Suche nach dem Weiblichen

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Die norwegische Sängerin Marianne Beate Kielland hat im bisherigen Verkauf ihrer Karriere mit Franz Schubert gefremdelt. Sollte sie nun in Album mit seinen Liedern aufnehmen oder nicht? Sie entschied sich zunächst dagegen. Warum? Für sie habe sich Schubert in der Wahrnehmung stets mit dem Klang fantastischer Tenöre verbunden. Und auch fabelhafte Baritone hätten unvergessliche Versionen von seinen Liedern vorgetragen. Namen nennt sie nicht, wenngleich sie mit Dietrich Fischer-Dieskau ein wichtiges Beispiel hätte anführen können, weil sie noch an einem seiner Meisterkurse teilnahm. Und doch kam sie an Schubert nicht vorbei, der größere Anforderungen an Interpreten stelle als anderer Komponisten – und zwar in Klarheit, Diktion, Intimität, Rhythmus, lyrischem Ausdruck, perfekter Intonation. Solche persönlichen Überlegungen finden sich in einem eigenen Text für die erste Schubert-CD der Mezzosopranistin, die bei Lawo Classics veröffentlicht wurde (LWC 1355). Begleiter am Flügel ist ihr Landsmann Nils Anders Mortensen, der auch an der Musikhochschule Hannover lehrte und mit deutschem Liedgut sehr vertraut ist. Bei Lawo handelt es sich um ein norwegisches Unternehmen, das vornehmlich Interpreten und Musik aus Vergangenheit und Gegenwart dieses Landes bekannt machen möchte.

Die Winterreise, die sich seit der Interpretation durch Lotte Lehmann im Repertoire vieler Sängerinnen als ganz selbstverständlicher Bestandteil findet, kommt für Marianne Beate Kielland nicht infrage. Sie können beim Singen keine männlichen Emotionen vortäuschen, gibt sie sich kompromisslos – und greift damit eine alte Debatte vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen zum Thema Geschlechterneutralität neu auf. „Aber wenn man ein wenig recherchiert, stellt man fest, dass Schubert in der Tat Texte vertont hat, die eher weiblich als männlich sind.“ Goethes Mignon-Figur ist für sie ein androgynes Kind mit einer komplexen existenziellen und emotionalen Befindlichkeit, ohne dass die Texte weiblich oder männlich seien. Die entsprechenden fünf Titel, die sängerisch sehr gut gelingen, stellen für die Interpretin das „Herzstück der Sammlung“ dar. Bei Suleika trete das Weibliche in den Vordergrund, und tatsächlich seien diese beiden Gedichte von einer Frau, nämlich Marianne von Willemer, geschrieben. Sie habe sich selbst als Suleika gesehen. Goethe, mit dem sie Briefe wechselte, nahm die Verse in seine Gedichtsammlung West-östlicher Divan auf.

Der Einstieg ist mit der „bemerkenswerten und melancholischen Geschichte vom König von Thule“ bewusst gewählt, um „die Stimmung für die folgenden Lieder festzulegen“. Und sie beendet ihr Programm mit dem weniger bekannten Grenzen der Menschheit, über die Beziehung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. „Das Gedicht kommt zu dem Schluss, dass die Menschheit ihren Platz kennen muss und nicht mit den Göttern um die Überlegenheit wetteifern darf. Die Menschheit muss mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben – wo sie hingehört. Und ich kann im selben Atemzug sagen, dass ich auch meinen Platz unter den größten Schubert-Interpreten der Weltgeschichte kenne“, gibt sich die Sängerin demütig und realistisch zugleich. Sie habe versucht, ihre Sicht auf den „größten Liedkomponisten aller Zeiten zu finden und möglicherweise eine etwas andere Seite von ihm zu zeigen – eine, die von Unsicherheit, Melancholie und Ruhelosigkeit geprägt ist“. Dafür wählt sie durchweg einen betont sachlichen Vortragstil. Marianne Beate Kielland ist nicht auf betörend schön klingende Details aus, die dazu verleiten, dieses oder jenes Lied wiederholt anzusteuern, weil man nicht genug davon bekommen kann. Genüssliche Erwartungen werden nicht erfüllt. Wer ihr genau zuhört, lernt aber die oft gehörten Lieder von Franz Schubert noch besser kennen. Rüdiger Winter