Victorin Joncières‘ „Dimitri“

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Und wieder ist eine der großen, wunderbaren Grand opéras der romantischen Epoche Frankreichs als CD erschienen: Victorin Joncières‘ Russen-Oper Dimitri von 1876, unter Hervé Niquet im März 2013 in der Salle Flagey in Brüssel aufgenommen und nun bei Ediciones Singolares, der Hausmarke des hier vielfach erwähnten und gelobten Palazetto Bru Zane, herausgekommen.

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Fromntespièce des Klavierauszugs/Sammlung privat/Ediciones Singolares

Zu Joncières‘ „Dimitri“: Frontespiece des  Klavierauszugs/Sammlung privat/Ediciones Singolares

Zu Beginn gleich ein Blick auf die musikalische Seite der neuen Ausgabe bei Ediciones Singolares, die  in der Brüsseler Salle Flagey aufgenommen wurde. Hervé Niquet, diesmal nicht bei seiner Stammfirma Glossa, dirigiert sehr schwungvoll den Flämischen Radio und Kinderchor Chor, dessen „russische“ Eröffnung an Boris Godunow erinnert. Die Brüsseler Philharmoniker, die mir in dieser Formation vorher nicht bekannt waren, folgen ihrem erfahrenen Dirigenten tadellos und stürzen sich hochengagiert in das ihnen ja nicht fremde Idiom. Gesungen wird einfach hervorragend – anders als bei manchen anderen Aufnahmen im Verlauf dieser Serie (etwa Le mage von Massenet, ebenfalls bei Ediciones Singolares) hat man hier wirklich beste Stimmen versammelt. Allen voran der junge Philippe Talbot als leuchtend-lyrischer Dimitri mit eben jener ardeur, die französische Tenöre brauchen, dazu kommen die junge Gabrielle Philiponet als bezauberde Marina und Nora Gubisch als mütterlich-erfahrene Marpha. Andrew Foster-Williams macht den Bösewicht, den gemeinen Comte de Lusace (eine tolle Leistung)., angetrieben von der verschmähten, rächenden Vanda in Gestalt von der etwas dünn auftrumpfenden Jennifer Borghi Der attraktive Nicolas Courjal leiht seine sonore Baßstimme dem Bischof Job. Jean Feitgen, Joris Derder und Lore Binon sind erfolgreich in kleineren Partien  zu hören – selten hat man in den neueren Aufnahmen ein so stimmiges und dichtes Ensemble gehört, dazu so wortverständlich wie lange nicht mehr. Es geht also!

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Dank an den Palazetto Bru Zane, der in Gestalt von Alexandre Dratwicki einen interessanten Aufsatz über „Dimitrri – Text und Kontext“ beisteuert. José Pons schreibt über den fortschrittlichen Theaterintendanten Albert Vizentini, Nicolas Deshoulières über die Rezeption der Oper in der zeitgenössischen Presse. Und schließlich wird noch der Komponist selbst zitiert, der sich über das Théâtre-Lyrique seiner Epoche auslässt – gäb´s das alles auch in Deutsch (immerhin sind die drei deutschprachigen Länder der größte Markt in Europa) und nicht nur in Französisch und Englisch, wäre eine effektvollere Verbreitung gesichert. So wird, schon wegen seines unpraktischen Buchformats in wenig attraktivem, altmodischen Druckbild, die Aufnahem sicher nur die überzeugten Fans der Französischen Oper erreichen. da wäre dringend ein Formatwechsel anzuraten. Geerd Heinsen

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9788493968694Ein Vergleich mit dem Boris von Mussorsgsky (in der Originalfassung von 1869) mit dem Dimitri von Joncières bietet sich an: Die Libretti sind natürlich in Teilen unterschiedlich, aber es handelt sich um dieselbe Geschichte, zur selben Zeit auf beiden Seiten des post-romantischen Europa komponiert, zwei Werke, die dieselbe Episode in Angriff nehmen, aber unterschiedliche Personen in den Fokus stellen. Die Vorlage für beide ist natürlich Schillers Demetrio. Und es ist erstaunlich, wie stark auch Joncières seine Musik „russisch“ einfärbt – die Achse Frankreich. Russland war in jenen Jahren eine intensive, zweigleisige, wenn man bedenkt, wie sehr auch russische Komponisten wie Tschaikowsky oder Rimsky von der französischen Oper beeinflusst waren.

