Von der hohen Warthe der besserwissenden um nicht zu sagen besserwisserischen Nachgeborenen her betrachtet ein vierköpfiges Autorenkollektiv (Jürgen Schläder, Rasmus Cromme, Dominik Frank und Katrin Frühinsfeld) die Geschichte der Bayerischen Staatsoper vor und nach 1945 unter dem Titel „Wie man wird was man ist“. Es geht um die Jahre 1933 bis 1963, und so legt der Titel nahe zu denken, die Bayerische Staatsoper habe ihre Prägung in den Jahren der Naziherrschaft erhalten, und sie habe sich, da es zwischen 1963 und 2017 keinen Einschnitt mehr wie 1933 oder 1945 gegeben hat, von den Einflüssen, denen sie zwischen 1933 und 1945 ausgesetzt war, noch immer nicht befreien können. Für die Jahre von 1964 bis heute ist das Spekulation, für die davor liegenden jedoch, ausgenommen die Intendanz von Rudolf Hartmann, erwecken die Autoren den Eindruck, sowohl in der Bühnenästhetik als auch der gesellschaftspolitischen Ausrichtung des Hauses habe sich nach 1945 nichts verändert, wobei auffällt, dass durchgehend Oper angeblich und offensichtlich die Aufgabe hat, aufklärend und erziehend auf ihr Publikum einzuwirken, dass der ästhetische Genuss, das Eintauchen in eine andere Welt, das Entzücken über die Musik und den Gesang uninteressant und zu vernachlässigen sei. Auch von Dirigenten ist nur insofern die Rede, als sie sich gut oder weniger gut mit den Nazis standen, Sänger sind nur interessant, sofern sie unter deren Herrschaft zu leiden hatten, und immer wieder klingt durch, dass derjenige verächtlich sei, der nicht als Widerstandskämpfer sein eigenes und das Leben seiner Familie riskiert habe. Dabei wird zudem noch ein Unterschied gemacht zwischen einem nach Meinung der Verfasser nicht so sehr „Belasteten“ wie Carl Orff, dem die jüdische Großmutter als Entschuldigung für vorsichtiges Verhalten angerechnet wird, während bei Richard Strauss nicht einmal der halbjüdische Enkel und dessen Großmutter sowie Mutter zählen, um deren Schicksal er sich sorgen musste.
Zunächst wird die Geschichte des Bauwerks, seine Zerstörung 1943, der Einsatz der Münchner Bürger für einen Wiederaufbau beschrieben, wobei bereits deutlich wird, dass dieser ganz bestimmt nicht aus den Gründen gewünscht wurde, die die Autoren für maßgebend für den Wert eines Opernhauses halten, die sie vielmehr als „Historizität und Festlichkeit“ definieren und damit abkanzeln. Bereits in diesem Kapitel nimmt man allerdings erfreut den Reichtum an Abbildungen zur Kenntnis, durch den sich das gesamte Buch auszeichnet.
Tadelnd vermerken die Autoren im Kapitel über die Eröffnungsfestwochen nach dem Wiederaufbau, dass „Mythisierung und Historisierung“ Triumphe feiern, dass die „Nazioper“ Die Meistersinger zu den aufgeführten Werken gehört, dass der „Naziprofiteur“ Egk die einzige Uraufführung bietet. Auch in weiteren Kapiteln werden Strauss und Egk bzw. die Aufführung von deren Opern als Beispiele für „Verdrängungsstrategie“ getadelt, und auch das „Starwesen“ in der Person von Christa Ludwig kommt nicht gut weg, immer wieder aber verstört die Unbarmherzigkeit der Autoren gegenüber den Persönlichkeiten, die sich nicht als mutige Widerstandskämpfer profilierten.
In einem historischen Rückblick bis auf 1810 verwundert, dass das Spielen italienischer Opern als Affront gegenüber Napoleon angesehen wird.
