung am Klavier besorgte Justus Stasevskij aus Finnland, wo er auch studierte. Auch Rousi ist Finne. Für den Herbst 2023 ist er in Wuppertal als König Marke im Tristan angekündigt. In seiner Heimat singt er auch Bach, den er nicht aus den Augen lassen sollte. Wie dem Booklet zu entnehmen ist, treten beide Künstler schon seit 2015 gemeinsam auf und „haben sich besonders auf Schuberts Liederzyklen fokussiert“. Fraglos bringt Rousi einen sehr gut sitzenden Bass-Bariton mit. Er singt betont flexibel und nicht angestrengt. Man würde ihn auch wiedererkennen. Das teils riskante rasche Tempo im Vortrag wird nicht immer ganz sicher beherrscht und vor allem im Jäger auf eine harte Probe gestellt. Es ist Teil seiner ungestümen Sicht auf das Werk. Er geht sehenden Auges in sein Unglück, nimmt die Abgründe rechts und links der Wanderschaft nicht wahr. Trotz vieler positiver Eindrücke finde ich, dass die Aufnahme zu früh kommt. Warum? Sie ist sprachlich nicht wirklich ausgereift und offenbart zu viele Ungenauigkeiten. Wenn aus wandern „wondern“ wird, und aus Wasser „Wosser“, wirkt gleich das erste Lied unfreiwillig komisch. Die Aussprache müsste besser werden. Das hat auch der Textdichter Wilhelm Müller verdient. Rousi sollte weiter an sich arbeiten.

Bei der Winterreise lässt sich der deutsche Bariton Florian Götz vom Grundmann-Quartett begleiten. Die ebenfalls im Studio entstandene Einspielung ist bei dem in Leipzig ansässigen Label Genuin erschienen (GEN 23819). Die äußerst stimmungsvolle Fassung mit den gelegentlich eisigen Figuren der Streicher stammt von Eduard Wesly, der den Pianoforte-Part für Englischhorn, das er selbst spielt, und Streichertrio mit Ulrike Titze (Violine), Bettina Ihrig (Viola) und Ulrike Becker (Violoncello) bearbeitete. Zwischen den Liedern Einsamkeit und Die Post legt das Quartett auf der Hälfte das ebenso neu gesetzte Andantino von Schuberts Klaviersonate D 959 aus dessen Sterbejahr 1828 ein. Welcher Zweck damit verfolgt wird, bleibt zumindest im Booklet unbeantwortet. Darin findet sich lediglich ein längerer Text der Münchner Musikschriftstellerin Erika von Borries über den Dichter Wilhelm Müller, dem sie zu mehr Anerkennung verhelfen will, und Schuberts Opus. Er ist bereits vor fünfzehn Jahre erstmals veröffentlicht worden und kann schon deshalb keinen Bezug zu aktuellen Absichten der Interpreten nehmen. Die Bearbeitung macht Eindruck, verlangt aber den Hörern doppelte Aufmerksamkeit ab. Ich fühlte mich mitunter wie vor eine Wahl gestellt. Solle ich meine Aufmerksamkeit nun mehr dem Sänger oder seiner anspruchsvollen Begleitung zuwenden? Es wirken viel mehr Stimmen auf einen ein als gewohnt, zumal auch der Sänger nicht spart mit wechselnder Dynamik. Götz beginnt sehr sanft. Dadurch bleibt ihm Luft nach oben. Er weiß von Anbeginn für sich einzunehmen, was eine gute Voraussetzung für ein Werk ist, das einschließlich Pausenmusik mehr als siebzig Minuten dauert. Aber er will nicht um jeden Preis gefallen. Davon zeugen jene Momente in denen er seinen grundsätzlich wohlklingenden Bariton grell verzerrt. Manchmal hätte ich mit etwas weniger Gestaltung und dafür mehr sängerische Schlichtheit gewünscht. Der häufige Wechsel zwischen Flüsterton und Forte – im Lied Auf dem Flusse etwas auf die Spitze getrieben – verbraucht sich als künstlerisches Mittel schneller als beabsichtigt. Zumindest habe ich es so empfunden. Diese Winterreise will eben um jeden Preis ganz anders sein.

Versehen mit dem Logo Neustart Kultur ist die von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien – das Amt hat derzeit die Grünen-Politikerin Claudia Roth inne – gefördert worden. Das ist den Künstlern zu gönnen. Es stellt sich aber die Frage, nach welchen Gesichtspunkten diese Unterstützung gegeben wird – wer sie erhält und wer nicht. Hinzu kommt, dass diese Produktion nicht ohne zusätzliche Sponsoren möglich gewesen ist. Im Booklet werden sie namentlich genannt und mit einer Danksagung versehen. Florian Götz wurde an der Franz-Liszt-Hochschule in Weimar ausgebildet und war danach von 2010 bis 2014 am Erfurter Theater engagiert. Wie dem Booklet unter Hinweis auf seine Homepage zu entnehmen ist, debütierte er schon bald an den großen Pariser Opernhäusern. Stationen waren Leipzig, Karlsruhe, Düsseldorf, Amsterdam und Berlin. Auch bei diversen Festivals trat er diesen Angaben zufolge in Erscheinung.

Der aus Niederösterreich stammende Bariton Daniel Gutmann ist vielseitig unterwegs. Als Sänger gehört er zum Ensemble des Gärtnerplatztheaters in München, wo er den Papageno und Guglielmo sang. Nebenher ist er Manager, Frontman, Songwriter und Manger in einem bei seiner Countryband The Groovecake Factory, mit der er – wie auf seiner Homepage zu erfahren ist – im „In- und Ausland zahlreiche Preise gewann“. Nicht genug. An der Universität Wien brachte Gutmann, Jahrgang 1991, ein Studium als Sportwissenschaftler zum Abschluss. Man sieht es ihm an, dass er auch Wert auf Körperkultur legt. Nun hat er gemeinsam mit dem 1996 in Wien geborenen Pianisten Maximilian Kromer, bei Gramola seine erste Solo-CD veröffentlicht (99297). Auf dem Programm Lieder von Robert Schumann. Stünde der Name des Autors der literarischen Vorlagen nicht auch auf dem Cover, der Titel der Neuerscheinung „Tränenflut“ wäre Hinweis auf Heinrich Heine genug. Der hat „im Traum geweinet“, und seine „Tränenflut“ strömt noch beim Erwachen. Das Zitat führt zum letzten Lied der Dichterliebe, dem Höhepunkt der neuen CD. Vorangestellt ist dem berühmten Zyklus der Liederkreis Op. 24. Im Booklet analysiert der österreichische Musikwissenschaftler Christian Heindl die Werke und stellt auch deren zeitliche Nähe im Schaffen des Komponisten heraus. Sie sind in der ersten Hälfte des Jahres 1840 entstanden. Mit rund 140 Liedschöpfungen war es für Schumann künstlerisch eines der einträglichsten Jahre. Die Musikliteratur spricht von seinem Liederjahr. Zudem konnte Schumann im September endlich Clara heiraten. Ein Gericht hatte die Ehe gegen den heftigen Widerstand von Claras Vater Friedrich Wieck erlaubt.

Gutmann singt die Lieder nach meinem Eindruck so, als ginge das, was sich darin poetisch ereignet, vor allem ihn selbst an. Er wirkt dadurch authentisch und glaubhaft und wird damit – daran ist nicht zu zweifeln – beim Publikum ankommen. Der Vortrag geht ihm leicht über die Lippen. Manchmal zu leicht. Dafür ist er sehr gut zu verstehen, was für den Sänger in diesem Genre eine der wichtigsten Voraussetzung ist. Nicht ein Wort, nicht ein Apostroph geht unter. Ausbaufähig ist sein Legato. In dramatischen Momenten wirken manche Töne noch wie Koloraturen aneinandergereiht. Am sichersten bewegt er sich in der Mittellage. Obwohl vorhanden, kommt mir die Tiefe etwas zu künstlich erzeugt vor. Im Ausdruck wirkt nicht alles überzeugend. „Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht“ ist ein Lied, das es in sich hat, musikalisch und inhaltlich. Durch opernhafte Anleihen ist es kaum zu bewältigen. Ein Mangel an Poesie fällt vor allem bei dem Lied „Das ist ein Flöten und Geigen“ auf. Zwischen beide Zyklen platziert sind als Kontrastprogramm die dramatischen Heine-Balladen Die beiden Grenadiere und Belsazar, die auch für den Pianisten Herausforderungen darstellen, die eindrucksvoll bewältigt werden.