Der Komponist Victorin Joncières/OBA

Joncières‘ „Dimitri“: Der Komponist Victorin Joncières/OBA

Der Erfolg von Dimitri, 1876 uraufgeführt, dem Sardanapale (1867) voranging und Le dernier jour de Pompei (1869, im April 2014 in Auszügen in Paris in der Cité de la Musique konzertant gegeben), wurde durch seine erstaunliche Symphonie romantique von 1870 vorbereitet, die ihren Wagnerschen Einfluss nicht verleugnen kann, war Joncières doch ein rabiater Wagnerianer). Der Komponist verstand es auch, sich als Musikkritiker in der Pariser Musikszene durchzusetzen (für „La Liberté“ unter anderen), wie es auch Berlioz war, ein berühmter Redakteur und oft nachhaltig  im berühmten „Journal des Débats“ (für das auch Berlioz so viel geschrieben hat). Joncières verteidigt dort unter anderen Franck oder Chabrier, die eine französischen Version eines extrem schöpferischen Wagnerismus verband. Joncières letzten Opern (La reine Berthe, 1878; Le Chevalier Jean, 1885; schließlich Lancelot, 1900) gelang es nicht, seinen Namen berühmt zu machen: Zu seinen Lebzeiten blieb Joncières trotz seines unzweifelhaften Temperaments ein „Meister zweiter Klasse“ und Dimitri sein bestes Werk.

Armand Silvestre, einer der beiden Librettisten/OBA

Joncières‘ „Dimitri“: Armand Silvestre, einer der beiden Librettisten/OBA

Bereits 1870 beendet, wurde die Oper am 5. Mai 1876 uraufgeführt. Diese Verzögerung hatte  seinen Grund in dem Brand des Théâtre Lyrique, für das Joncières seinen Dimitri geplant hatte. Die neue Bühne des Théâtre Lyrique  (ein Tempel der modernen Komponisten) brachte  also 1876 das Werk heraus, dessen Entwurf  für das Grandiose eine viel größere Bühne verlangte, eben die Opéra-Comique, wo die Reprise ab 1890 auf dem Programm stand. Trotz seiner Nähe zur Wagnerianischen Strömung bleibt Joncières dem italienischen Nummernstil verbunden, gestaltet aber die Übergänge und manche Passagen sanfter.  Dimitri ist wie ein Fresko in einzelne Bilder aufgeteilt. Die Vielfältigkeit der Handlung drückt sich in zahlreichen Episoden aus, die Joncières mit Motiven und Sequenzen unterlegt, ohne sie zu entwickeln. Die längste Arie dauert hier drei  Minuten. Während der Kritiker Joncieres sich ausschließlich als Wagnerianer erweist (und mit denen scharf ins Gericht geht, die sich dem Bayreuther Meister nicht beugen), so offenbart der Komponist einen offenbar widersprüchlichen Eklektizismus, der außer zu Meyerbeer, Verdi, Halévy auch eine Nähe zu Gounod und sogar Chopin, Thomas und Bizet (Dimitri liegt fast zeitgleich mit Carmen) aufweist.

Zeitgenössische Illustration zu "Dimitri"/OBA

Joncières‘ „Dimitri“ – zeitgenössische Illustration zu „Dimitri“/BNF

Als gutes Beispiel einer konzisen und bewundernswert konstruierten Komposition, die immer nach einem für das Ohr angenehmen Fluss strebt, ist die Ouvertüre des Dimitri ein Vorbild des Genres –  eine gelungene Einleitung und ein Appell an die Phantasie des Hörers. Sie beeindruckt durch ihren großartigen epischen Zug: Die Aufeinanderfolge von musikalischen Episoden sichert eine bemerkenswert strukturierte Verdichtung des Werks, so das düstere slawische Thema von Vanda (die Hauptgestalt der Oper), das zynische Motiv von Lusace (die rächende Hand Vandas), die Feste in Vandas Palast zum Auftritt des polnischen Königs im 2. Akt, dann die Ausbreitung des Liebesthemas für Marina und Dimitri, dem seine aufeinander folgenden Wiederholungen in der Partitur entsprechen. Das Liebesmotiv, das sich fast über ein Drittel der Ouvertüre erstreckt, stellt diese verhinderte Liebe dar, die das junge liebende Paar gelebt hätte, wenn Vanda nicht ihren bösartigen Plan mit Hilfe von Lusace realisiert hätte. Die Motive vermischen sich hier miteinander wie die Teile eines musikalischen Puzzles, mit einem meisterhaften Sinn für Übergänge und Abläufe. Joncières gelingt seine Ouvertüre mit derselben Intelligenz (Aufbau, instrumentale Farben) wie seine Symphonie romantique. Hätte nur die Ouvertüre von Dimitri überlebt, wäre der Komponist zweifellos als großer Symphoniker anerkannt worden.

