Phobische Angst vor dem Anderssein

 

Vor 175 Jahren wurde der russische Komponist Pjotr Iljitsch Tschaikowsky geboren. Bezeichnend zur Einschätzung des National-Komponisten für Russland ist die Vorab-Bemerkung von Wladimir Putin „Wir wissen, dass Tschaikowsky schwul war, aber wir lieben ihn bestimmt nicht deswegen!“ Vor dem Hintergrund der aktuellen LGBTI-Lage in Russland haben ZDF/ARTE einen Dokumentarfilm bei Ralf Pleger in Auftrag gegeben, in dem die Homosexualität des Komponisten gezielt ins Zentrum gerückt wird. Nachfolgend der Regisseur im Gespräch.

 

Ein schöner Mann: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky/Wiki

Ein schöner Mann: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky/Wiki

Als Fachmann für Komponisten-Dokumentar-Filme haben Sie sich bereits Beethoven und Wagner vorgenommen. Was reizte Sie für den neuen Film, der auf Arte am 3. Juni gezeigt wird, nun an Tschaikowsky? War es das Jubiläum? Ein Jubiläum ist immer hilfreich, um die vielen Ideen, die man im Kopf hat, zu sortieren und Prioritäten zu setzen. Tschaikowskys Fall ist im Moment besonders brisant: Ein schwuler russischer Komponist war ein Tabuthema und ist ein Tabuthema in Russland. Das gilt fürs 19. Jahrhundert, es gilt auch für die Sowjetzeit. In den frühen 1990er Jahren gab’s eine kurze Phase, wo das Tabu aufgeweicht wurde und Archive erstmals geöffnet wurden für westliche Forscher, die Schätze heben durften, die uns gerade über das Thema Homosexualität erstaunlich viel Auskunft geben. Danach war wieder Schluss. Jetzt wird das Thema abermals tabuisiert. Wir haben eine russische Gesellschaft, die in großen Teilen extrem homophob ist, beeinflusst von der orthodoxen Kirche, und wir haben eine russische Regierung, die dies befördert mit Gesetzgebungen, die viele Menschen irritieren. Das war für uns als Filmteam ein wichtiger Aufhänger, Tschaikowsky auf der Liste ganz nach oben zu rücken und den Film jetzt, 2015, zu machen.

 

Tschaikowsky und Vladimir Davydov/Wiki

Tschaikowsky und Vladimir Davydov/Wiki

Ein Wort zu den Archivschätzen aus der Phase der Öffnung. Der amerikanische Wissenschaftler Alexander Poznansky durfte als erster die Briefe Tschaikowskys im Archiv in Klin in der Nähe von Moskau einsehen. Poznansky stellte fest, dass Tschaikowskys jüngerer Bruder Modest nach Tschaikowskys Tod viele Passagen in den Briefen geschwärzt hatte. Offensichtlich wollte er die Briefe nicht vernichten, hat aber alles, was sexuell explizit war oder in irgendeiner Form ein schlechtes Licht auf Tschaikowsky werfen könnte, geschwärzt. Dazu gehören auch ausfällige Bemerkungen über Kollegen, sein Jähzorn usw. Ein kleiner Teil der Briefe war allerdings schon vorher der Öffentlichkeit zugänglich; deswegen war auch die Tatsache, dass Tschaikowsky schwul war, immer bekannt. Aber in welcher Fülle und Detailfreude Tschaikowsky über seine Sexualität und über seinen Kampf mit sich selbst geschrieben hat, das ist erst durch Poznanskys Bücher der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Und er fand natürlich heraus, was unter den Schwärzungen stand. Vieles war nur halbherzig übermalt und konnte leicht entziffert werden. Angesichts dieser Quellenlage ist es umso irritierender, dass man in Russland jetzt plötzlich sagt, man wolle davon nichts wissen. Eine russische Regierungsstelle, die einen Film finanzieren soll, den ein russischer Regisseur drehen will, legte vorab fest, dass das Thema Homosexualität nicht vorkommen darf. Das ist nachgerade absurd.

