Chansons perpétuelles

Die kanadische Altistin Marie-Nicole Lemieux, renommiert vor allem im Barockgesang und  Belcanto-Repertoire, hat sich auch im Liedgesang einen Namen gemacht. Bei ihrer Stammfirma naïve veröffentlichte sie bereits mehrere Alben dieses Genres, so eine Schumann-Auswahl oder französische mélodies unter dem Titel „L’heure exquise“. Solche Kompositionen hat sie auch in ihr neues Programm „Chansons perpétuelles“ aufgenommen, erweiterte dieses aber um Lieder von Charles Koechlin, Guillaume Lekeu, Serge Rachmaninoff und Hugo Wolf (V 5355). Alle Werke entstanden zwischen 1890 und 1900, was sie auch stilistisch in einen Zusammenhang stellt. Begleitet wird die Sängerin von Roger Vignoles am Flügel sowie bei zwei Titeln vom Quator Psophos. Mit den selten zu hörenden Trois poèmes von Guillaume Lekeu eröffnet sie das Programm: 1893 in Brüssel uraufgeführt, sind diese Gesänge von melancholischer Grundstimmung und Lemieux kann hier mit ihrer berückenden Stimme von warmer Sinnlichkeit prunken. Subtile Nuancen und feine Piani bestimmen „Sur une tombe“, munterer erklingt das tänzerisch angelegte „Ronde“, wo der Alt in der Höhe einen herben Zug annimmt, wieder ganz träumerisch und schwebend das „Nocturne“ am Schluss, wo das Streichquartett einen warmen Teppich unter die Stimme breitet. Aus Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch wählte die Interpretin vier Titel, beginnend mit dem bekannten „Auch kleine Dinge“, das sie sehr poetisch und gänzlich unmanieriert formuliert. „Du denkst mit einem Fädchen“, „Mein Liebster singt“ und „Wohl kenn’ ich Euren Stand“ sind die weiteren Lieder – zwar nicht idiomatisch in der Wortbehandlung, aber mit wohllautender Stimme vorgetragen. Vignoles kann hier seine Kunst der empfindsamen Begleitung ins beste Licht rücken und markante Akzente setzen. Mit Gabriel Faurés Cinq mélodies „de Venise“ greift Lemieux das Genre der früheren CD  „L’heure exquise“ auf, zu dem sie als Kanadierin eine besondere Affinität hat. Ihre Stimme erklingt hier mit Raffinement, erotischem Flair und Eleganz. Wunderbar schwebt sie in „En sourdine“ und „À Clymène“, klingt entrückt und sich immer mehr in Trance steigernd bei „C’est l’extase“.

Einen Ausflug in unbekanntere Gefilde stellen die Kompositionen von Serge Rachmaninoff dar – vier aus seinen Sechs, eine aus den Zwölf Romanzen. Die Sängerin interpretiert sie im originalen Russisch und vermag ihrem Alt einen leidenschaftlichen, beschwörenden Klang zu verleihen. Man könnte sie sich sofort als Gräfin in Tschaikowskys Pique Dame vorstellen. Geradezu magische Töne hört man in „V moltchan e notchi taynoy“, wo nächtliche Sehnsüchte bezwingend eingefangen sind, von trauriger Stimmung erfüllt ist „Ne poy, krasavitsa“, schillernd und farbig der Gesang in „Ostrovok“.

Die Beispiele von Charles Koechlin in französischer Sprache stammen ebenfalls aus zwei Liederzyklen – den Cinq mélodies op. 5 und den Sept rondels op. 8. Betörend und flirrend „Si tu le veux“, beklommen „Menuet“, ausgelassen „La Pêche“, geheimnisvoll „L’Hiver“ und kokett „La Lune“ – die unterschiedlichen Stimmungen dieser Stücke werden von der Lemieux bezwingend eingefangen. Ernest Chaussons „Chanson perpétuelle“, das der Platte den Titel gab, beendet das Programm und gibt dem Quartett nochmals Gelegenheit für eine atmosphärische Untermalung dieses von der Solistin mit impressionistischem Flirren ausgebreiteten Gesanges, der bei seiner dramatischen Steigerung die Stimme wieder in ihrer vibrierenden Strenge vernehmen lässt. Bernd Hoppe