.
Sukzessive setzt das verdienstvolle Label ICA Classics die Reihe BBC Legends – Great Recordings from the Archive fort und ist jetzt bei Volume 3 angelangt (ICAB 5167). Wie bereits in den (leider schon vergriffenen) Vorgängerboxen, sind auch diesmal 20 Silberscheiben enthalten. Tatsächlich handelt es sich durchgängig um eigentlich Altbekanntes, sind diese Mitschnitte der BBC doch bereits seit 1998 einzeln auf dem Eigenlabel erschienen. Freilich waren diese CDs teils seit Jahren selbst gebraucht nicht mehr zu beschaffen, so dass die Neuerscheinung ohne Einschränkungen begrüßt werden darf. Wie gewohnt, wird auch diesmal eine breite Palette an klassischem Repertoire abgedeckt, wobei nicht nur Dirigenten, sondern auch Instrumentalsolisten und Sänger im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die Aufnahmen – wie im Titel bereits angedeutet ausnahmslos live im Konzert entstanden – sind überwiegend, aber keineswegs sämtlich in Stereo festgehalten, so dass klanglich teilweise Einschränkungen in Kauf genommen werden müssen. Die BBC übertrug im Rundfunk zwar vereinzelt bereits ab 1959 stereophon (der in Vol. 1 enthaltene legendäre Aufführungsmitschnitt der achten Sinfonie von Mahler unter Jascha Horenstein), doch setzte sich die überlegene Zweikanal-Tontechnik erst ab 1966 überwiegend durch, auch wenn es noch bis zu Beginn der 1970er Jahre mitunter monaurale Aufnahmen gab (etwa das letzte Konzert Otto Klemperers von 1971).
Den Anfang macht ein 1977er Mitschnitt des London Symphony Orchestra unter dem greisen Karl Böhm mit der jeweils zweiten Sinfonie von Schubert und Brahms. Beide Werke waren Spezialitäten des gestrengen Grazers und gelingen dementsprechend überzeugend. Gerade für das Jugendwerk Schuberts hatte Böhm eine besondere Liebe, wie etliche Aufnahmen davon belegen. Erst spät in seinem Leben verband ihn die Zusammenarbeit mit dem Londoner Klangkörper, die dafür umso fruchtbarer war und in einer Einspielung der drei letzten Tschaikowski-Sinfonien für die Deutsche Grammophon Gesellschaft gipfelte.
Es folgt ein künstlerisch nicht minder wertvolles Tondokument, nämlich das letzte auf Tonträger festgehaltene Konzert des bereits angeschlagenen Sir John Barbirolli aus seinem Todesjahr 1970, gerade fünf Tage vor seinem Ableben mitgeschnitten in der St Nicholas‘ Chapel, Kings Lynn, Norfolk. Verantwortlich zeichnet das Hallé Orchestra aus Manchester, dem er von 1943 an bis zuletzt treu blieb. Mit der ersten Sinfonie von Elgar stand zudem eine Stück auf dem Programm, das Barbirolli zwischen 1927 und 1962 nicht weniger als sechsmal einspielte. Diese ganz späte Lesart ist gewissermaßen eine Art musikalisches Vermächtnis, in Sachen Ausdruck und Gesamteindruck kaum zu überbieten, selbst wenn die orchestrale Ausführung nicht immer den höchsten Ansprüchen genügen mag. Als Beigabe wurde Elgars Introduction and Allegro gespielt.
Der große französische Dirigent Pierre Monteux wird ebenfalls bedacht. Die CD beinhaltet vier Werke, alle in den Jahren 1960 und 1961 in jeweils anderen Konzerten mitgeschnitten, leider sämtlich in Mono. Cherubinis selten gespielte Anacréon-Ouvertüre eröffnet die Disc, gefolgt von einer gallisch angehauchten Eroica von Beethoven, beides mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Es schließt sich Don Juan von Richard Strauss an, dargeboten vom damals so bezeichneten BBC Northern Symphony Orchestra aus Manchester. Den Abschluss bildet der Ungarische Marsch von Berlioz, diesmal mit dem London Symphony Orchestra.
Die dem Klangmagier Leopold Stokowski gewidmete Platte widmet sich zuvörderst der zweiten Sinfonie von Sibelius, eine beseelte Aufführung mit dem BBC Symphony Orchestra von den Proms 1964, bei der man wehmütig den mittelmäßigen Mono-Klang in Kauf nimmt (aus demselben Jahr existiert übrigens ein interpretatorisch sehr ähnlicher, klanglich allerdings ungleich besserer Stereo-Mitschnitt aus Philadelphia). Die üppig dargebotene Dornröschen-Suite von Tschaikowski, festgehalten 1965 und ebenfalls monaural, wird vom New Philharmonia Orchestra intoniert, wie auch die abschließende, sehr exzentrische aber gleichwohl überzeugende Egmont-Ouvertüre von Beethoven, die als einziges Stück 1973 stereophon aufgezeichnet wurde.