 

Tschaikowsky: Nadeshda von Meck/Wiki

Tschaikowsky: Nadeshda von Meck/Wiki

Warum ist eigentlich in der Öffentlichkeit so wenig über Tschaikowskys Privatleben bekannt? Da wird ja immer noch die Legende des unglücklichen Komponisten zwischen den Frauen und natürlich auch die ungeklärte Beziehung zu Frau von Meck bemüht. Filme wie der Zarah-Leander-Streifen „Es war eine rauschende Ballnacht“ trugen zu dieser Verklärung bei, bis Russells Tschaikowsky-Film wie eine Bombe einschlug, aber nicht ernst genommen wurde. Es ist eine prinzipielle Berührungsangst, nicht nur in Russland. Auch viele im Westen wollen nicht zur Kenntnis nehmen, wie sexuell aktiv Tschaikowsky war. Musikwissenschaftler fürchten, als „unseriös“ abgestempelt zu werden, wenn sie sich mit Sexualität und Lebensstil befassen. Ich gehe in meinem Film ganz anders an die Sache ran. Es geht nicht um Tschaikowsky, den Komponisten, sondern um Tschaikowsky, den Menschen, der mit seiner Sexualität gerungen hat. Diese Geschichte zu erzählen, ist von großem Belang, aber sie gehört nicht unbedingt in eine musikhistorische Kategorie, sondern in eine gesellschaftshistorische. Und da frage ich mich schon: Wieso hat nicht schon längst jemand Tschaikowskys Briefe herangezogen, um Einblick zu gewinnen in die schwule Szene in Russland im 19. Jahrhundert und in anderen europäischen Städten, die Tschaikowsky bereist hat und deren Möglichkeiten für schwulen Sex er ausgiebig geschildert hat? Vermutlich kommt man  nicht darauf, dass es eine solche Materialfülle zu schwuler Geschichte bei einem klassischen Komponisten gibt. Mir ging das auch so. Erst als ich die deutsche Ausgabe der Briefe gelesen habe, ist mir die ganze Dimension klar geworden. In dieser Ausgabe sind die vormals geschwärzten Stellen gekennzeichnet: Man muss nicht lange nach den pikanten Details suchen, sondern wird direkt drauf gestoßen.

 

Tschaikowsky mit seiner Frau Antonina Miliukova/Wiki

Tschaikowsky mit seiner Frau Antonina Miljiukova/Wiki

Was also erfährt man? Der Wendepunkt für Tschaikowskys Umgang mit der eigenen Homosexualität kommt, als er merkt, dass er berühmt wird. Das ist wie bei einigen Pop- oder Filmstars heute. Er verliert die Unbefangenheit, die er bis dahin in Bezug auf seine Sexualität hatte. Er war zwar immer schon jemand, der nicht anecken wollte, hat aber trotzdem seinen Weg in schwule Kreise hinein gefunden, um seine Homosexualität auszuleben. Und zwar so, dass man das Gefühl hat, er war frei im Kopf. Er hat sich nicht geschämt, für das, was er tat. Er hat mit Lust Drag-Performances veranstaltet, er hat schwule Männer als Gastgeber unterhalten, fühlte sich in ihrer Gesellschaft wohl. Dann kommt der Moment, wo er allgemein bekannt wird, wo seine Karriere international abhebt, wo er auf gute Presse angewiesen ist, wo er beäugt wird von der Öffentlichkeit. Und da sagt er sich: „Das kann so nicht weitergehen, denn es wird als Perversion wahrgenommen und ist somit geschäftsschädigend.“ Er reißt das Ruder rum und bekämpft erst sich selbst, und dann auch die Homosexualität seines jüngeren Bruders Modest. Das ist ja ebenfalls eine interessante Geschichte, dass die Brüder beide schwul sind und sich voreinander geoutet haben, wodurch sie ein sehr enges Vertrauensverhältnis aufbauen konnten. Anschließend versucht Tschaikowsky, sich und seinen jüngeren Bruder umzupolen.