Neu ist für den Leser, dass der Begriff der Werktreue eine Erfindung der Nazis sein soll, skeptisch gesehen auch, denn man „glaubte…aus dem Geist ihrer Schöpfer interpretieren zu können“ ( An anderer Stelle heißt es „im scheinbaren (besser: anscheinenden) Sinne des Autors“.) . Damit wird jeder, der die „Werktreue“ schätzt, zu einem in die Fußstapfen der Nazis Tretenden. Und wie konnte 1917 die Uraufführung von Pfitzners Palestrina „auf die darbenden Menschen“ „wie ein Labsal“ wirken- wer von denen ging wohl in die Oper, die hier wie an vielen Stellen in ihrer Wirkung auf die Massen wohl überschätz wird. In der Kritik steht auch die Spielplanpolitik, wenn kaum ein uraufgeführtes Werk auf eine zweistellige Aufführungszahl kommt, was bei entsprechendem Publikumszuspruch wohl hätte vermieden werden können. Ironisch wirkt vermerkt, dass diese „konservativ zu nennen“ schon „ein Euphemismus“ ist.
Mit dem Bildungsbürger haben die Autoren auch ein Hühnchen zu rupfen. Sie werfen ihm „Germanentreue“ vor, und seine Vorstellung von Kunst mündet angeblich in der Naziideologie. Warum für das Bildungsbürgertum der „Liberalismus den Untergang“ bedeutete entbehrt der Begründung (gerade dieses wählte die beiden liberalen Parteien), ebenso wie es nicht verwunderlich ist, dass 90% des Spielplans nach 45 sich nicht von dem in der Nazizeit unterschieden.
Sehr ausführlich und deshalb hier in dieser Ausdehnung fehl am Platze wird die Geschichte der Reichskulturkammer beschrieben, über die „Säuberung“ an der Semperoper, über Arabella, die nicht in München uraufgeführt wurde und über die berühmte Hoteltreppe in verschiedenen Inszenierungen des Werks informiert.
Immer wieder wird Richard Strauss vorgeworfen, er „schuf also…eine Oper, die genau auf der ästhetischen wie kulturpolitischen Linie der Nationalsozialisten lag“– was dann seltsamerweise nicht nur auf den Friedenstag (die Times nannte das Werk allerdings „pazifistisch“.) wie auch auf Capriccio zutreffen sollte, das sicherlich nicht auf die von Bombenangriffen genervten Massen zugeschnitten war. Da könnte man ebenso von „innerer Emigration“ sprechen wie bei den Personen, denen das von den Autoren nicht verwehrt wird.
Die Verfasser stellen immerhin fest, dass in der Personalpolitik in der Nazizeit in der Oper Qualität vor Parteitreue ging, dass es keine einheitliche Linie gegenüber jüdischen Künstlern gab, behaupten aber auch, Clemens Krauss habe die Judenverfolgung unterstützt, indem er für sich ein ehemals von Juden bewohntes Domizil forderte.
In den Beiträgen über die Nachkriegszeit taucht natürlich die alte Frage danach auf, ob es sich bei den Nazis um einen Irrweg oder um eine Konsequenz aus der bisherigen deutschen Geschichte handle, was den Rahmen bei dem Thema Bayerische Oper al-zu weit spannt.
Leicht durcheinander kommen kann der unbefangene, d.h. uninformierte Leser, wenn er zur Kenntnis nehmen muss, dass es nach 45 zwei Hartmanns als Intendanten gab: zunächst Georg, ab 63 Rudolf, wobei der Erstere eher die Sympathie der Verfasser genießt. Ehe auf deren Wirken eingegangen wird, erfährt man, dass auch bei der Entnazifizierung in Künstlerkreisen ähnliche Probleme auftraten wie auf anderen Gebieten, vor allem, dass die Fachleute häufig belastet waren, aber gebraucht wurden.