Für diesen Dirigenten typisch intensiv gelingt die Aufführung der Faust-Sinfonie von Liszt unter Jascha Horenstein, stereophon mitgeschnitten 1972 in Salford. Ihm stand mit dem bereits genannten BBC Northern Symphony Orchestra zwar kein erstklassiger Klangkörper zur Verfügung, doch macht seine nachdrückliche und tiefgehende Interpretation dies wett. Mit John Mitchinson ist zudem einen vorzüglichen Tenor mit von der Partie.
Als schlechterdings sensationell darf der hochemotionale 1985er Proms-Mitschnitt der neunten Sinfonie von Beethoven unter Stabführung von Klaus Tennstedt gelten. Unter den zahlreichen erhaltenen Tennstedt-Aufnahmen dieses Werkes kann man diese mit guten Gründen für die herausragendste erachten. Das Solistenquartett ist mit MariAnne Häggander, Alfreda Hodgson, Robert Tear und Gwynne Howell erfreulicherweise kongenial besetzt. Und sowohl der London Philharmonic Choir als auch das nämliche London Philharmonic Orchestra, dem Tennstedt seinerzeit als Chefdirigent vorstand, geben ebenfalls ihr Bestes. Als einzigem Dirigenten in dieser Box ist Tennstedt eine weitere CD gewidmet, die mit Webers Ouvertüre zu Oberon, Schuberts Großer Sinfonie in C-Dur sowie Brahms‚ Tragischer Ouvertüre gut bestückt ist. Wiederum handelt es sich um Mitschnitte mit „seinem“ London Philharmonic, entstanden in den Jahren 1983 und 1984. Besonders der vorwärtsdrängende Schubert präsentiert diesen Dirigenten auf seinem Zenit.
Eine besonders spannende Aufnahme stellt die Achte von Schostakowitsch dar, welche der sowjetische Dirigent Jewgeni Swetlanow im Jahre 1979 mit dem London Symphony Orchestra vorlegte. Es handelt sich tatsächlich um den einzigen erhaltenen Mitschnitt des Werkes unter diesem Dirigenten, was ihn umso bedeutsamer macht. Erwartungsgemäß darf Swetlanows Interpretation unter die hochkarätigsten gerechnet werden, hatte er doch naturgemäß ein Händchen für diesen Komponisten, wovon vor allem seine Referenzeinspielung der Leningrader Sinfonie von 1968 für Melodia zeugt. Er schafft es zudem, auch diesem urenglischen Orchester einen sowjetischen Anstrich zu verpassen, was der Idiomatik gewiss nicht abträglich ist.
Mit Gennadi Roshdestwenski wurde erfreulicherweise ein weiterer bedeutender Dirigent aus der Sowjetunion aufgenommen, der zudem zwischen 1978 und 1981 als Chefdirigent des hier auch eingesetzten BBC Symphony Orchestra amtierte. Drei russische Komponisten werden repräsentiert: Tschaikowski mit dem zweiten Akt des Nussknackers, Schostakowitsch mit der Suite aus Der Bolzen und Strawinski mit den Scènes de ballet. Die Aufnahmen datieren auf 1981 (Strawinski) und 1987 und stellen eine gelungene Symbiose aus Ost und West dar.
Dass Benjamin Britten nicht nur einer der wichtigsten britischen Komponisten des 20. Jahrhunderts war, sondern auch ein ernstzunehmender Dirigent, ist heutzutage nicht mehr jedermann bewusst. Die lange vergriffene Reihe Britten the Performer, ebenfalls von der BBC aufgelegt, legt davon nachdrücklich Zeugnis ab. Die hier inkludierte, ausgezeichnet besetzte Aufführung des Requiems von Mozart (Heather Harper, Alfreda Hodgson, Peter Pears, John Shirley-Quirk), mitgeschnitten beim Aldeburgh Festival 1971, zeigt Britten als einen der damals aufkommenden historischen Aufführungspraxis nicht abgeneigten Interpreten. Einen Wermutstropfen stellt indes das mäßige und für das Entstehungsjahr eigentlich vorgestrige monaurale Klangbild dar.