Wieder einmal eine Illustration aus der Schokoladenbeilage von Guérin-Boutron/OBA

Joncières‘ „Dimitri“: Wieder einmal eine Illustration aus der Schokoladenbeilage von Guérin-Boutron/OBA

Trotz seiner unterschiedlichen Strömungen beeindruckt Dimitri auf Anhieb durch seine Originalität  und Geradlinigkeit der dramatischen Synthese, die zeigt, wozu der Komponist fähig ist, vor allem in der klugen psychologischen Charakterisierung der Personen. Alle seine Einzelkompositionen, (wobei das Beispiel einer vokalisierten und verzierten Stretta von Lusace, um seine oberflächliche Bosheit auszudrücken, am typischsten ist) lassen einen Meister bezüglich der Situationsschilderung  erkennen.

Dimitri, äußerlich eine historische Bilderfolge, ist eigentlich ein Liebesdrama, dessen Kraft und Wildheit von einer abgewiesenen Frau in Gang gesetzt wird: Vanda. Sie liebt Dimitri, der ihr Marina vorzieht. Vanda rächt sich, indem sie den jungen Zaren töten lässt und indem sie Lusace, den Feind Dimitris, manipuliert. Sie ist eine Intrigantin von abstoßendem Zynismus. Um die psychologische Darstellung zu erhöhen, verwendet Joncières das Prinzip des Leitmotivs als Indiz  einer emotionellen Situation (oder für eine Person): Dasselbe Motiv charakterisiert die Liebe Dimitris für Marina oder das mütterliche Motiv von Marpha, als Dimitri die Verbundenheit erwähnt, die Vanda ihm bekundet. Joncières verallgemeinert sein Prinzip auch, um eine Person zu charakterisieren: ein grimassenhaftes, dämonisches Trillermotiv für Lusace; die Melancholie und Düsternis für Vanda, der vergeblich Liebenden. Die Nüchternheit der Mittel, ihre sparsame und niemals belanglose Verwendung zeigen klar Joncières´ musikalische Genialität. Stefan Lauter (Dank an Ingrid Englitsch für die Übersetzungshilfe).

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Joncières‘ „Dimitri“: Hervé Niquet am Pult und sein Solist Andrew Foster-Williams/Foto Brussels Philharmonqie

Victorin Joncières: Dimitri – Inhalt ACT I: A picturesque setting in Poland, late winter. On the right, the entrance to a monastery; at the hack, the slope of a hill; at the foot of the hill flows a river (the Don). (Ein wirklich russisch nachempfundener Chor eröffnet die Szene.)The Prior disembarks onto the riverbank, followed by a group of Cossacks. Dimitri, pretender to the Russian throne, was raised, under the name of Vasili, in a monastery. He left the monastery to follow Vanda, a cousin of the king of Poland, who saw in him a means of achieving her ambitious ends, but then he fell deeply in love with Marina. She had been promised by her father to the Count of Lysberg. On learning of this, Dimitri killed the latter in a duel and was thrown into prison, but Vanda set him free. Dimitri relates all this to the Prior. Meanwhile Marina, whose father has sworn to kill Dimitri, has left home and is travelling with a band of Gypsies; she is looking for Dimitri. The Count of Lusatia arrives at the monastery and reveals to the Prior that the young Vasili who was entrusted to his care some years ago, is none other than Dimitri, the son of Tsar Ivan IV (the Terrible), whose throne has been usurped by Boris (Godunov). The time has now come, he says, to overthrow Boris and restore the crown to the rightful heir. Dimitri lets Marina into the secret and asks her to go to the castle of Vyksa, where Tsarina Marpha, Ivan’s widow, is held cap­tive by Boris and there still grieves for her son, whom she believes to be dead. As he leaves the monastery, the Count comes upon Dimitri and Marina as they declare their love.

Und Henri de Bornier, der andere Verfasser des Librettos/OBA

Joncières‘ „Dimitri“: Und Henri de Bornier, der andere Verfasser des Librettos/OBA

ACT II:Vanda’s palace in Krakow. An Italian Renaissance interior; at the back, a gallery. (Eine schmissige Polonaise erklingt.) Ladies-in-waiting, splendidly dressed; Vanda, seated on an ottoman.The Count of Lusatia announces to Vanda that Dimitri is to be recog­nised as tsar and tells her that she must obtain his promise to marry her, in order to reign as tsarina. Alone with Dimitri, the Count urges him to abandon Marina, and does his utmost to stir his ambition and desire for power. Seeing that Dimitri will not give up his love for Marina, the Count reminds him that she is with Marpha at the castle of Vyksa, and that Boris, fearing for his throne, is likely to kill both of them; only Vanda can save them. The king of Poland, acting as arbitrator, declares that he will defend Dimitri’s rights against the usurper, Boris; he advises him to marry Vanda.