Auf der letzten Seite des Booklet möchten Sänger und Pianist „einigen besonderen Menschen“ danke sagen. Die Liste ist lang und schließt auch „unsere Familien, Freundinnen und Freunde“ mit ein. Die guten Söhne wissen, was sich gehört. Es wird aber auch deutlich, dass eine CD-Produktion oft viele Helfer braucht – und kein Selbstläufer mehr ist. Rüdiger Winter

Ein Hauch von Bayreuth

Im April 1954 traf in Dessau Post aus Bayreuth ein. Die Festspielleiter Wieland und Wolfgang Wagner zeigten sich in ihrem Brief an den Intendanten des Landestheaters Willy Bodenstein erfreut, dass die traditionelle Bühne eine große Richard-Wagner-Gedenk-Woche plant. „Wir beglückwünschen Sie zu diesem Entschluss, weil wir wissen, dass berufene Hände die Werke unseres Großvaters interpretieren werden.“ Diese Festwochen, es sollte bereits die zweiten ihrer Art sein, begannen – ganz nach Bayreuther Vorbild – am 8. Mai mit einer Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie und endeten am 19. Mai mit Tannhäuser. Dazwischen gab es Meistersinger, Lohengrin, den kompletten Ring und den Holländer. Umrahmt wurde das Programm von diversen Veranstaltungen. Der renommierte Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer hielt einen Vortrag über „Richard Wagner – heute“. Sein Verhältnis zu den Machthabern war noch nicht zerrüttet. Erst neun Jahre später würde er die DDR verlassen. Mitte der fünfziger Jahre war das innerdeutsche Verhältnis noch relativ entspannt. Selbst die Führung im Ostteil Berlins glaubte noch an die Wiedervereinigung, wenngleich unter ganz anderen Prämissen als der Westen. Das Interesse an den Festspielen in Dessau war also ein gesamtdeutsches. Die Kunde davon hatte selbst den Schriftsteller Thomas Mann, einen ausgewiesenen Wagner-Kenner, erreicht, der sich nach seiner Rückkehr aus der Emigration in der Schweiz niedergelassen hatte. Bereitwillig stelle er seinen Aufsatz über den Ring des Nibelungen für eine auszugsweise Veröffentlichung in der Festivalfestschrift zur Verfügung. „Die tiefe bestimmende Wirkung, die Wagners Riesenwerk auf meine Jugend geübt hatte, der kritische Enthusiasmus, den ich mir immer dafür bewahrt habe“, machten es auch ihm zum Bedürfnis, die Künstler in Dessau zu ihrem „großen Vorhaben herzlich zu beglückwünschen“, heißt es in einem handschriftlichen Schreiben, das sich in der Festschrift für 1954, die zugleich Programmheft war, als Faksimile wiedergegeben findet.

In diesem reich bebilderten Band im A4-Format taucht der Name eines Sängers auf, dessen Stimme erst jetzt wiederentdeckt wurde: Horst Wolf. Der studierte Ingenieur legte auch als Künstler größten Wert auf seinen akademischen Titel. 1954 sang er den Tannhäuser, den er auch im folgenden Festspieljahr neben Lohengrin, Loge, Siegmund, Siegfried (Götterdämmerung) und Tristan gab. Ein Pensum, das sich selbst im Bayreuth kein Heldentenor zutraute. Der Endfünfziger traute sich mit unverwüstlicher stimmlicher Energie und einer gehörigen Portion Routine. Wolf stammte aus Zwickau, wo er 1894 geboren wurde. Er war bereits vor dem Krieg in Dessau engagiert. Bei der Eröffnung des Theaterneubaus am 29. Mai 1938 in Anwesenheit von Adolf Hitler und seiner nationalsozialistischen Entourage mit Webers Freischütz war er der Max.

Von Horst Wolf gibt es keine offiziellen Platten. Angeblich soll er zeitlebens eine Abneigung gegen das „sterile Studio“ gehegt haben. Außer jenen, die ihn noch live gehört hatten, wusste also niemand wie er gesungen hat. Interessierte jüngere Opernfreunde und Sammler waren auf Kritiken und Berichte von Zeitgenossen angewiesen. Seine Stimme galt als verloren. Ein Schicksal, das er mit vielen Sängern seiner Generation teilt. Man denke nur an seine DDR-Heldentenorkollegen Ferdinand Bürgmann und Ernst Gruber, die von der Plattenindustrie links liegen gelassen wurden. Wolf hatte aber – wie übrigens auch Bürgmann in Leipzig – in seinen Vorstellungen mitschneiden lassen. Nach seinem Wünschen und Angaben ließ er sich dafür ein spezielles Tonbandgerät bauen. Um ein Haar wären alle Bänder bei einem Feuer im Januar 1980 in seinem Haus, bei dem seine zweite Ehefrau ums Leben kam, verbrannt. Was aus der Ruine des Gebäudes geborgen werden konnte, war durch Löschwasser schwer in Mitleidenschaft gezogen. Nun trat der für seine exzellenten, stets am Original orientierten Bearbeitungen bekannte Berliner Tonrestaurator Christian Zwarg auf den Plan. Das Ergebnis seiner mühevollen Kleinarbeit ist in einer Box zusammengeflossen, die bei Querstand unter dem Titel „Die wiederentdeckte Stimme – Heldentenor Dr. Horst Wolf“ erschien (VKJK 207). Für mich in jüngster Zeit eines der bemerkenswertesten Ereignisse auf dem Musikmarkt.

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Das Dessauer Theater wurde 1938 eröffnet und 1944 bei einem Bombenangriff schwer beschädigt. Nach dem Wiederaufbau begann 1949 der Spielbetrieb. / Booklet 

Wagner bildet das mit Abstand größte Kontingent der Sammlung. Nicht alle Mitschnitte stammen von den Festwochen. Wolf war auch im regulären Spielplan vertreten. Die meist hauseigenen Kräfte vermitteln stets einen starken Eindruck vom musikalischen Niveau dieses Hauses. Einer Repertoire-Vorstellung vom November 1956 entstammen Eriks beide großen Auftritte im Fliegenden Holländer: „Bleib Senta! Bleib nur einen Augenblick!“ und „Was muss ich hören? Gott, was muss ich sehn?“ Leider bricht das Finale kurz vor Schluss ab. Mit Emmy Prell als Senta tritt eine Sängerin in Erscheinung, die in Dessau über mehrere Jahre sehr aktiv war. Ihre schlanke Stimme mit enormer Durchschlagskraft erinnert mich an Anja Silja. Der Holländer ist Matthias Klein, über den für das Booklet keine Lebensdaten ermittelt werden konnten. Er ist auch in Szenen aus den Meistersingern von Nürnberg als Sachs besetzt. Für Tannhäuser vom Dezember 1954 gibt es eine ganze CD mit fast achtzig Minuten. Sie enthält die wichtigsten Szenen aus allen drei Aufzügen, nicht aber die Hallenarie und das Gebet der Elisabeth mit Emmy Prell. Aufhorchen lässt der erst fünfundzwanzigjährige Robert Lauhöfer als Wolfram, der im Jahr darauf an die Berliner Staatsoper Unter den Linden wechselte. Die Gralserzählung ist eine von drei Ausschnitten aus Lohengrin (November 1952). Der Abschied des Gralsritters endet zu abrupt, weil der furiose letzte Auftritt von Ortrud fehlt. Wie schon beim Holländer gibt die völlig ausgereizte Kapazität der CD nicht mehr her. Auch wenn die Box Horst Wolf und nicht eigentlich den dargebotenen Werken gewidmet ist, erweisen sich solche scharfen Schnitte letztlich als Manko – zumal in Wagners durchkomponierten Musikdramen.

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„Zurück vor dem Speer!“ Vilma Fichtmüller (Brünnhilde), Horst Wolf (Siegmund), Kurt Uhlig (Wotan) und Peter Roth-Ehrang (Hunding/von rechts) in der Walküre 1954 / Programmheft

Doch es geht nicht nun um Wolf. Mit der ihm gewidmeten Edition erlangt ein ganzes Kapitel deutscher Wagnerpflege akustische Konturen. Endlich ist zu hören, wie es damals klang in Dessau. In Wolf treffen wir noch auf einen Sänger alter Schule. Damit wird auch ein gravierender Unterschied etwa zum Nachkriegsbayreuth deutlich, wo die Vergangenheit nicht nur optisch sondern auch im Gesangsstil weitestgehend überwunden worden war. Nur noch zweimal, nämlich 1952 als Siegfried in der Götterdämmerung und 1954 als Siegmund kam Max Lorenz aus der Vorkriegszeit zurück und hinterließ – wie aus Mitschnitte nachzuhören – einen zwiespältigen Eindruck. Wolf hingegen war immer noch da und sang, wie er es gelernt hatte. Der anhaltende Erfolg gab ihm Recht. Von jenen seinen Kolleginnen und Kollegen, die auch in der Sammlung von Querstand dokumentiert sind, ist niemand vor 1900 geboren. Sie entstammen einer neuen Generation. Wolf bringt viel Erfahrung ein. Vor allem als Tristan in den großen Auszügen aus dem dritten Aufzug von 1955 jongliert er geschickt mit seinen Kräften. Er nimmt sich zurück, wo er zu sparen können glaubt, flüchtet sich auch mal in den Sprechgesang, um dann die Stellen, auf die es ankommt, mit großer Intensität und frappierender Wortdeutlichkeit auszufüllen. „Isolde kommt! Isolde naht!“ dürfte ihm so schnell niemand nachgesungen haben. Mit seiner stählernen Stimme, die hohen Wiedererkennungswert besitz, bohrt er sich in die Tiefen seiner Seele als verwunde er sich selbst. Trotz seines ökonomischen Gestaltens gibt er immer hundert Prozent. Die Isolde in dieser Vorstellung war Vilma Fichtmüller (1910-2008), die nur aus der Ferne mit den Worten „Tristan! Geliebter“ zu hören ist. Dafür singt sie bei den Festwochen 1956 mit Wolf als Parsifal die große Duett-Szene des zweiten Aufzugs. Da kommen immerhin fünfunddreißig Minuten zusammen. Genug, um von dieser Wagner-Sängerin endlich einen Eindruck zu bekommen.