Der gerade für seinen Haydn gefeierte Eugen Jochum – neben Bruckner eine seiner Spezialitäten – verantwortet auf einer weiteren Disc zwei der sogenannten Londoner Sinfonien, nämlich die Militär-Sinfonie (Nr. 100) sowie Die Uhr (Nr. 101), zwei der gewisslich populärsten. Besagter Konzertmitschnitt fand interessanterweise im gleichen Jahre 1973 statt, also Jochum mit demselben London Philharmonic Orchestra die zwölf späten Haydn-Sinfonien für die Deutsche Grammophon vorlegte. Die Spielzeiten sind beinahe auf die Sekunde identisch, auch wenn die Live-Aufnahmen noch mehr Lebendigkeit vermitteln. Als Bonus ist Hindemiths Sinfonische Metamorphose über Themen von Carl Maria von Weber beigefügt, die auf einem Mitschnitt mit dem London Symphony Orchestra von 1977 beruht.
Einen besonderen Glücksfall stellen die beiden von Sir Macolm Sargent verantworteten Werke dar, jeweils die vierte Sinfonie von Vaughan Williams und Sibelius, Stereo-Mitschnitte von 1963 beziehungsweise 1965. Sargent, der heutzutage zu Unrecht im Rufe steht, vor allem leichtgewichtige Proms-Programme dirigiert zu haben, war freilich ein begnadeter Orchesterleiter mit einem ungemein breiten Repertoire. Die Vierte von Vaughan Williams, eines seiner expressivsten Werke, kommt heißblütig daher. Die Vierte von Sibelius, die schroffste unter seinen Sinfonien, besonders im Kopfsatz mit unheimlicher Schwärze. Trotz der hörbaren Publikumsgeräusche ein fesselndes Erlebnis.
Die Sopranistin Sena Jurinac und die Mezzosopranistin Christa Ludwig stehen im Mittelpunkt einer weiteren Scheibe, die Werke von Richard Strauss, Mahler und Brahms enthält, wobei das Groß die Vier letzten Lieder mit der Jurinac unter Sargent (1961) sowie die Lieder eines fahrenden Gesellen mit der Ludwig unter Cluytens (1957) ausmachen. Die Jurinac ist zwar nicht mehr ganz auf derselben Höhe wie zehn Jahre zuvor unter Fritz Busch, liefert indes gleichwohl eine charaktervolle Darbietung. Eine schöne Ergänzung zur berühmten Studioeinspielung der Ludwig unter Sir Adrian Boult stellt diese einige Jahre zuvor entstandene Konzertaufnahme dar.
An großen Instrumentalsolisten besteht in der Box ebenfalls kein Mangel, wobei die Pianisten dominieren. Einen Höhepunkt stellt ein Recital von 1969 mit Wilhelm Kempff dar, wo unter anderem die Klaviersonate Nr. 22 von Beethoven und mehrere Klavierstücke von Schubert (Klaviersonate f-Moll, Drei Klavierstücke, zwei der Vier Impromptus) auf dem Programm standen. Nicht weniger gelungen Swjatoslaw Richter mit den Beethoven’schen Klaviersonaten Nr. 9 und 10 sowie der Wanderer-Fantasie von Schubert (1963). Emil Gilels ist mit der 27. Klaviersonate repräsentiert, dazu weitere Klavierstücke von Scarlatti, Debussy, Scriabin und Prokofjew (1957 sowie 1984). Rudolf Serkin steuert schließlich 1973 die Klaviersonaten Nr. 21 und 24 von Beethoven sowie Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Bach bei. Hervorzuheben ist zudem Shura Cherkassky als Solist in Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1 unter Sir Georg Solti mit dem London Symphony Orchestra (1968).
Bekrönt wird das Ganze durch die Streichersolisten. Der Violinist Henryk Szeryng gibt in Personalunion als Solist und Dirigent mit dem English Chamber Orchestra Vivaldis Vier Jahreszeiten zum Besten (wobei die berühmte Studioeinspielung klanglich noch vorzuziehen ist), daneben des Komponisten Konzert für zwei Violinen an der Seite von José-Luís Garcia. Ergänzt wird dieser stereophone Konzertmitschnitt von 1972 durch Mozarts Violinkonzert G-Dur KV 216. Beschlossen wird die Box mit dem Cellisten Mstislaw Rostropowitsch in feurigen Live-Aufnahmen aus dem Jahre 1965, bedauerlicherweise sämtlich in Mono. Drei Konzerte für Cello und Orchester standen in drei Auftritten auf dem Programm, wobei Rostropowitsch in Haydns Cellokonzert Nr. 1 selbst auch das Dirigat übernahm, während ihm im ersten Cellokonzert von Saint-Saëns sowie im Cellokonzert von Elgar mit dem bereits erwähnten Gennadi Roshdestwenski ein begnadeter Begleiter auf dem Dirigentenpult zur Verfügung stand.
In der Summe lässt sich diese Kollektion als künstlerisch ausgezeichnet bewerten. Die angesprochenen teilweise vorhandenen klanglichen Defizite sind angesichts dessen hinnehmbar. Die Textbeilage ist vollauf zweckdienlich (05. 11. 22). Daniel Hauser