ACT III – First Tableau: Within the castle of Vyksa, in Russia. As the curtain rises, Marina is reading to Marpha, but she breaks off because the tsarina does not appear to be lis­tening. Marina tells the tsarina that her son, Dimitri, is still alive and that she, Marina, is his fiancee. Marpha is torn between joy and doubt. Job, the primate of Moscow, who is close to Boris, comes to warn Marpha that ‚a base adventurer‘, aiming to topple the throne and depose Boris, is claim­ing to be her son; he tells her that she must refuse to recognise him. Marpha is unsure in her mind, but she expresses her hatred for Boris. She dis­misses Job, after leading him to believe that she intends to recognise Dimitri as her son (und hat eine fabelhafte Arie in der Nachkommenschaft von Meyerbeers Prophete)ACT III – Second Tableau: Dimitri’s camp. Evening; tents towards the back of the stage (fabelhafte „Polowetzer Tänze“, richtig schmissig). The city of Moscow, with its domes, is just visible as a distant outline in the mist. Military music, movement of troops. Dimitri tells the Prior that he has been forced to agree to marry Vanda in order to save Marina and Marpha. It is announced that there has been a military uprising; Boris has been killed in his palace.

Das Libretto gehts auf Schillers "Demetrio" zurück/OBA

Joncières‘ „Dimitri“: Das Libretto gehts auf Schillers „Demetrio“ zurück/OBA

ACT IV – First Tableau/Inside one of the tents: Celebration of the forthcoming coronation of Dimitri. The Count of Lusatia drinks to the health of Tsarina Vanda, whereupon Dimitri smashes his glass and dismisses the soldiers. Left alone with Dimitri, the Count tells him his story. Fifteen years ago Boris was regent of Russia; Tsar Ivan had two sons; the elder son died, leaving his brother as heir to the throne. Deciding to get rid of the latter, Boris approached a nobleman who had fallen on bad times and offered him a substantial sum of money to kill the child, whose name was Dimitri. The murder was committed, but the nobleman was not paid, so he decided to seek revenge. He took a young slave boy to be raised in a monastery, with the idea of one day making that boy tsar of Russia. That child, long known as Vasili, is none other than Dimitri himself and, if he prefers not to be revealed as a slave, and the son of a slave, Dimitri must marry Vanda. For the nobleman who killed the real Dimitri and took the young slave to the monastery is none other than the Count of Lusatia himself. On hearing this, Dimitri grabs a knife that is lying on the table and stabs the Count. He orders the body to be taken away. Vanda, disguised as a soldier, follows as his body is carried out. Just then, Marpha appears; she recognises the body of the man who took her son from her. Alone with Marpha, Dimitri questions her: is he her son? He refuses to appear before the people to receive the keys of Moscow from the boyars, unless Marpha dispels his doubts.. ACT IV – Second Tableau/The camp: As the curtain rises, the men are striking camp. Bright sunlight. In the background, Moscow, with its golden domes. The crowd fills the stage. National anthem. The people acclaim Dimitri and Tsarina Marpha. The boyars have pres­ented them with the keys of the city. Vanda observes the scene and swears she will be avenged.

Spiritus Rector der Serie: Alexandre Dratwicki/Palazetto Bru Zane

Spiritus Rector der Serie: Alexandre Dratwicki/Palazetto Bru Zane

ACT V: Inside the courtyard of the Kremlin. On the left, the Kremlin; on the right, St Basil’s cathedral. As the curtain rises, there are lights on at the windows of the Kremlin. The night is almost over, the first glimmer of dawn is visible on the horizon. Beneath a broad balcony, opening on the left onto the salons of the Kremlin, stands Vanda, clad in dark clothing. Vanda, her heart devoured by jealousy, makes threats against the two lovers, who seem to be so happy and confident in their good fortune. The Count of Lusatia appears; he was only wounded by Dimitri and has survived, nursed by Vanda. The coronation is about to take place. Job stops Dimitri at the entrance to the cathedral; he asks Marpha to swear on the Gospel and on the Cross that he is indeed her son. She hesitates, and that moment of hesitation precipitates the denouement. The Count of Lusatia, armed with a musket, appears with Vanda on the balcony of the Kremlin. On seeing the Count, Marpha hastens up the cathedral steps, intending to swear that Dimitri is her son. But a shot rings out and Dimitri falls to the ground. He dies in doubt as to his identity: „Marina! Mother! Alas! You alone will tell me the truth, O God!“ (Aus der Aufnahme bei Ediciones Singolares)

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Victorin Joncières (1839-1903Dimitri (Oper in 5 Akten) mit  Gabrielle PhiliponetNora GubischPhilippe TalbotAndrew Foster-WilliamsFlemish Radio ChoirBrussels Philharmonic OrchestraHervé Niquet; Live-Aufnahme Salle Flagey Brüssel, März 2013; Ediciones Singolares/Note 1 ES 1015/ Abbildunbg oben: Dimitri Wassiljewitsch Wassiltschikow George Dawr Winter Palace Moskau Wikipedia, ca 1820

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.