Sehnsucht nach Ferne

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Im Werk von Carl Loewe werden auch exotische Themen angeschlagen – vornehmlich in den Balladen, die im Zentrum seines Schaffens stehen. Opus 111 widmete sich einen Papagei. Dieser aus Südamerika stammende Vogel, dessen Haltung einst dem Adel vorbehalten war, zog zu Loewes Zeit als beliebtes Haustier auch in bürgerlichen Kreisen ein. Wer mit den Balladen etwas näher vertraut ist, kennt auch den nach Europa verschleppten Mohrenfürsten aus den vertonten Gedichten von Ferdinand Freiligrath, der als junger Dichter in Amsterdam die einst in ganz Europa beliebten Völkerschauen miterlebte. Inzwischen zu Recht verpönt, befriedigten sie bei guten Einnahmen das wachsende Interesse an unbekannten Erdteilen. Die alte Welt nahm von der neuen Welt Besitz. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln verließen im 19. Jahrhundert etwa 52 Millionen Menschen Europa, 32 Million davon in Richtung USA. Dabei stellten Deutsche zwischen 1850 und 1890 die zahlenmäßig größte Gruppe. Loewe, der gern reiste, dürfte diese Entwicklungen in seiner Wahlheimatstadt Stettin genau verfolgt haben. Schließlich hatte er es nicht weit bis zur Ostsee.

1854, auf einem Höhepunkt der Auswanderung, entstanden seine Vier Phantasien op. 137 für Klavier. Ihre Themen sind der Abschied des Auswanderers, die Meerfahrt, die Prärie und seine neue Heimat. Loewe versetzt sich musikalisch bildhaft in die Situation. Zu hören ist Aufbruchstimmung, in die sich auch Wehmut, Trennungsschmerz und Zweifel mischen. Am Ende aber, so scheint es, ist der Auswanderer auch deshalb gut an seinem fernen Ziel angekommen, weil er die Lieder aus der alten Heimat, die ihm Vertrauen und Halt geben, mitgenommen hat. Die Komposition prägt mit fast siebenunddreißig Minuten die neue CD seiner kompletten Klaviermusik bei Toccata Classics (TOCC 0690). Außerdem sind die Tondichtung für das Pianoforte Der barmherzige Bruder, die Grande Sonate Èlegique – die so genannte Liebessonate – sowie drei für das Klavier feinsinnig transkribierte Lieder – Sehnsucht, Die schlanke Wasserlilie und Stille Liebe – durch die Pianisten Linda Nicholson, die die gesamte Edition bestreitet, im Angebot. Damit ist die Sammlung bei Vol. 3 angelangt. Bei der Einspielung handelt es sich wiederum um eine Übernahme vom WDR, wo auch die Aufnahme erfolgte. Wie schon bei der Vol. 2 (TOCC 0489) kommt ein Piano Erard, Paris 1839, zum Einsatz, bei Vol. 1 (TOCC 0278) war es ein Instrument der Londoner Klavierbauer-Brüder Collard & Collard von 1850. Die Engländerin Nicolson spielt ihr breit angelegtes Repertoire, das vom Barock bis zu Frühklassik reicht, am liebsten auf Instrumenten aus der jeweiligen Zeit. Sie legt Wert auf Authentizität.

Wenn also eine deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt eigene Aufnahmen einem Label in England zur Verfügung stellt, was ist das? Im besten Fall kulturelle Globalisierung. Im schlimmsten Fall hat sich für Carl Loewes Klaviermusik in seinem Heimatland keine Firma gefunden. Wie dem auch sei, Toccata Classics mit Sitz in London hat ein gutes Werk für den Komponisten getan, der immer noch zu sehr auf seine Balladen festgelegt wird, was sich aber langsam aber sicher ändert. Das Programm der zweiten CD enthält vier Stücke – Der Frühling, Eine Tondichtung in Sonatenform, die Biblischen Bilder, die Grande Sonate Brillante Es-Dur sowie die Abendfantasie. Die erste CD bot die Zigeuner-Sonate, die Tondichtung Mazeppa, die Große Sonate in E-Dur und die Alpenfantasie. Loewes Klaviermusik sprudelt über vor musikalischen Einfällen. Ein Gedanke jagt den anderen, so dass mitunter der Eindruck entsteht, Ausführung und Ausformung der einzelnen Themen kämen zu kurz. Das gilt auch für die großen Sonaten. Es spricht ein starker musikalischer Mitteilungsdrang aus dieser Klaviermusik. Sie prägt sich deshalb rasch ein und kann durchaus auch mal nebenbei gehört werden.

Es stellt sich manche Ähnlichkeit mit den Balladen ein. So würde es einen nicht wundern, wenn bei den Biblischen Bildern plötzlich ein Sänger hinzuträte. Für Mazeppa braucht Loewe keine zehn Minuten. Er wurde durch die literarische Vorlage von Lord Byron inspiriert, die 1819 erschienen war – gut zehn Jahre bevor sich Loewe an seine Komposition machte. Liszt kam mit seiner sinfonischen Dichtung, die auf ein Gedicht von Victor Hugo zurückgeht, mehr als zwanzig Jahre danach. Tschaikowski beschäftigte sich mit dem Stoff noch viel später. Seine Oper, die einem Gedicht von Puschkin folgt, wurde 1884 uraufgeführt. Mazeppa, längst zum Hetman, also zum Führer des Kosakenheeres aufgestiegen, ist in die Jahre gekommen und liebt eine junge Frau, die seine Tochter sein könnte. Im Gegensatz zu Tschaikowski wenden sich Liszt und Loewe der legendenumwobenen, rasanten Vorgeschichte zu, die auch Maler zu dramatischen Gemälden inspirierte. Mazeppa war als Page an den Hof des polnischen Königs Johann Kasimir gekommen, der auch über ukrainische Provinzen gebot. Er genoss das Vertrauen des Königs, wurde mit vielen Missionen betraut, schließlich aber hart bestraft, als er in sehr vertraulichem Umgang mit der Gattin eines einflussreichen Magnaten überrascht wurde. Dieser soll ihn nackt auf den Rücken seines eigenen Pferdes gebunden haben, das fortan durch die Steppe raste. Nach wenigen Tagen stirbt das Pferd, Mazeppa aber wird völlig entkräftet von Kosaken gerettet, zu deren Heerführer er aufstieg. Ähnlich Liszt, der dazu ein großes Orchester zur Verfügung hatte, schildert Loewe ausschließlich den verhängnisvollen Ritt.

Das Klavier rast, dem Pferde gleich. Selbst dann, wenn sich die Musik dem Helden, seinen Gedanken, Nöten und Ängsten zuwendet, ist der Hintergrund von Unrast erfüllt. Es ist ganz erstaunlich, wie viel Dramatik und Bildhaftigkeit Loewe aus seinem Instrument herausholen kann – auch hier ganz der Geschichtenerzähler. Mit der Toccata-Edition ist wieder ein Schritt getan, der Veröffentlichung aller gedruckten Werke Loewes auf Tonträgern näher zu kommen. Rüdiger Winter