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Vilma Fichtmüller als Isolde 1955 in Dessau. Sie ist auch in der Horst-Wolf-Edition zu hören / Programmheft

Meine jahrelange Suche nach Tondokumenten mit Vilma Fichtmüller fand nun ein glückliches Ende. Neugierig hatten mich ihre Erinnerungen gemacht, die 2003 in Buchform bei der Druck und Verlags GmbH Holler in Karlsruhe, wo die Sängerin schon in den dreißiger Jahren engagiert war, herauskamen. Dessau ist in diesen Memoiren ein eigenes großes Kapitel gewidmet. Trotz der den politischen Verhältnissen geschuldeten Schikanen, die ihr widerfuhren, blickte sie dankbar zurück: „In Dessau fühlte ich mich heimischer als in Karlsruhe.“ Sie war über mehrere Jahre eine feste Stütze des Ensembles und trat auch in Opern anderer Komponisten auf. Ihre Elektra fand viel Aufmerksamkeit und soll sogar vom DDR-Rundfunk aufgezeichnet worden sein, wo sie aber nicht mehr auffindbar ist. In der Edition ist sie auch als Marta in großen Ausschnitten aus d’Alberts Tiefland vom 12. Juni 1956 dokumentiert. Wolf, der den Pedro singt, hatte nicht seinen besten Tag. Er verließ die Gesangslinie zu oft. Ein alter Freund, der die Fichtmüller noch auf der Bühne erlebte, erzählte mir, dass die hoch gewachsene blonde Frau eine Figaro-Gräfin gewesen sei, nicht aber eine Isolde oder Brünnhilde.  Ich muss ihm widersprechen. Die Fichtmüller ist alles andere als eine Mozart-Sängerin. Vielmehr verkörpert sie – gemessen an den Tondokumenten – mit ihrem schlanken Sopran einen neuen hochdramatischen Typ, der Stimme und Erscheinung in Einklang zu bringen suchte. Sie agiert sehr intensiv, mitunter etwas scharf – und nicht gerade schön. Man ahnt, dass ihre Auftritte – wenn auch nicht auf meinen Freund – für große Teile des Publikum elektrisierend gewesen sein müssen.

Programmheft in Buchform für die Wagner-Festwochen 1954 in Dessau

Nur in privaten Sammlungen hatten sich bisher einige Szenen von Aufführungen der Dessauer Festspiele von 1954, 1962 und 1963 erhalten. Wer sie hat aufnehmen lassen, ist nicht bekannt. Wolf scheidet aus, weil er nirgends mitwirkt. Ein inzwischen verstorbener Sammler hatte sie mir für den eigenen Gebrauch überlassen. Deren Klang steht dem, was die neue Edition zu bieten hat, nicht nach. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ich tippe auf professionelle Mitschnitte. Zum Bestand des Deutschen Rundfunkarchivs gehören sie aber nicht – oder nicht mehr, wie Recherchen ergaben. Künstlerisch werden unter der musikalischen Leitung der Dessauer Generalmusikdirektoren Erich Riede und Heinz Röttger, die auch Hort Wolf begleiten, packende Eindrücke vermittelt. Die Attraktivität der Dokumente beruht nicht zuletzt darauf, dass  namhafte Gäste hinzugezogen wurden: Rudolf Gonszar (Sachs und Wotan), Erich Witte (Stolzing) Ruth Keplinger, die die Eva auch bei der Wiedereröffnung der Berliner Staatsoper sang, und Brünnhild Friedland (Elisabeth). Erwähnenswert ist neben Joachim Sattler und Günther Treptow ein weiterer Dessauer Siegfried jener Jahre: Hans Wolfgang Vogt-Vilseck. Es ist wenig über ihn in Erfahrung zu bringen. Werner P. Seiferth vermerkt in seiner Dokumentation „Richard Wagner in der DDR“, dass er vorwiegend in der Bundesrepublik tätig war, in der ersten Hälfte der 50er Jahre als Gast-Heldentenor auch in der DDR auftrat. Mehr nicht.

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Brünnhild Friedland sang bei den Festwochen 1954 die Elisabeth in „Tannhäuser“ / Programmheft

Die Richard-Wagner-Pflege in Dessau währt bis in die Gegenwart – wenngleich nicht mit dem Enthusiasmus und der Intensität von einst. Sie beruht auch darauf, dass der Komponist selbst in der Stadt weilte. Seine erste Frau Minna gehörte dem Schauspielensemble an. 1857 wurde im alten Herzoglichen Hoftheater, dem Vorgängerbau des jetzigen Landestheaters, mit Tannhäuser die erste Wagner-Oper gegeben. Für die Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses mit dem Ring des Nibelungen 1876 stellte Dessau dreizehn Musiker. Nach der Aufführung der einzelnen vier Teile 1892 folgten im Jahr darauf erstmals zwei geschlossene Darbietungen des Bühnenfestspiels durch den leitenden Dirigenten August Klughardt, der inzwischen als Komponist wiederentdeckt wurde. Cosima Wagner setzte 1894 Humperdincks Hänsel und Gretel in Szene, wofür ihr der Komponist den so genannten Dessauer Schluss schuf – zu hören als Appendix der Gesamtaufnahme unter Donald Runnicles bei Teldec. Fazit ihres Aufenthaltes: „Dessau ist diejenige Stadt, in der nächst Bayreuth die Wagnerschen Werke am vollendetsten und getreuesten im Geiste ihres Schöpfers dargestellt werden.“ Anders als in Bayreuth wurde in Dessau auch Rienzi gespielt. Bei der Premiere am 22. Dezember 1956 sang – wie hätte es auch anders sein können – Wolf die Titelrolle. Der Mitschnitt des inbrünstig vorgetragenen Gebets Allmächt’ger Vater, blick herab“ in der Edition stammt aber nicht aus Dessau sondern aus Gera, wo die große Oper 1959 auf dem Spielplan stand. Im letzten Kriegsjahr 1944 gab es am 1938 eröffneten Theaterneubaus, der mit seinen 1250 Plätzen als damals größte Bühne nördlich der Alpen galt, schwere Bombenschäden, die 1949 behoben waren.

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„Nothung! So nenn‘ ich dich Schwert“: Horst Wolf und Emmy Prell sind als Siegmund und Sieglinde auch in der Edition vertreten / Programmheft

Der Neubeginn vollzog sich tastend und nicht so radikal wie im Bayreuth der Wagner-Enkel. Bühnenbilder wie sie in den Festschriften abgelichtet sind, erinnern am Emil Praetorius. „1959 war der Höhepunkt der Richard-Wagner-Festwochen bereits erreicht, ja überschritten“, heißt in dem historischen Abriss von Ronald Müller, der seit 1990 Dramaturg für Konzert und Musiktheater am Anhaltischen Theater ist. Als gesamtdeutsches Ereignis hätten sie 1960 zum achten und letzten Mal stattgefunden. Im Jahr darauf wurde die Berliner Mauer errichtet und mit ihr die Teilung Deutschlands für die nächsten achtundzwanzig Jahre zementiert.

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Das Booklet, in dem sich auch der Text von Müller findet, ist so inhaltreich wie übersichtlich gestaltet. Es gibt viele Fotos und biografische Notizen – so ermittelbar – zu den Mitwirkenden. Mit Verweis auf die von Ernst A. Chemnitz herausgegebenen Lebenserinnerungen des Sängers, die 2020 in Anspielung auf die Oper Tiefland mit dem schönen Titel „Wolfserzählung“ bei  Kamprad erschienen und auch bei Operalounge.de besprochen wurden, wird die Biographie von Horst Wolf zusammengefasst.