Tschaikowsky und Josif Kotek: Das Bild stammt aus dem jahr 1877 und zeigt tschaikowsky mit seinem vertrauten, dem Geiger Josif Kotek (1855 bis1885). Der war ein russischer Violinist und enger Vertrauter Tschaikowskis. Wiki: "Kotek studierte unter Jan Hřímalý am Moskauer Konservatorium Violine, sowie Musiktheorie und Komposition bei Tschaikowski und graduierte 1876. Auf Empfehlung von Nikolai Rubinstein wurde er von Nadeschda Filaretowna von Meck engagiert und spielte privat für sie auf ihrem Gut in Clarens. Dort half er Tschaikowski bei der Ausarbeitung seines Violinkonzertes, insbesondere bei der Ausgestaltung der Solopartien. Außer der gemeinsamen Arbeit verband die beiden auch eine romantische Liebesbeziehung." Nach dem Ende der Beziehung zog Kotek 1882 nach Berlin, studierte dort bei Joseph Joachim und Friedrich Kiel an der Königlich Akademischen Hochschule für ausübende Tonkunst. Anschließend lehrte auch dort. 1884 erkrankte er an Tuberkulose und kehrte nach Davos zurück, wo er am 4. Januar 1885 verstarb/ Foto Wiki

Tschaikowsky und Josif Kotek: Das Bild stammt aus dem jahr 1877 und zeigt Tschaikowsky mit seinem Vertrauten, dem Geiger Josif Kotek (1855 bis1885), ein russischer Violinist und enger Vertrauter Tschaikowskys. Dazu Wikipedia: „Kotek studierte unter Jan Hřímalý am Moskauer Konservatorium Violine, sowie Musiktheorie und Komposition bei Tschaikowski und graduierte 1876. Auf Empfehlung von Nikolai Rubinstein wurde er von Nadeschda Filaretowna von Meck engagiert und spielte privat für sie auf ihrem Gut in Clarens. Dort half er Tschaikowski bei der Ausarbeitung seines Violinkonzertes, insbesondere bei der Ausgestaltung der Solopartien. Außer der gemeinsamen Arbeit verband die beiden auch eine romantische Liebesbeziehung.“
Nach dem Ende der Beziehung zog Kotek 1882 nach Berlin, studierte dort bei Joseph Joachim und Friedrich Kiel an der Königlich Akademischen Hochschule für ausübende Tonkunst. Anschließend lehrte er auch dort. 1884 erkrankte er an Tuberkulose und lebte in Davos, wo er am 4. Januar 1885 verstarb/ Foto Wiki

Er baut eine Fassade auf, für die er andere Leute mit ins Unglück zieht, zuallererst seine Ehefrau, die er quasi wahllos aus der Schar seiner Bewunderinnen am Konservatorium herausgreift, wo er Dozent ist. Er heiratet also Antonina Miljukowa, die mit dieser ganzen Konstruktion völlig überfordert ist. Er erklärt sich nur durch die Blume, indem er ihr sagt: „Mit mir wirst du nur eine Freundschaft haben können, wir werden keine Sexualität und keine Kinder haben. Aber wir können uns miteinander arrangieren.“ Darauf lässt sie sich ein. Aber sie hat als Frau in jener Zeit und mit dem Wissensstand der Epoche gar nicht das verbale Instrumentarium – auch nicht das gedankliche! –, um sich klar zu machen, was das bedeutet. Sie wird es dann sicher irgendwann gewusst haben, ohne es mit Begriffen belegen zu können, denn sie hat ihm zum Vorwurf gemacht, dass er sich mit ihr nur maskieren wollte. Das hat ihn wiederum zur Raserei gebracht. Was zu einem fürchterlichen zwischenmenschlichen Verhältnis führte. Er flüchtet dann vor sich selbst. In die Schweiz und nach Italien, wo er sich intensiv ins schwule Leben stürzt. Ihm wird klar, dass dies seine Natur ist und dass er dagegen nicht ankämpfen kann, auch nicht mit einer äußeren Fassade. Er hat sich damit abgefunden und es immer wieder als sein natürliches Begehren bezeichnet. Zu dieser Erkenntnis ist er erst durch die Ehe-Katastrophe gekommen; er hätte sich das auch einfacher machen können. Aber er musste erst diese Schäden an sich und seiner Ehefrau verursachen, um das zu begreifen.