Für den „gemeinen“ Leser am interessantesten sind die Portraits, so die von Clemens Krauss, Ludwig Sievert (Bühnenbildner, dem vorgeworfen wird, er habe seine expressionistischen Anfänge verleugnet), Richard Strauss, der die Musik Schönbergs bereits vor 33 nicht mochte und so die „Haltung der NS-Musikpolitik voraus“ nimmt., der als „Propagandakomponist“ bewertet wird und der sich mit Capriccio schlauerweise schon einen Persilschein beschaffte. Das las sich einige Kapitel zuvor etwas anders. Völlig verkannt wird auch seine Beziehung zu Stefan Zweig, den er unbedingt als Librettisten halten wollte.
Mit Anteilnahme liest man, was über das Schicksal jüdischer Sänger berichtet wird oder solcher, wie Hilde Güden, die Beziehungen zu Juden hatten.
Mehrfach setzen sich die Autoren mit Werner Egk auseinander, besonders mit seiner Zaubergeige, die sie als übles Nazistück entlarven, wenn sie die Rückkehr des Helden nach vielen Abenteuern zu seiner treu auf ihn gewartet habenden Gretel für das Beweisstück halten, obwohl dieses Motiv doch kein ungewöhnliches ist (Peer Gynt!). Und dass der Komponist seinen künstlerischen Überzeugungen „treu blieb“, macht ihn natürlich zusätzlich verdächtig. Ehrlicherweise enthalten sie dem Leser nicht vor, dass das Stück von Nazis, weil zu „unpolitisch“, auch abgelehnt wurde. Dann wieder sind sie erbarmungslos, wenn sie eigentlich jedem, der nicht aktiv Widerstand leistete, vorwerfen, „durch Aufrechterhaltung der Normalität dem Verbrechen Vorschub geleistet“ zu haben.
Mit Carl Orff wird milder verfahren, auch wenn man ihm vorwirft, durch seine Musik zum Sommernachtstraum quasi Mendelssohn-Bartholdy in den Rücken gefallen zu sein.
Der Sympathie der Amerikaner und auch der Autoren erfreut sich Karl Amadeus Hartmann, der dritte Hartmann also, für seine „kompromisslose innere Emigration“, denn er „schuf rund um die Bayerische Staatsoper eine musikalische Offenheit und Lauterkeit, die man….auf der Bühne des großen Hauses vermissen musste“.
Interessant sind die Ausführungen zum Schicksal von Hans Knappertsbusch, der es trotz Auftrittsverbots auf die Liste der „Gottbegnadeten“ schaffte, einem Irrtum unterliegt man, wenn man Sachsens Ansprache in den Meistersingern so deutet, als wenn das Reich unterginge, wenn dieses der Kunst geschehe, und ob Die Meistersinger ein „nationalsozialistisches Propaganda-Werk“ sind, mag jeder für sich selbst entscheiden, so wie er auch diesen Satz : „Wer mit dem Standard-Repertoire der NS-Zeit unmittelbar nach Kriegsende ästhetische Verharmlosung betrieb, erteilte nicht nur jeder kritischen Auseinandersetzung mit der politischen Vergangenheit eine harsche Absage, sondern stellte die nationalsozialistische Theaterpolitik auf eine Stufe mit der Kulinarik der beginnenden Adenauer-Ära“ der kritischen Überprüfung unterziehen sollte. Darüber wird vergessen, dass das „Standardrepertoire“ bereits in der Weimarer Republik dasjenige war, dessen man sich auch heute noch erfreut.
Man wünscht den im Verurteilen eifrigen Autoren, dass sie nie vor Gewissensentscheidungen gestellt werden, vor denen die von ihnen verurteilten Protagonisten einst standen, und man wünscht ihnen ein Opernerlebnis, das über das hinausgeht, was sie in der Oper sehen.
Übrigens ist der Titel, weil bereits als der für die Memoiren eines Psychotherapeuten benutzt, nicht sehr glücklich gewählt (Henschel Verlag 2017, 456 Seiten; ISBN 978 3 8948 7796 5/ Foto oben: Die Bayerische Staatsoper/ Ausschnitt/ Wikipedia). Ingrid Wanja