Und das Arbeitsprotokoll vom Klangrestaurator Christan Zwarg liest sich spannend wie ein Krimi: „Horchen Sie hinein ins Dessauer Landestheater vor siebzig Jahren. Und wenn Ihnen dann Dr. Horst Wolf und seine Kollegen sozusagen lebensecht vor Ohren stehen, hat sich der ganze Aufwand gelohnt!“ Rüdiger Winter (Foto oben: Rienzi-Statue vor dem Kapitol in Rom/ Foto Winter)

Gegensätze

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Großer können Gegensätze nicht sein. Auf seiner neuen CD stellt der Bass-Bariton Thilo Dahlmann Deutsche Volkslieder von Johannes Brahms den Holocaust-Liedern von Norbert Glanzberg gegenüber. Sie sind bei Challenge Records herausgekommen (CC72934). Am Klavier wird Dahlmann von Hedayet Jonas Djeddikar begleitet. Der in Basel geborene Pianist wirkt an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst als Lehrkraft für besondere Aufgaben, Liedgestaltung und Korrepetition. Neben der Repertoirepflege widmet er sich selten gespielter Werke. Zu diesem Zweck gründete er in Frankfurt die Konzertreihe „RARE WARE Lied“. Beim internationalen Johannes-Brahms-Wettbewerb in Pörtschach am Wörther See in Österreich ist er als offizieller Begleiter tätig. Dahlmann gehörte nach seinem Gesangsstudium an der Essener Folkwang-Hochschule 2007 zunächst dem Opernstudio des Zürcher Opernhauses an. Ein Ratgeber war ihm der Bariton Roland Hermann. Wenngleich auch in der Oper erfahren, hat sich Dahlmann vornehmlich als Konzert- und Liedsänger etabliert. Er lehrt als Professor für Gesang an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart.

Brahms hatte lebenslang eine starke Bindung an Volkslieder, die er auch als Inspirationsquelle empfand. Entsprechende Spuren finden sich in fast allen seinen Werken. In seinen feinsinnigen Bearbeitungen solcher Lieder für Solostimmen und Chöre versuchte er stets, den schlichten Tonfall der musikalischen Überlieferungen zu bewahren, sie gleichzeitig aber zu großer Kunst zu erheben. Interpreten sehen sich dadurch vor große Herausforderungen gestellt, mit denen in diversen Einspielungen sehr unterschiedlich umgegangen wird.

Die bekannteste von mehreren einschlägigen Werkgruppen sind die Deutschen Volkslieder WoO 33 mit 49 Titeln, für die sich Dahlmann entschieden hat. Er singt allerdings nur 16 Lieder in einer eigenen Reihenfolge. Mit „In stiller Nacht“, „Sagt mir, o schönste Schäf’rin mein“ oder „Da unten im Tale“ sind die wohl populärsten Lieder dabei. Dahlmann singt sie ohne jede Übertreibung sehr deutlich und klar, versehen mit einem Hauch Melancholie.

Auch dadurch wird der Zusammenhang mit dem anderen Teil des Programms, den Holocaust-Liedern von Glanzberg, deutlich. „Gerade dieser Gegensatz verdeutlicht in unseren Augen das Zerbrechen der menschlichen und zivilisatorischen Kultur durch die Schrecken des Holocaust“, schreiben beide Interpreten im Booklet. Ein Zerbrechen, das Glanzberg in seinem Zyklus meisterlich in Töne gesetzt habe.

Im Booklet wird auch die dramatische Lebensgeschichte dieses jüdischen Komponisten durch den Musikwissenschaftler Lutz-Werner Hesse erzählt. Glanzberg wurde 1910 in der Nähe von Lemberg geboren. Nach dem Umzug seiner Familie nach Würzburg begann dort seine musikalische Ausbildung. Einer seiner Förderer war Emmerich Kálmán, der auch sein kompositorisches Talent entdeckte. In der Folge schrieb Glanzberg Musik für UFA-Filme und die Comedian Harmonists. Vor den Nationalsozialisten floh er nach Paris, wo ihn die Chansonsängerin Edith Piaf versteckt hielt. Erst nach dem Krieg konnte er öffentlich auftreten, komponierte für die Piaf und Yves Montand und nahm auch seine Arbeit für den Film wieder auf. Hesse: „1980 brach er mit seiner musikalischen Vergangenheit und wandte sich der so genannten ,ernsten‘ Musik zu.“ „Ernst“ treffe es insofern in idealer Weise, als die Themen seiner wenigen Werke samt und sonders seiner jüdischen Identität und dem Schicksal jüdischer und verfolgter Künstler in  den Jahren zwischen 1933 und 1945 gegolten hätten. Dazu gehören auch die bewegenden Holocaust-Lieder. Rüdiger Winter

Klavier statt Orchester

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Gustav Mahler. Das Lied von der Erde für eine hohe und eine mittlere Gesangsstimme mit Klavier. Gemeinsam mit ihren Pianisten Gerold Huber haben der Tenor Piotr Beczala und der Bariton Christian Gerhaher diese Version für ihre Einspielung bei Sony gewählt (19568795702). Wieder eine der in die Mode gekommenen Bearbeitungen? Mitnichten. Es handelt sich um ein Original, das auf den Komponisten selbst zurückgeht. Schon auf den ersten Blick fallen Unterschiede zur gebräuchlichen Version, die sehr oft eingespielt und mitgeschnitten wurde, auf. Das dritte Lied ist mit „Der Pavillon aus Porzellan“ und nicht mit „Von der Jugend“ überschrieben, das folgende heißt „Am Ufer“ statt „Von der Schönheit“. Und „Der Trunkene im Frühling“ ist hier – weniger prosaisch – der „Trinker“.

Der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke hat sich mit der Entstehungsgeschichte intensiv beschäftigt. Nach seiner Einschätzung stellt die eingespielte Version „keine Vorstufe zur Orchesterfassung“ dar. Vielmehr sei sie gleichberechtigt neben ihr. Die Differenzen am Textstand seien minimal, „und beim dritten und fünften Satz ging der Partiturentwurf der Klavierfassung wohl voraus“. Zudem habe Mahler von 1892 an mit einer Ausnahme alle Lieder zugleich für Klavier und Orchester vorgesehen. Von „definitiven Endfassungen“ könne bei ihm, ohnehin keine Rede sein, weil er in den Texten bei jeder Aufführung nachbesserte. Allerdings nicht beim Lied von der Erde, „weil er es nie gehört hat“. Wie Gülke im Booklet weiter schreibt, sollte man es sich mit dieser Gleichberechtigung beider Versionen nicht zu leicht machen. „Es bedarf keiner direkten Erinnerung an die bekannte Fassung, um überall Orchesterinstrumente mitzuhören.“ Einerseits vertieft Gerold Huber am Klavier diesen Eindruck noch, indem er seinem Instrument musikalische Bilder und Farben entlockt, wie sie sonst nur ein mehrstimmiger Klangkörper hervorzubringen in der Lage ist, andererseits aber hat er in mir zu keiner Zeit das Verlangen nach einem klassischen Orchester geweckt. Gülke behält also Recht mit seiner Feststellung, dass beide Versionen ihre Gleichberechtigung behauten können.

Der Tenor sei „stärker Solist in dem, was ihm – auch an anstrengender Höhe – abverlangt wird“, stellt Gülke heraus und findet dazu interessante Vergleiche aus der Opernliteratur. In seinem ersten Gesang (Das Trinklied vom Jammer der Erde), sei er Tannhäuser, im zweiten (Der Pavillon aus Porzellan), Tamino und im dritten (Der Trinker im Frühling), Pedrillo. Wobei es sowohl im Booklet als auch auf der Rückseite der CD-Hülle keinen direkten Hinweis darauf gibt, wer was singt. Stillschweigend wird vorausgesetzt, dass die Hörerschaft einen Tenor vom Bariton unterscheiden kann. Beczala, der mit Zustimmung und Unterstützung des Labels Pentatone für die Produktion gewonnen werden konnte, ist eine gute Wahl. Mir fällt auf Anhieb niemand anderes ein, der statt seiner hätte besetzt werden können. Er wirkt jung, überschäumend und – dies ganz im Sinne des Stückes – unbedenklich. Niemals grüblerisch. Technisch bereiten ihm die schwierigen Passagen nicht die geringsten Schwierigkeiten. Er klingt auch dann noch schön, wenn er in technisch fast unsingbare Bereiche gelangt. Jedes Wort, jede  sprachliche Regung sind zu verstehen. Man könnte den Text mitschreiben, wenn er denn nicht im Booklet abgedruckt wäre. Beczala agiert auch opernhafter als sein Kollege Gerhaher und bestätigt damit die von Gülke verwendeten Assoziationen mit konkreten Opernfiguren. Gülkes Fazit: „Das mit Klavier realisierte Lied von der Erde ist gewagtere, zugleich intimere Musik, es zwingt die Singenden, anders, feiner nuanciert zu singen als mit Orchester und die Hörenden, intensiver zu hören, den abstrakten Klang in die mitgemeinte, rhetorische Farbigkeit imaginativ zu verlängern.“