 

Modest Tschaikowsky/Wiki

Modest Tschaikowsky/Wiki

Geben die Briefe auch Auskunft über seine Eskapaden im westlichen Ausland? Erfährt man etwas über die homosexuelle Szene in Berlin oder Paris? Man weiß, dass es innerhalb der großen Städte Treffpunkte gab, wo es ein reges Geschäft mit männlichen Prostituierten und ihren Zuhältern gab, für wohlhabende Kunden wie Tschaikowsky. Man weiß, dass es in Moskau und St. Petersburg Badehäuser gab, die als Treffpunkte für Schwule bekannt waren. Man weiß, dass es über schwule Kreise möglich war, sich neue Bekanntschaften zu organisieren. Der Eindruck, den die Briefe hinterlassen, ist der, dass Tschaikowsky sich mit Fragen zu seiner Sexualität intensiv auseinandergesetzt hat und dass dieser Kampf auch in sein Schaffen fließt. Der Konflikt spielt in seiner Musik eine Rolle. Es wäre sicher einseitig, diese Musik deshalb als „schwule“ Musik zu bezeichnen, denn Tschaikowskys Werke sind universell. Aber es ist auf alle Fälle eine Musik, die deshalb so klingt wie sie klingt, weil sich da jemand mit seinem tiefsten Inneren auseinandergesetzt hat. Er hat es wohl geschafft, sich ein Sexualleben zu organisieren, aber ich würde es nicht als erfüllt bezeichnen. Was ihm definitiv fehlte, war eine Langzeitbeziehung. Die Sehnsucht danach wuchs, je älter er wurde. Wir wissen, dass drei seiner Liebhaber Selbstmord begangen haben, und dass Tschaikowsky zunehmend unter diesen Verlusten litt. Er betont in seinen Briefen immer wieder, wie sehr er diese jungen Männer geliebt hat und sie vermisst. Er fällt regelmäßig in eine schwer melancholische, fast depressive Stimmung.

 

"Es war eine rauschende Ballnacht" mit Zarah leaynder/Frau von Meck und Hans peter Stüwe/Tschaikowsky/tvmovie.de

„Es war eine rauschende Ballnacht“ mit Zarah Leander/Frau von Meck und Hans Peter Stüwe/Tschaikowsky/tvmovie.de

Was passierte mit seiner Frau? Da gibt’s ja diese schrecklichen Szenen im Film von Russell…  Das bedauerliche Schicksal Antoninas wird im Film nur angedeutet. Sie wird in eine psychiatrische Anstalt gebracht. Modest sorgt dafür, dass sie in dieser Anstalt bleibt, obwohl sie wieder gesundgeschrieben werden könnte. Er hat Angst, dass Antonina draußen schlimme Dinge über Tschaikowsky erzählen könnte. Tschaikowsky hat sich von ihren Kindern (von anderen Männern nach der Tennung) total distanziert und wollte von ihnen nichts wissen. Er fand es unangenehm, dass Antonia eines nach ihm benannt hat. Er hat nur sehr widerwillig ihren Geldforderungen nachgegeben und hat sich juristisch gegen sie abgesichert. Da sieht man, wie eine fatale Entscheidung des jungen Tschaikowsky auf Grund von irrsinnigem gesellschaftlichem Druck Personen ins Unglück stürzt, die damit eigentlich nichts zu tun haben müssten.

 

Richard Chamberlain als Tschaikowsky in Ken Russells Fim "Tschaikowsky - Genie und Wahnsinn"/filmfest.org

Richard Chamberlain als Tschaikowsky in Ken Russells Fim „Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn“/filmfest.org

Und Modest selbst? Wir wissen, dass er ebenfalls schwul war. Das geht aus seinen Briefen und einem autobiografischen Fragment hervor. Obwohl er Tschaikowskys gesamten Nachlass nach Klin gebracht hat, gibt es einen Verlust an Dokumenten; es sind Briefe vernichtet worden. Das weiß man, weil man die andere Hälfte der Korrespondenz hat. Es gibt Behauptungen, dass in Klin immer noch Material liegt, das noch nie gesichtet wurde, bewacht von den Musikwissenschaftlerinnen, die den Schatz im Auftrag der russischen Regierung hüten. Was bislang zugänglich ist, hat aber durchaus Sensationswert und war für mich der eigentliche Aufhänger für den Film.

 

Tschaikowsky mit dem Cellisten Anatoly Brandukov/Wiki

Tschaikowsky mit dem Cellisten Anatoly Brandukov/Wiki

Sie mischen in Ihrem Film Original-Zitate Tschaikowskys mit einem heutigen Umfeld. Die Geschichte, die Tschaikowsky erlebt hat, ist eine, die einen sehr reinzieht. Selbst wenn man’s nur als bloße Beschreibung lesen würde, würde es einen mitnehmen. Wenn man es dann auch noch in seinen eigenen Worten erzählt bekommt, dann ist man ihm noch ein gutes Stück näher. Diese Nähe herzustellen, war mir wichtig. Ein Mensch, den man als Held der Musikgeschichte kennt, vertraut einem plötzlich intimste Dinge an. Das ist schon eine besondere Situation. Wir benutzen dazu heutige Bilder, um die Aktualität des Themas zu betonen. Dazu gehören auch erschütternde Dokumente aus dem heutigen Russland: Filmclips, die zeigen, wie schwule Jugendliche von Homohassern zusammengeschlagen, erniedrigt und gefoltert werden. Diese Clips sind von den Hassern selbst auf YouTube gestellt worden, um alle Welt an ihren grauenvollen „Säuberungsaktionen“ teilhaben zu lassen. Es ist die härteste Form des gesellschaftlichen Drucks, der man ausgesetzt sein kann: physische Gewalt.

 

Der Regisseur und Gesprächspartner Ralf Pleger/Foto Tatjana Dachsel/Pleger

Der Regisseur und Gesprächspartner Ralf Pleger/Foto Tatjana Dachsel/Pleger

Wie homophob ist denn die breite russische Gesellschaft? Grundsätzlich ist es mir wichtig, dass Homophobie heute kein russisches Phänomen ist. Das wird im Film auch gesagt. Homophobie gibt es überall, wie zum Glück auch das Gegenteil: Aufgeschlossenheit und Akzeptanz. Nicht alle Russen sind homophob. Ich würde mir wünschen, dass man sich diesen Film auch in Russland anschauen und darüber debattieren kann. Dass Berührungsängste abgebaut werden und man sich mit Tschaikowsky identifizieren kann, egal welche Lebensphilosophie man teilt.

Tschaikowskys Musik löst bei vielen Hörern unterschiedlichen Emotionen aus, einige lehnen sie auch ab. Könnten da Vorbehalte gegenüber einem schwulen Komponisten eine Rolle spielen? Es ist eher eine Furcht vor zu viel Gefühl. Die emotionale Wucht dieser Musik ist manchen Zuhörern unangenehm. Andere wiederum, die sich auf so etwas einlassen können, lieben Tschaikowsky genau deswegen. Es ist also eine grundsätzliche Frage nach der Einstellung gegenüber starken Emotionen. Das ist wie mit Filmen, wo zu viele Überwältigungsmomente vorkommen; das goutiert auch nicht jeder.