Der Dichter Hans_Bethge (1913)/ Wikipedia

Alles in diesem Werk läuft auf den Abschied hinaus. Dieser Schlusssatz des auch als Sinfonie apostrophierten Werkes dauert mit seinen siebenundzwanzig Minuten fast genauso lange wie die vorangegangenen Nummern zusammen. Auch dadurch wirkt das Lied von der Erde wie zweigeteilt, was in der Klavierfassung nach meinem Eindruck noch stärker auffällt. Nun schlägt die Stunde für Christian Gerhaher, der auch genau richtig besetzt ist. Er ist fast auf sich allein gestellt. Das auch eigenständig agierende Klavier kann im Vergleich mit einem Orchester nur bedingt Halt geben, auf den er aber letztlich nicht angewiesen ist. Stimme und Gestaltung sind bei ihm eins. Es ist eine Stärke des Sängers, diese beiden Seiten seiner Kunst stets so eng wie möglich zu verknüpfen. Stimme allein ist nicht bei Gerhaher. Eher neigt er – wenn man das so sagen darf – zur Überinterpretation. Ich erinnere mich an einen konzertanten Tannhäuser, wo er sich als Wolfram im dritten Aufzug aus dem Ensemble derart zu separieren schien, als gebe er ein solistisches Konzert. So ein Eindruck kann hier nicht entstehen, denn es ist ja niemand neben ihm als der Pianist. „Die Vögel hocken still in ihren Zweigen. Die Welt schläft ein.“ Wenn es nicht ganz von selbst geschieht,  empfiehlt es sie, an dieser Stelle den Atem anzuhalten, um die ganze Wirkung auszukosten.

Sarah Charles Cahier sang den Mezzo-Part in der Uraufführung des „Lied von der Erde“ (hier als Glucks Orfeo/ Wikipedia)

Den Text gewann Mahler aus dem 1907 erschienen Gedichtband „Die chinesische Flöte“ von Hans Bethke (1876-1946), der viel gelesen wurde und durch die Insel-Bücherei eine große Verbreitung fand. Bethke sprach kein Chinesisch. Er griff bei seinen Nachdichtungen auf englische und französische Übersetzungen zurück und dürfte auch eigene Empfindungen aus seiner Zeit, der Moderne mit dem Symbolismus, beigemischt haben, wodurch sich die Dichtungen immer weiter vom chinesischen Original entfernten. Seine ungebundenen Verse inspirierte neben Mahler und in seiner Folge eine Vielzahl anderer Komponisten zu Vertonungen, darunter Strauss, Schönberg, Webern, von Einem und Eisler. Bleiben wir noch beim Abschied und nehmen die bereits zitierten Zeilen in der Fortsetzung wieder auf: „Es wehet kühl im Schatten meiner Fichten. / Ich stehe hier und harre meines Freundes. / Er kommt zu mir, der es mir versprach. Ich sehne mich, o Freund, an deiner Seite / die Schönheit dieses Abends zu genießen.“ Spätestens bei der nun folgenden Zeilen wird eine betont männlich-männliche Konnotation deutlich: „Er stieg vom Pferd und reichte ihm den Trunk / des Abschieds dar. Er fragte ihn, wohin er führe / und auch, warum es müsse sein. / Er sprach, seine Stimme war umflort. Du, mein Freund / mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold.“ Mir drängt sich der Eindruck auf, als lasse Bethke den Topos der idealisierten Männerfreundschaft aus der Romantik noch einmal aufleuchten.

William Miller sang der Tenorpart in der Uraufführung von Mahlers „Lied von der Erde“ (hier als D´Alberts Sebastiano/ Mahler Foundation)

Die Uraufführung des Werkes fand am 20. November 1911 – ein halbes Jahr nach dem Tod des Komponisten – in München statt. Bruno Walter dirigierte das Konzertvereinsorchester, aus dem später die Münchner Philharmoniker hervorgingen. Gustav Mahler selbst hatte mit diesem Klangkörper, der sich zunächst nach seinem Gründer, dem Pianofabrikantensohn und Konzertveranstalter Franz Kaim (1856-1935) nannte, seine vierte und seine achte Sinfonie aus der Taufe gehoben. Der Dirigent stand Mahler sehr nahe. Er war sein künstlerischer Testamentsvollstrecker. Mit Walters Namen sind maßstäbliche Darbietungen und Platteneinspielungen verbunden, die als authentisch gelten können. Als Solisten wirkten bei der Uraufführung die aus den USA stammende Altistin Sarah Charles Cahier (1870-1951) und ihr Landsmann, der Tenor William Miller (1880-1925), mit. Beide hatten noch unter Mahlers Leitung an der Wiener Hofoper gesungen – die Cahier als Carmen, Ortrud, Erda, Brangäne, Sesto und Adriano; Miller vornehmlich in Heldentenorpartie. Beider Deutsch war vortrefflich. Während von der Altistin sogar zwei Mahler-Aufnahmen, nämlich Urlicht aus der 2. Sinfonie und das Rückert-Lied “Ich atmet‘ einen Linden Duft“ überliefert sind, fanden sich von Miller bisher keine Tondokumente. Sarah Charles Cahier singt stilistisch perfekt und mit starker innerer Erregung wie sie sich später so ähnlich bei Kathleen Ferrier finden sollte. Nach dem Gründer des Orchesters Franz Kaim war in München auch die Stätte der Uraufführung in der Maxvorstadt benannt. Später hieß dieser große Konzertsaal im prachtvollen Louis-Seize-Stil, der 1944 bei einem Bombenangriff zerstört wurde, Tonhalle. Vor diesem historischen Hintergrund ist es ein schöner Zufall, dass die neue Einspielung von Sony 2020 Studio II des Bayerischen Rundfunks in München entstand. Rüdiger Winter

Liedermarathon

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Liedaufnahmen erfreuen sich anhaltender Konjunktur. Einst gingen in den Studios Sängerinnen und Sänger gemeinsam mit ihren Begleitern auf der Suche nach Vollendung im Ausdruck bis an ihre Grenzen ihrer Fähigkeiten. Vom britischen Produzenten Walter Legge (1906-1979) ist ein Satz überliefert, mit dem er seinen hohen Anspruch zusammenfasst: „Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden.“ Legge betreute viele Einspielungen aller Genres, die nie vom Markt verschwunden sind. Hugo Wolf stand im Zentrum. Das weit verbreitete Interesse am Lied dürfte auch seinem nachhaltigen Wirken zu danken sein. Mit den Jahren ist das Spektrum immer breiter geworden. Es tauchen Komponisten aus der Vergangenheit auf, die aus sehr unterschiedlichen Gründen in Vergessenheit gerieten. Bernhard Sekles (1872-1934) ist einer von ihnen. Er studiere am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Mai bei Engelbert Humperdinck. Nach der Ausbildung zum Dirigenten wirkte an Opernhäusern und kehrte 1923 als Direktor an das Konservatorium zurück. Dort gründete es gegen den Protest konservativer Kreise die europaweit erste Jazz-Klasse. Die Nationalsozialisten entfernten den gebürtigen Juden 1933 aus seinem Amt und verboten seine Werke. Der reiche kompositorische Nachlass von Sekles ist kaum erschlossen.

Doch es kommt Bewegung auf. Innerhalb kürzester Zeit sind gleich zwei Alben mit Liedern auf den Markt gelangt. Von hr2, dem Kulturprogramm des Hessischen Rundfunks hat Hänssler Classic Lieder und Klavierwerke übernommen (HC 22008). Die Sopranistin Tehila Nini Goldstein singt den Zyklus Aus Schi-King. Dabei handelt es sich um achtzehn Lieder für hohe Stimme und Klavier nach der Übertragung ins Deutsche von Friedrich Rückert op. 15 – so der vollständige Titel. Der Legende nach sollen die Lieder vom chinesischen Philosophen Konfuzius gesammelt worden sein, was sich in neuen Forschungen aber nicht bestätigte. Sekles erfand dazu eine Tonsprache in teils kräftigen Farben, denen die Sängerin, die sich bei Hänssler auch mit anderen Wiederentdeckungen von in Vergessenheit geratenen Komponisten einen Namen machte, engagiert gerecht zu werden versucht. Im Booklet sind die Texte abgedruckt. Begleiter ist der russische Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov, der an der Musikhochschule „Franz Liszt“ in Weimar und an der Universität in Jena lehrt. Er bestreitet die zweite CD des Albums mit Fantasietten, 23 kleinen Stücken für Klavier solo, op. 42 und steuert zudem einen sehr informativen Textbeitrag über Sekles bei. Bei Toccata Classics hatten sich zuvor der Tenor Malte Müller und der Pianist Werne Heinrich Schmidt ebenfalls dem Liedschaffen von Bernhard Sekles zugewandt (TOCC 0651). Im Zentrum ihrer CD steht ebenfalls der Schi-King-Zyklus. Laut Onlinedatenbank LiederNet ist Sekles der einzige Komponist, der sich den Versen zuwandte.

Bei Toccata Classics wandten sich der Tenor Malte Müller und der Pianist Werne Heinrich Schmidt seinem Liedschaffen zu (TOCC 0651). Im Zentrum ihrer CD steht der Zyklus Aus Schi-King op. 15. Der Legende nach sollen die Lieder vom chinesischen Philosophen Konfuzius gesammelt worden sein, was sich in neuen Forschungen aber nicht bestätigte. Sekles griff auf die Nachdichtung von Friedrich Rückert zurück und erfand dazu eine Tonsprache in teils kräftigen Farben, denen der Sänger engagiert gerecht zu werden versucht. Laut Onlinedatenbank LiederNet ist Sekles der einzige Komponist, der sich den Versen zuwandte.

Seinen russischen Zeitgenossen Nikolai Medtner (1880-1951) widmet Brilliant Classic eine Edition der kompletten Lieder, die inzwischen bei Volume 4 angelangt ist (96066). Medtner, der ein Gegner der Oktoberrevolution war, emigrierte 1921 zunächst nach Berlin und lebte drei Jahre in der Stadt. Er hatte deutsche Wurzeln. Daraus erklärt sich auch seine geistige und künstlerische Nähe zu Deutschland. Seines ehr traditionellen Stils wegen nannten ihn Kritiker den „russischen Brahms“. Die neue Einspielung entstand 2022 in den Niederlanden und besteht aus Lieder nach Texten von Goethe und Heine. Sie sind in vier Werkgruppen unterteilt. Alle Lieder der Sammlung werden von der Mezzosopranistin Ekaterina Levental dargeboten. Ihr Begleiter ist Frank Peters, der am Amsterdamer Konservatorium studierte und nun dort auch selbst lehrt. Die Sängerin stammt aus Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans, und durchlief ihre musikalische Ausbildung in Den Haag, Detmold und Rotterdam. Sie ist international aktiv und vielseitig unterwegs – auch als Opernsängerin. Ihr Interpretationsansatz wirkt etwas zu robust und zu dramatisch. Die Stimme findet nur selten in lyrische Ausdrucksbereiche. Vor allem jene Lieder, die auf sehr bekannte Gedichte Goethes zurückgehen wie Nachtlied II („Über allen Gipfeln ist Ruh'“) oder Mignon („Nur wer die Sehnsucht kennt“) lassen entsprechendes Einfühlungsvermögen vermissen. Hinzu kommt, dass die Sängerin im Umgang mit der deutschen Sprache nicht genug geübt ist, um sich präzise verständlich zu machen.

Insomnia. Diesen Titel haben Katharina Konradi und der Pianist und Gitarrist Ammiel Bushakevitz ihrer CD mit Liedern von Franz Schubert gegeben. Sie ist bei BR Klassik/Berlin Classics herausgekommen (0302961BC). Warum Insomnia, wird die aus Kirgisistan stammende Sängerin, die mit fünfzehn Jahren nach Deutschland kam und hier ihre neue Heimat fand, im Booklet von jemanden gefragt, der sich nicht zu erkennen gibt: „Wenn man schlecht schläft, bzw. die Nächte wach liegt, kommen dem Menschen allerlei Bilder, Fantasien und Gefühle ins Gemüt, die einem unter der Einwirkung der Dunkelheit oder der Dämmerung meistens konfus, übergroß und sehr existenziell vorkommen. So ist es bei unserer Lied-Auswahl: Die Stücke behandeln die großen Gefühle wie Liebe, Tod, Hass, Sehnsucht unter dem Brennglas nächtlichen Empfindens.“ In der Trackliste tauchen sehr bekannte und weniger bekannte Titel auf. Der Zwerg ist dabei, Nacht und Träume, An den Mond, Ständchen. „Der Vollmond strahlt auf Bergeshöh‘n“, die Romanze aus der Schauspielmusik zu Rosamunde gehört zu den Werken, die Bushakevitz nach eigenem Arrangement auf der Gitarre begleitet. Zu Nacht und Träume hätte man sich am Ende doch lieber das Klavier gewünscht, das weiche, sanfter und entrückter klingt als das Lauteninstrument.

Das tschechische Label Supraphon hat für eine CD mit Gesängen aus Des Knaben Wunderhorn von Gustav Mahler den deutschen Bariton Peter Schöne engagiert (SU 4322-2). Das hat den Vorteil, dass er als Muttersprachler sehr wissend mit den Texten von großer literarischer Qualität umgehen kann. Schöne ist seit 2017 Mitglied des Saarländischen Staatstheaters und gibt neben seinen Opernauftritten Lieder- und Konzertprogramme. Begleitet wird er vom Prager Philharmonia Octet. Dadurch gewinnen die Gesänge an kammermusikalischer Durchsichtigkeit. Für die Aufnahme wurde eine spezielle Zusammenstellung getroffen. Schöne singt nicht alle zwölf Titel jener zwischen 1892 bis 1898 entstandenen Gedichtsammlung für Singstimme und Orchester, die erst später als Zyklus ein Eigenleben zu führen begann. Es fehlen Verlorene Müh‘, Trost im Unglück, Wer hat das Liedlein erdacht? und – was schade ist – Revelge. Dafür wurden Urlicht (vierter Satz der zweiten Sinfonie) und „Es sungen drei Engel“ (fünfter Satz der dritten Sinfonie), die ursprünglich Teile der Orchesterlieder waren, wieder hinzugenommen. Unterbrochen werden die Gesangsnummern mit Scherzo und Blumine, zwei Sätzen aus Urfassung der 1. Sinfonie, die alsbald verworfen wurde. Im Booklet werden die Hintergründe ausführlich beleuchtet. Rüdiger Winter

Traditionell und sehr tonal

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Um eine Annäherung an das vielseitige Werk des dänischen Komponisten Paul von Klenau bemüht sich Dacapo Records in Kopenhagen. Jetzt wurde eine neue CD mit dem Singapore Symphony Orchestra unter der Leitung von Hans Graf veröffentlicht (8.224744). Sie enthält die 8. Sinfonie von 1942, das Violinkonzert (1941) und das Klavierkonzert (1944). In ihrer musikalischen Anlage sind alle drei Werke traditionellen klassischen Formen verpflichtet. Die Sinfonie hat vier Sätze, die Konzerte sind jeweils dreisätzig. „Im alten Stil“ lautet der Titel der Sinfonie. Dieser Zusatz findet sich auch bei anderen Komponisten. Klenau scheint ihn als Verweis auf die Wurzeln seiner Musik zu verstehen. Einfälle und Themen werden mit großer Leichtigkeit tänzerisch ausgebreitet. Es gibt keine dunklen spätromantischen Reminiszenzen, keine Grübeleien. Nichts scheint überflüssig und in die Länge gezogen. Insgesamt kommt die von Graf straff dirigierte 8. Sinfonie mit nur knapp vierzehn Minuten aus. Noch etwas länger dauert allein der ersten Satz des Violinkonzerts mit dem chinesischen Geiger Ziyu He, das weniger schwermütig wirkt als das mächtige Klavierkonzert, das von Soren Rastogi aus Dänemark gespielt wird. Bei allen drei Kompositionen handelt sich um Spätwerke, die unter deutscher Besatzung entstanden sind.

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Klenau, der einer deutschstämmigen Familie entstammte, starb 1946 in seiner Heimatstadt Kopenhagen. Seine engen Bindungen an Deutschland reichen bis in seine Jugend zurück. Als Neunzehnjähriger ließ er sich 1902 in Berlin nieder und studierte zunächst bei Max Bruch. Später nahm er bei Ludwig Thuille und Max von Schillings Unterricht. Seine erste Sinfonie wurde 1908 in München uraufgeführt. Dänische Komponisten sind nicht eben häufig anzutreffen auf deutschen Konzertspielplänen. Carl Nielsen noch an häufigsten. Gelegentlich Niels Wilhelm Gade und Rued Langgaard. Nach Paul von Klenau muss lange gesucht werden. Als die Wehrmacht 1940 in Dänemark einmarschierte, kehrte er in seine Heimat zurück. Seine Nähe zu den Nationalsozialisten liegt wie ein dunkler Schatten über seinem Werk und seiner Person. Er sah für seine musikalischen Ordnungsprinzipien, eine Entsprechung in der die nationalsozialistische Kunst, wollte nach eigenem Bekunden eine Musik schaffen, die der nationalsozialistischen Welt durch „ethische Volksnähe und ein handwerkliches Können“ entspreche. Darauf verweist die Musikwissenschaftlerin Nina Jungnickl, die sich in ihrer Diplomarbeit über Oper in der NS-Zeit am Beispiel der Württembergischen Staatsoper Stuttgart, in der sie sich auch mit Klenau beschäftigt. Seine Opern Michael Kohlhaas und Rembrandt van Rijn waren dort in der Spielzeit 1933/1934 bzw. 1936/1937 uraufgeführt worden.