 

Tschaikowsky: Dirk Johnston spielt den Liebhaber in Ralf Plegers Film/

Tschaikowsky: Dirk Johnston spielt den Liebhaber in Ralf Plegers Film/Beetz Filmproduktion/Pleger

In Ihrem Film singt Dirk Johnston, der den Liebhaber Tschaikowskys spielt, den Dauerbrenner „Nur wer die Sehnsucht kennt…“ in Englisch, warum? Ist das nicht ein bisschen geschmäcklerisch? Es gibt für einen englischen Vortrag Vorbilder: Nelson Eddy hat in den 1940er Jahren bevorzugt Tschaikowsky-artige Melodien zu Songs verarbeitet. Es gibt Frank Sinatra, der aus dem 1. Klavierkonzert einen Song gemacht hat und auch „Nur wer die Sehnsucht kennt“ aufnahm. Es ist eins von vielen Beispielen, wie Tschaikowskys Musik ins Heute transportiert wurde, ins Musical und in die Filmmusik. Wir haben auch Szenen mit dem Ballett-Star Vladimir Malakhov, der die Figur Tschaikowskys darstellt als Contemporary Dance; also losgelöst vom typischen klassischen Tschaikowsky-Ballettbild. Man sieht auch den exzentrischen Organisten Cameron Carpenter, der Tschaikowsky für seine Pop-Art-Orgel bearbeitet. Mir war wichtig, diesen Facettenreichtum deutlich zu machen, um zu zeigen, wie heutig, unorthodox und überraschend diese Musik immer wieder sein kann. Hei/Cla

 

„Die Akte Tschaikowsky – Bekenntnisse eines Komponisten“ (Gebrüder Beetz Filmproduktion/ 52 Minuten/ TV-Erstausstrahlung: 3. Juni 2015, 22.05 Uhr auf ARTE; Vorabpremiere in Berlin: Gebrüder Beetz Filmproduktion und York Kino GmbH präsentieren den Film am Dienstag, 2. Juni, um 22 Uhr im Kino International als “MonGay Special”.  Im Anschluss gibt’s ein Q&A mit Darstellern und Regisseur. Dank an K. C. für seine Anregung und Vorarbeiten!

Zum Buch von Alexander Poznansky (TCHAIKOVSKY The Quest for the Inner Man. By Alexander Poznansky. Illustrated. 679 pp. New York: Schirmer Books.) auch die sehr differenzierte Kritik in der New York Times: Outing Tchaikovsky von Paul Griffiths von 1992; in deutscher Sprache empfiehlt sich die Reihe bei Schott, die wegen ihres nun politisch korrekt geschriebenen Namens schlecht im Netz zu finden ist, die sich aber neben den musikalischen Betrachtungen auch und vor allem dem privaten Leben Tschaikowskys widmet…

  1. Nils Harke

    Hallo!
    Ich habe eine weitere brisante Theorie zum Thema Tschaikowsky. Ich nehme nämlich an, das Russland Informationen vom Privatleben des Komponisten aus einem bestimmten Grund unterdrückt hat: Es gibt die Behauptung, dass Tschaikowsky gebürtiger Pole ist. Ich selbst habe Kontakt zu einer Dame, die eine geborene Tschaikowsky/Tschaikowska ist.
    Mfg Nils Harke

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    1. Geerd Heinsen Beitragsautor

      da liegen sie absolut richtig, lieber herr harke. nicht nur diese information wird unterdrückt (wenngleich das vielleicht doch zweifelhaft ist), aber auch die homosexualität wird verschwiegen. in der glasnostzeit öffenete unter jelzin ganz kurz das geheime staatsarchiv in der lubljanka und ein amerikaner wissenschaftler hatte zugang und sah die dokumente, die belegen, dass es der bruder tschaikowskys war, der ihm gift verabreichte, sodass tschaikowsky an „cholera“ sterben konnte. ewurde deswegen auch nicht aufgebahrt. tschaikowsky hatte eine liebe zu einem neffen des zaren und kam den zarenhaus gefährlich näher. seine liebe zu männern ist durch seine vielen reisen, nach paris und berlin und anderswo , belegt. spannennd dies alles. ein nationalheld schwul? nie!!! gh

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  2. Özlem Özdemir

    Vielen Dank für dieses wirklich sehr interessante Interview! Ich muss auch sagen, da ich diese Seite erst jetzt entdeckt habe, dass mir der gestalterische Rahmen sehr gut gefällt – er trägt zum Genuss beim Lesen bei. Wunderbar …

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