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Zunächst waren bei Dacapo erste und die 1. und die 5. Sinfonie, gekoppelt mit der Symphonischen Fantasie Paolo und Francesca aufgenommen worden (8.224134). Der sinfonische Erstling in fünf steht noch ganz unter dem Eindruck seines Lehrers Schillings. Die Hörner im vierten Satz lassen an ein Scherzo von Bruckner denken. In das Finale fällt die Orgel ein und verbindet sich mit dem dunklen Blech zu einem feierlichen Abschluss, der von Beckenschlägen gekrönt wird. Mit ihrem vorwärtsdrängenden Beginn wirkt die fünfte Sinfonie aus dem Jahr 1939, die knapp zwölf Minuten dauert, traditioneller und konservativer als die erste. Mit Paolo und Francesca greift der Komponist wie zuvor schon in seiner vierten Sinfonie, die noch der Entdeckung harrt, eine Legende aus Dantes Göttlicher Komödie auf. Dort tritt Francesca in der Hölle als Verstorbene auf. Im wahren Leben war sie die Tochter des Herren von Ravenna wurde von ihrem Ehemann zwischen 1283 und 1286 getötet, weil sie sich dessen Bruder Paolo hingab. Mit unterschiedlichen Akzenten inspirierte die Geschichte auch andere Komponisten – darunter Riccardo Zandonai, Hermann Goetz, Peter Tschaikowski und Serge Rachmaninow sowie Maler und Bildhauer. Klenau kommt 1913 mit dem Thema relativ spät. Er gestaltet es aufwühlend und leidenschaftlich, doch kalt, fast schon eisig, erbarmungslos – und ohne einen Hauch von Hoffnung. So passt es sich in die Zeit ein, wird zu ihrem Ausdruck.

Im Zentrum einer weiteren CD steht die 7. Sinfonie, die Sturmsymphonie aus dem Jahr 1941 (8.224183). Die Bezeichnung beinhalte kein Programm, wird der Komponist vom Autor des Booklets, Thomas Michelsen, zitiert. Sie beziehe sich ausschließlich auf die Bewegung und den dramatischen Charakter des Werkes, das stellenweise sehr grüblerisch wirkt. Michelsen: „Ausgehend von der siebten Sinfonie ist insgesamt festzustellen, dass Klenaus Zwölftonmusik in ihrem melodischen und phrasierenden Aufbau ausgesprochen traditionell klingt und aufgrund der Harmonik sehr tonal wirkt.“ Und abermals fällt vor allem im zweiten Satz, einem Adagio, die Nähe zu Bruckner auf. Auf die Sinfonie folgt die Ballett-Ouvertüre Klein Idas Blumen nach einem Märchen von Hans Christian Andersen. Unter dem Titel Die Blumen der kleinen Ida findet sich die Geschichte von den Blumen, die welken und sterben, weil sie sich nachts beim Tanzen auf rauschen den Festen verausgaben, in deutschen Sammlungen. Für den rührseligen Blumentod bietet Klenau ein großes Orchester auf, das mit seinen wild auffahrenden Walzerklängen einen seltsamen Kontrast zur zarten Melancholie der Vorlage bildet.

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Der dänische Komponist Paul von Klenau/ Poträtsammlung Manskopf

Bei dem Liederzyklus Gespräche mit dem Tod für Altstimme und Orchester ist das Verhältnis zwischen Inhalt und Form angemessener dargestellt. Er entstand 1916 mitten im Ersten Weltkrieg. Der Tod erscheint als Freund und wird als solcher begrüßt: „Reich mir die Hand, o Tod und lass uns eilen, und leite vorwärts mich solang ich rückwärts blicke.“ Dichter des Textes ist Rudolf Binding (1867-1938). Bindung war ein höchst widersprüchlicher Geist. Streng deutsch-national gesinnt, stand er den Nationalsozialisten noch vor deren Machergreifung nahe. Andererseits hielt er bis zu seinem Tod an seiner Beziehung zur Jüdin Elisabeth Jungmann fest, die er auf der Ostseeinsel Hiddensee als Gerhart Hauptmanns Sekretärin kennenlernte. Der Zyklus ist in Deutsch komponiert und wird von der schwedischen Altistin Susanne Resmark mit großer dramatischer Geste auch deutsch vorgetragen. Im Booklet ist der Text abgedruckt. Auf dem deutschen Buchmarkt sind Bindings Werke meist nur antiquarisch zu finden. Seine Novelle Opfergang wurde 1944 bei der Ufa von Veit Harlan mit Kristina Söderbaum, die diesmal im Delirium stirbt und nicht ins Wasser geht, und Carl Raddatz verfilmt. Den Abschluss dieser sehr vielseitigen CD bildet der Jahrmarkt bei London – Souvenir of Hampstead Heath, einem großen Park im Norden der Stadt. Klenau dürfte dazu bei einem Aufenthalt in England angeregt worden sein. Zu hören ist ein sehr farbiges Stück. Michelsen spricht in Booklet von „impressionistischer Klangfläche“. In einer Programmnotiz heißt es: „Ein trüber nebliger Morgen. Langsam fährt ein Junge mit seinem kleinen Fuhrwerk den Hügel hinauf. Er singt. Regen, Regen, Regel und Nebel. Ach, nichts in der Welt ist so grau als Nebel.“ In der Einsielung ist die Knabenstimme durch den Alt von Sidsel Abel ersetzt, was der Stimmung keinen Abbruch tut, zumal die Sängerin einen androgynen Ausdruck hineinlegt. Alle Titel werden vom Odense Symphony Orchestra unter Jan Wagner dargeboten. Es ist eines der fünf regionalen Klangkörper Dänemarks und hat seinen Sitz in der Großstadt Odense auf der Insel Fünen.

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Für eine weitere Dacapo-Produktion wurde es ebenfalls herangezogen: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (6.220532). Dieses Werk hat keine Bezeichnung, die auf eine bestimmte Form hinweist. Es handelt sich um die vollständige Vertonung des berühmten Textes von Rainer Maria Rilke, das mehr Gedicht als Prosa ist. Obwohl bereits 1899 entstanden, wurde es im Umfeld des Ersten Weltkrieges oft als Apotheose des Heldentodes missverstanden. Obwohl nicht mal eben so nebenbei zu lesen, fand es eine große Verbreitung. Zurückzuführen ist dies auch darauf, dass damit 1912 die berühmte Inselbücherei, die es immer noch gibt, eingeleitet wurde. Der Cornet ist Band Nummer 1 und immer wieder aufgelegt worden. In der Insel-Bücherei wurde Rilkes Cornet gleich in einer Startauflage von 10 000 Exemplaren verbreitet, musste sofort nachgedruckt werden und erreichte bis 2006 mit 54 Auflagen über 1,147 Mio. Exemplare. Klenau erbat sich von Rilke persönlich die Zustimmung für die Komposition. Obwohl er davon nicht sehr viel hielt, stimmte er zu. Im Booklet wird der Dichter von Michael Fjeldsøe mit den Worten zitiert, dass sein Text „doch eigentlich Musik genug“ sei. „Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß … „ Vorgetragen vom Chor und nicht wie zu erwarten wäre – vom Solisten – schleppt sich der berühmte Beginn, den einst jeder Gymnasiast auswendig kannte, dahin. Das ist schon mal genial erdacht in seiner Wirkung. Bo Shovhus, der Solist, setzt erst nach sechs Minuten ein. Mit seinem kernigen Bariton ist er genau richtig eingesetzt, und er ist auch gut zu verstehen, was bei diesem Werk unerlässlich ist. Das Odense Symphony Orchestra wird diesmal vom britischen Dirigent Paul Mann geleitet. Es singt der Czech Philharmonic Choir.

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Die 9. Sinfonie bildet nicht nur den Schlusspunkt im sinfonischen Schaffen Klenaus, sie ist sein letztes Werk überhaupt, vollendet sechs Monate vor seinem Tod. Erst 2001 wurde der Autograph entdeckt und veröffentlich. Uraufgeführt wurde die Sinfonie 2014 von Michael Schønwandt in Kopenhagen. Das war insofern mutig, als bei dieser Gelegenheit die Verstrickungen des Komponisten mit Nazideutschland öffentlich heftig diskutiert wurden. Seine Einspielung mit dem Danish National Symphony Orchestra ist eine Weltpremiere und ebenfalls bei Dacapo erschienen (8.226098-99). Zum Orchester treten der Danish National Concert Choir und ein klassisches Solistenquartett mit Cornelia Ptassek (Sopran), Susanne Resmark (Alt), Michael Weinius (Tenor) und Steffen Bruun (Bass). Formal geht das viersätzige Werk eine Mischung aus Sinfonie und Requiem nach dem lateinischen Text der Katholischen Totenmesse ein. In seinen Ausmaßen von neunzig Minuten ist es gigantisch – und so klingt es auch. Rüdiger Winter

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Auf die Neunte folgt die Fünfte

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Gerd Schallers bei Profil/Hänssler erscheinende Reihe „Bruckner für Orgel“ geht weiter. Diesmal steht die fünfte Sinfonie im Mittelpunkt (PH23014). Im Gespräch mit Rainer Aschemeier, das im Beiheft abgedruckt ist, gibt Schaller Auskunft darüber, weshalb nach der bereits vorgelegten Neunten seine Wahl diesmal auf die Fünfte fiel. Keine der Bruckner-Sinfonien sei derart kontrapunktisch gearbeitet, so Schaller, besonders die monumentale Fuge im Schlusssatz. Nach Ansicht des Dirigenten (und Organisten) eigneten sich keineswegs alle Sinfonien Bruckners für eine Orgelbearbeitung; er führt als dritte noch die Achte an. Der Schwierigkeiten, die mit einer Transkription einhergehen, ist sich Schaller durchaus bewusst, selbst wenn gerade Bruckners Fünfte in ihrer Klanglichkeit der Orgel mitunter sehr nahe komme. Die der Sinfonie Nr. 5 teils verliehenen Beinamen wie „Katholische“ oder „Glaubenssymphonie“ sieht Schaller jedenfalls kritisch. Wiederum entschied man sich, wie bereits beim Sinfonien-Zyklus, für die Ebracher Abteikirche mit ihrer sehr eigenen Akustik und ihrer adäquaten Orgel von Wolfgang Eisenbarth (eingespielt im November 2022, wiederum in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk).

Tatsächlich lässt sich Schallers Argumentation nachvollziehen, da die Fünfte eine genuine Eignung für eine Orgelbearbeitung aufweist. Das Klangbild ist stellenweise erstaunlich nahe an der gewohnten Orchestrierung. Freilich gilt es gleichwohl auch hier, da und dort Kompromisse einzugehen, lassen sich doch bestimmte Orchestereffekte auf einer Orgel nicht oder allenfalls annäherungsweise darstellen, denkt man an das Streichertremolo oder den Paukendonner. Der Überwältigungseffekt stellt sich in der finalen Apotheose der Schlusscoda, worauf von Anfang an alles hinzielt, in der Tat auch hier ein. Die angeschlagenen Tempi (18:34 – 16:17 – 14:36 – 23:05) unterscheiden sich nicht grundsätzlich von der gewöhnlichen Orchesterfassung; die Gesamtspielzeit ist mit gut 72 Minuten sogar nahezu identisch mit Schallers vorliegender Einspielung. Das zweisprachige Booklet (Deutsch, Englisch) ist gewohnt aufschlussreich und bietet unter anderem die Orgeldisposition in allen Details. Daniel Hauser

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Die Orgel sei „das Instrument Bruckners“, so verkündet Gerd Schaller, ohne Frage einer der großen Bruckner-Exegeten unserer Zeit, im kundigen Gespräch mit Andrea Braun, welches im Booklet der nun bei Profil/Hänssler aufgelegten Einspielung der von Schaller selbst arrangierten Orgelbearbeitung der neunten Sinfonie von Anton Bruckner abgedruckt ist (PH21010). Diese Aussage Schallers ist durchaus nachvollziehbar, spielte die Orgel im Leben Bruckners doch eine eminent wichtige Rolle – und, wenn man so will, sogar über seinen Tod hinaus, liegt er doch bekanntlich unter der Orgel von St. Florian begraben. Im Zuge des Projektes BRUCKNER2024 hat es sich der Dirigent zum Ziel gesetzt, sämtliche Bruckner-Sinfonien in teils sehr wenig gespielten Fassungen aufzunehmen. Dieses ambitionierte Vorhaben ist bereits weit gediehen und hat so manche wirklich ausgezeichnete Interpretation hervorgebracht.

Die Idee, Bruckner mittels einer Orgeltranskription näherzukommen, gleichsam zur Essenz vorzudringen, ist so neu nicht. Tatsächlich beabsichtigt auch der Organist Hansjörg Albrecht beim Label Oehms eine Gesamteinspielung der Sinfonien in Orgelbearbeitungen (die „Nullte“ ist 2020 bereits erschienen). Schaller geht es, wie er ausdrücklich betont, keineswegs um eine 1:1-Übertragung der Orchesterfassung auf die Orgel. Die Konzentration auf das Wesentliche unter Weglassung letztlich nicht übertragbarer Details der Orchestrierung sei essentiell. Dabei räumt er durchaus ein, „[i]n einem gewissen Sinne“ eine Bearbeitung geschaffen zu haben. Für Schaller (und auch für die seriöse moderne Bruckner-Forschung) steht es außer Frage, dass der Komponist seine letzte Sinfonie viersätzig konzipierte. Hinsichtlich des Finalsatzes bediente sich Schaller seiner eigenen Komplettierung, die bei Profil/Hänssler bereits zweifach und, dies darf hinzugefügt werden, überaus überzeugend vorgelegt wurde (Fassung 2015 auf PH16089, Revision 2018 auf PH18030). Eine gewisse Orientierung an den großen französischen Orgelkomponisten des 19. Jahrhunderts Guilmant, Widor und Vierne habe durchaus Pate gestanden, so Schaller, wenngleich er einräumt, dass der Vergleich auch hinke, da die genannten Komponisten ja primär schon für die Orgel komponierten und nicht erst später transkribierten.

Beim in dieser Neuaufnahme verwendeten Instrument handelt es sich um die Orgel der ehemaligen Zisterzienserabteikirche Ebrach in Franken, zwischen Bamberg und Würzburg gelegen. Bei dieser handelt es sich um die Rekonstruktion einer Barockorgel durch den Passauer Orgelbaumeister Wolfgang Eisenbarth (1984). Die Ebracher Hauptorgel eigne sich aufgrund ihres sowohl barocken als auch romantischen Charakters besondere für Bruckner, der in St. Florian selbst auf der spätbarocken Orgel von Franz Xaver Krismann gespielt hat. Wie nun klingt dieses gewagte Experiment? Um es mit Gerd Schallers eigenen Worten zu sagen: „ganz anders“ als die altbekannte Orchesterfassung der Neunten. Der ganz eigene, intime Charakter einer Orgelsinfonie kommt zweifelsohne ausgezeichnet herüber. Die in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk – Studio Franken zwischen 2. und 5. November 2020 entstandene, also praktisch taufrische Einspielung weiß auch klanglich zu überzeugen und ist ein wenig Ausdruck der derzeitigen Pandemie, die zur Rückbesinnung auf den Einzelnen, in diesem Falle eben den Organisten, animiert. Dies muss nicht nur ein Verzicht, sondern kann eben durchaus auch ein Gewinn sein.

Meine grundsätzliche Skepsis gegenüber Orgeltranskriptionen großer spätromantischer Orchesterwerke will ich nicht verleugnen. Nicht alle derartige Versuche wussten zu überzeugen (denkt man etwa an Wagner). Indes, im Falle Bruckners scheint es zu klappen. Die von Schaller angeschlagenen Tempi (26:01 – 11:06 – 24:53 – 25:17) unterscheiden sich keinesfalls von seinen beiden Einspielungen der Orchesterfassung, ganz im Gegenteil, sie sind beinahe auf die Sekunde identisch. Nun sollte man freilich hinzufügen, dass auch die Orchesterversionen am selben Ort, im Kloster Ebrach, eingespielt wurden. Es klingt jederzeit nach Bruckner. Verheißungsvoll der Auftakt im langgestreckten Kopfsatz. Das oft angriffslustig dargebotene Scherzo erhält mittels der Orgel einen mehr kontemplativen Charakter. Ihre große Stärke kann die sehr voll tönende Orgel naturgemäß im himmlischen Adagio ausspielen, das auch zum Höhepunkt der Darbietung gerät. Ein Bruch zwischen dem Finale und den drei vorangegangenen Sätzen ist in dieser Orgelfassung tatsächlich nicht feststellbar. Der Schlusssatz wird nicht zuletzt zu einem neuerlichen Plädoyer für Schallers eigene Fassung. Das Booklet ist zweisprachig gehalten (Deutsch und Englisch), überzeugt durch ansprechende Photographien und listet auch die Disposition der Eisenbarth-Orgel minutiös auf, was besonders für Orgelbegeisterte von Wichtigkeit sein dürfte. Eine rundum gelungene Produktion, die auch dem fortgeschrittenen Brucknerianer neue Einsichten in vermeintlich Altbekanntes zu gewähren im Stande ist. Daniel Hauser